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Produktdetails
  • Verlag: Faber & Faber, Leipzig
  • Seitenzahl: 281
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 416g
  • ISBN-13: 9783928660846
  • Artikelnr.: 24121784
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.1997

Das Fressen und das Nichts
Raymond Federmans Roman "Der Pelz meiner Tante Rachel"

Raymond Federmans "Der Pelz meiner Tante Rachel" ist ein aufdringlicher, vom Redezwang besessener Text. Über 280 Seiten stürmt der Erzähler duzend auf den Leser ein, bombardiert ihn mit Kalauern und Obszönitäten, zieht ihn ins Vertrauen und stößt ihn gereizt wieder zurück. Was er erzählt, ist sein Leben, kein spektakuläres Geschehen, sondern der Alltag eines überdrehten, brotlosen Künstlers. Wir erfahren von einem Buchprojekt mit dem Arbeitstitel "Zeit der Nudeln", von Freundinnen, die dem Helden Unterschlupf geben, von durch Hunger inspirierten Verwandtschaftsbesuchen, einer entbehrungsreichen Kindheit im Pariser Mietshausmilieu und herben Jugendjahren auf dem Lande.

Die Biographie kristallisiert sich stoßweise, in einem immer wieder unterbrochenen Monolog heraus, mit dem der Erzähler seine wechselnden Zuhörer an den Pariser Bistrotischen und Künstlertafeln unterhält. "Autobiograffiti" nennt er das Ergebnis scherzhaft. "Rameaus Neffe" hat dieser genialischen Schmarotzerexistenz Pate gestanden. Auch dem Federmanschen Lebenskünstler kommt es nicht auf substantielle Werte, sondern auf die Kunst des Schwindels an, die eine nach Ablenkung haschende Menschheit amüsiert und in Trance versetzt. Dem oberflächlichen Gerede räumt das Buch einen systematischen Platz ein. Der O-Ton der Oralität bindet die Erinnerungsscherben: "was ah du willst noch einen Kaffee, ok gut, ich werde wohl auch noch einen trinken . . . Kellner, eh Kellner, noch zwei Kaffee bitte . . . sieh einer an, schnorrst du mir eine . . . ja, ja ich liebe die über alles die Gauloises, hast du Feuer . . ."

Was immer versprochen, doch nie ganz gegeben wird, ist die Geschichte des Protagonisten. Das könnte ein fauler Trick sein, um eine Mahlzeit mehr beim Zuhörer herauszuschlagen. Doch die Leere im Zentrum der Erzählung hat noch einen anderen Grund. Ein Text sei kein Text, zitiert der gleichfalls Raymond heißende Erzähler in einer seiner zahlreichen Abschweifungen, "wenn er sich nicht auf den ersten Blick verhüllt". "Der Pelz meiner Tante Rachel" verbirgt die eigentliche Geschichte in seinem dichten Fell, "im Weiß zwischen den Worten", wie es einmal heißt. Das großspurig-ordinäre Bramarbasieren des Helden vertuscht einen Abgrund, der dem Leser in seltenen Momenten mit kurzem scharfem Blick begegnet.

Er schreibe einen "Roman en abîme", verrät uns Raymond, vordergründig und dem Terminus technicus gemäß eine Erzählung, die die Bedingung ihrer Möglichkeit vernichtet. So verliert der Leser logisch an Boden, wenn ihm verheißen wird, er werde sich vielleicht in dem Buch wiederfinden, das er gerade liest. Der Erzähler macht ihm das Kunststück vor, zugleich draußen und drinnen zu sein, denn er ist eine Figur und ihr gestaltender Autor. Auch das Paradox von den lügenden Kretern hat seinen Auftritt, wenn Raymond seinen zu Herzen gehenden Bericht über einen wiedergefundenen Schulfreund mit der Behauptung wieder vom Tisch wischt, er sei "an Ort und Stelle erfunden". Wer vermöchte nach diesem Bekenntnis zur dichterischen Freiheit noch zu entscheiden, was Wahrheit und was Lüge ist?

Wer sich dem poetischen Halt nicht überläßt, ist gut beraten. Denn unter der manischen Heiterkeit lauert das Entsetzen. Hier macht ein Überlebender, dessen Familie man, wie es refrainhaft heißt, "auf Lampenschirme reduzierte", das Beste aus der Unmöglichkeit, seine Geschichte zu vergessen und sie zu erinnern: "das ist die größte Herabsetzung des eigenen Selbst, das erniedrigendste Leid zu fühlen, daß man an dieser Abwesenheit nicht mehr leidet", bemerkt der Erzähler: "es ist dieser Mangel, dieses Loch, diese große Abwesenheit in mir, die meine Arbeit bestimmt." Die so schwer erträgliche wie unaufhaltsame Erzählung webt ein Netz zwischen Erinnern und Vergessen. Durch doppelten Zeilensprung getrennte Absätze markieren die im Gedächtnis des Erzählers herrschende "Blockierung" der "Dinge, die mir während des Krieges passiert sind".

Aber die weißen Stellen weisen auch auf das Essen und Trinken hin, das den Roman pausenlos begleitet. Es ist eine Totenmahlzeit, die hier begangen wird. Und es verwundert nicht, daß sich der Zuhörer am Ende des Buches gleichfalls als Raymond Federman zu erkennen gibt. Dieses gespaltene Ich verschlingt im Prozeß seiner Selbstverständigung Unmengen von Speisen, ohne satt zu werden und das Loch im Inneren zu stopfen.

Raymond ist als junger Mann nach Amerika ausgewandert. Worauf er immer wieder zurückkommt, sind seine Anfangsjahre in den Autofabriken und Jazzlokalen von Detroit. Fließband und Saxophon geben auch die Modi des Erzählens vor. Zeitweise ist der Redestrom mechanisch zerstückelt, repetiert mit gespenstischer Gleichmäßigkeit dieselben fixen Ideen, dann löst sich die Erzählung wieder vom Tod, der klappernd miterzählt, wird weich, elegisch, schmeichelnd, umspielt die Themen, variiert sie, kann die Mutter erwähnen: "sie hatte immer ihre großen schwarzen Augen voller Tränen, übrigens ist das schon fast alles, woran ich mich erinnern kann . . ."

Zum Reiz des Jazz gehört die heimatlose Suche der Töne. Raymond Federman erkennt sich in der Kunst der Sklaven wieder. Auch er wurde aus seinem Geburtsland und seiner Sprache vertrieben. "Die Herausbildung des Stils in einer anderen Sprache", erläutert er, durchläuft "verschiedene Stufen, wobei die erste eine Zersetzung der Muttersprache ist, die daraufhin zu zucken beginnt, die zu stammeln anfängt, zu stottern, anders zu werden, um dann in eine neue Sprache zu münden, eine neue Syntax". Im Wurzelgeflecht der eigenen Sprache liegt die Mutter begraben. Deshalb steckt im "Pelz meiner Tante Rachel" auch ein menschlicher Leib: "mein feiner Roman", schleudert der Erzähler einem verständnislosen Lektor entgegen, "der wird schon woanders überleben . . .". Die Saloppheit der Rede verdeckt, daß sie ein kolossales Rettungsmanöver ist: "aber sag mal Mann wenn ich vielleicht nicht mehr von dieser Kleinen erzähle, wenn ich nichts mehr über sie sage wird sie aus meiner Geschichte verschwinden . . . weil alles im Leben wie es scheint, das meinen bestimmte zeitgenössische Denker, einzig und allein in der Sprache existiert." Das ganze Ausmaß der Umkehrung, die im "Pelz" vonstatten geht, zeigt sich darin, daß der Erzähler selbst sich nicht zu den Überlebenden, sondern zu den Vernichteten zählt: "wir wir Juden während des Krieges", sagt er einmal, "jedenfalls bevor man uns vernichtet hat".

Wo ist der Ort, an dem der sich ausstreichende Erzähler auf die überlebende Erzählung trifft? Der Titel gibt ihn an. Die borstige Widerspenstigkeit des Textes ist die Würde der Tante, die dem Holocaust durch eine frühe Flucht entkam. Wie ein prophetischer Text orientiert sich der Roman am Kulminationspunkt ihrer Rückkehr aus dem fernen Senegal. Zu allen ist die exotisch schöne Rachel reizend, doch den verwahrlosten Sohn der verlorenen Schwester drückt sie fest ans Herz. Es ist dieser Moment, um den das Buch kreist, das Gefühl, "das ich spürte als ich da in ihrem Pelz verschwand, siehst du weil sich ihr Mantel öffnete als sie ihre Arme um mich geschlungen hat um mich zu umarmen und ich habe mich auf einmal in ihrem Pelz wiedergefunden, wenn man das so sagen kann". Im tiefen weißen Pelz der Tante öffnet sich eine Wildnis, die von der verlogenen Wahrheit der Kulturen frei ist. Hierhin träumt sich der traurige Dichter, und hier überwintert sein verwahrlostes Werk. INGEBORG HARMS

Raymond Federman: "Der Pelz meiner Tante Rachel". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Hartl. Verlag Faber & Faber, Leipzig 1997. 280 S., geb., 38,- DM.

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"Federman ist ein brillianter Erzähler, der unterhaltende Geschichten erfinden kann, witzig und voller Phantasie, ergreifend und hintergründig." (Chicago Tribune)