Das intellektuelle Gesicht einer Epoche
Solange Philipp Felsch zurückdenken kann, war Jürgen Habermas around: als mahnende Stimme der Vernunft, als Stichwortgeber der Erinnerungskultur, als Sohn der Nachbarn seiner Großeltern in Gummersbach.
Neigt sich die intellektuelle Lufthoheit des Philosophen heute ihrem Ende zu, oder bekommen seine Ideen in der Krise unserer »Zeitenwende« neue Brisanz?
Felsch liest in einem kaum zu überblickenden Oeuvre nach, folgt dessen Autor in die intellektuelle Kampfzone der Bundesrepublik und fährt nach Starnberg, um Habermas zum Tee zu treffen. Dabei entsteht nicht nur das Porträt eines faszinierend widersprüchlichen Denkers, sondern auch der Epoche, der er sein Gesicht verliehen hat.
Solange Philipp Felsch zurückdenken kann, war Jürgen Habermas around: als mahnende Stimme der Vernunft, als Stichwortgeber der Erinnerungskultur, als Sohn der Nachbarn seiner Großeltern in Gummersbach.
Neigt sich die intellektuelle Lufthoheit des Philosophen heute ihrem Ende zu, oder bekommen seine Ideen in der Krise unserer »Zeitenwende« neue Brisanz?
Felsch liest in einem kaum zu überblickenden Oeuvre nach, folgt dessen Autor in die intellektuelle Kampfzone der Bundesrepublik und fährt nach Starnberg, um Habermas zum Tee zu treffen. Dabei entsteht nicht nur das Porträt eines faszinierend widersprüchlichen Denkers, sondern auch der Epoche, der er sein Gesicht verliehen hat.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Michael Hesse liest Philipp Felschs Aufzeichnungen zu Habermas als prima Unterhaltung im Geist der Sachlichkeit der deutschen Nachkriegsmoderne. Dass der Autor einen lockeren, begeisterten Sound drauf hat, auch in den abstrakteren Passagen, gefällt Hesse. So wird Felschs essayistischer Streifzug durch Leben und Lehre des Philosophen für ihn zum ebenso prägnanten wie pointierten Erlebnis. Hesse erscheint der junge Habermas mit seiner Streitlust und Lesewut ebenso wie der alte, der den Finger weniger am Puls der Zeit hat. Ein "schickes" Buch über den "Weltgeist aus Starnberg", schreibt Hesse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2024Geistige Freshness
Der Kulturhistoriker Philipp Felsch erzählt, wie Habermas zum Meisterdenker der Bundesrepublik wurde und heute um deren politische Ideale fürchtet.
Von Mark Siemons
Ganz am Ende dieses leichtfüßigen und eleganten, ebenso treff- wie stilsicher formulierenden Buchs über Habermas und die bundesrepublikanische Ära - wie sie einander wechselseitig spiegeln - steht ein erschütternder Satz aus dem vergangenen September: "All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig 'Schritt für Schritt' verloren." Das ist ein indirektes Zitat von Habermas selbst, und der Kulturhistoriker Philipp Felsch, der es aus dem Wohnzimmer des Philosophen überliefert, stellt ihm gleich, gewissermaßen als nachgelieferte Ermahnung an sich selbst, eine Warnung zur Seite, die Habermas um die gleiche Zeit herum in einem Interview geäußert hatte: "Es ist zu billig, sich über einen solchen Idealismus rückblickend lustig zu machen. Jeder gute Zeithistoriker schreibt Geschichte nicht nur zynisch vom enttäuschenden Ergebnis her."
Tatsächlich tappt Felsch in diese Falle nicht. In jede einzelne Lebens- und Schreibetappe des heute 94-Jährigen taucht er mit gleicher Gegenwärtigkeit ein, voller Verwunderung, wie es Habermas gelang, immer irgendwie zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, von der Polemik gegen Heidegger in der F.A.Z., mit der er 1952 bekannt wurde, über "Erkenntnis und Interesse" und seine Präsenz am Ort der Frankfurter Schule als Horkheimer-Nachfolger in den Sechzigerjahren der Studentenbewegung bis zu seinem Rückzug ins Starnberger Max-Planck-Institut zu Beginn der Siebzigerjahre, die er laut Felsch weit besser als seine Zeitgenossen, "an geistiger Freshness unbeschadet", überstanden habe. Erst beim Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" von 1981 liest Felsch den zum Teil enttäuschten Rezensionen ein erstes Auseinanderfallen mit dem Zeitgeist ab, der sich damals von Großtheorien zu verabschieden begonnen habe. Doch auch in den Jahrzehnten danach sei es Habermas mit zahlreichen publizistischen Interventionen, zumal bei dem von ihm initiierten Historikerstreit, gelungen, die intellektuellen Frontlinien in seinem Sinne zu ordnen (einen "listenreichen Konservativismenfahnder" nannte ihn sein Kollege Dieter Henrich einmal).
Das kleine Buch ist weder eine Biographie - entscheidende Momente des Lebens werden eher fragend angedeutet, als dass versucht würde, sie zu entschlüsseln - noch eine philosophische Auseinandersetzung mit der Theorie. Als Kulturgeschichtler geht es Felsch um den Denker vor allem als Katalysator wechselnder westdeutscher Stimmungen, um den gefühlten Habermas gewissermaßen. Er klopft die vorhandenen Texte, Interviews und Dokumente - Habermas gewährte ihm Zugang zu seinem Vorlass im Frankfurter Universitätsarchiv - auf ihre zeitdiagnostische Symptomatik hin ab, lässt sich den zeittypischen Geschmack ihres "spröden Vokabulars", vom "herrschaftsfreien Diskurs" bis zur "Kolonisierung der Lebenswelt", auf der Zunge zergehen. Das läuft den ursprünglichen philosophischen Absichten nicht unbedingt zuwider; Habermas selbst zitiert er einmal mit der Bemerkung, die Philosophie verdanke ihre Problemstellungen "dem, womit sie auch in die Breite wirkt". Fluchtpunkt dieser Zeitabhängigkeit ist die Bundesrepublik. Je älter Habermas wird, desto offener bescheinigt er ihr "eine große intellektuelle Leistung" - sie habe "zum ersten Mal seit Jahrhunderten" die Deutschen zu "Zeitgenossen des westlichen Europas" werden lassen. Tatsächlich, resümiert Felsch, sei Habermas in dieser Bundesrepublik die "Rolle des Meisterdenkers" zugefallen, "der der verspäteten Zivilisierung seiner Landsleute die Weihen eines philosophischen Systems verlieh".
Darin steckt eine Paradoxie. Habermas bleibt nämlich auch bei der Entwicklung seiner universalistischen Theorie einer idealen politischen Kommunikation, einer postnationalen Zukunft, ganz "innerhalb eines bundesrepublikanischen Horizonts", also unter den extrem partikularen Bedingungen dieses zunächst nicht souveränen Staats unter dem atomaren Schutzschild Amerikas, dessen junge Intellektuellengeneration nach dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch ihre Hauptaufgabe in einer umfassenden Neubegründung der Politik erkannte.
Felsch weist darauf hin, dass bei den von Habermas herausgegebenen "Stichworten zur geistigen Situation der Zeit" von 1979 die Welt außerhalb der deutschen Grenzen so gut wie keine Rolle spielt, und noch nach dem Mauerfall habe für Christa Wolf aus Habermas' Furcht vor ihren unaufgeklärten Landsleuten eine bestürzende Ignoranz gesprochen. Allerdings ist diese Beschränkung auf den bundesrepublikanischen Horizont auch Teil der speziellen Dramaturgie von Felschs Buch und seines Projekts einer Archäologie der geistigen Welt Westdeutschlands, zu dem zuvor auch schon seine brillante Chronik des Merve-Verlags ("Der lange Sommer der Theorie") gehörte. Habermas' globaler Einfluss, etwa auf chinesische Intellektuelle nach seiner Vortragsreise 2001, kommt bei Felsch ebenso wenig vor wie dessen jüngstes großes Buch, "Auch eine Geschichte der Philosophie" von 2019, in dem er sich von Laotse über Buddha bis zu Thomas von Aquin für "Anregungspotentiale" weit jenseits der Grenzen der BRD aufgeschlossen zeigt.
Felschs dialektische Schlussvolte - "vielleicht stellt gerade das, womit Habermas seiner Zeit am stärksten verhaftet war, sein zeitloses Vermächtnis dar" - ist daher etwas unbefriedigend, auch weil sie so unvermittelt auf den zuvor mitgeteilten Eindruck des Philosophen selbst folgt, es gehe zurzeit verloren, was sein Leben ausgemacht habe. Gewiss wird sich Habermas' Philosophie als dauerhafter erweisen als die historischen Umstände, denen sie ihre Entstehung verdankt. Doch was bedeutet diese eher allgemeine Annahme konkret für die Einschätzung der heutigen Lage, dafür, wie sich die Bundesrepublik und ihr Philosoph im gegenwärtigen Moment spiegeln? "In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung", hieß es in seiner von Felsch nicht direkt zitierten Intervention zum Ukrainekrieg im April 2022: "Wie tief muss der Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Russland und China noch von den USA anerkannt wird."
In dieser Stellungnahme mischt sich auf raffinierte Weise die Genugtuung über die Verwurzelung universalistischer Normen im kollektiven Bewusstsein der Deutschen, an der er ja seinen nicht geringen Anteil hatte, mit dem Vorwurf, diese Normen im konkreten außenpolitischen Fall fahrlässig naiv beim Nennwert zu nehmen. Es ist noch nicht so lange her, dass er das selber getan hatte. Er hatte die militärischen Interventionen im Irak 1991 und im Kosovo 1999 im Hinblick auf eine künftige "durchgehend verrechtlichte kosmopolitische Ordnung" noch gerechtfertigt. Damals hatte er offenbar nicht mit dem dramatischen Machtverlust des Westens gerechnet, der einer Verwirklichung seiner Philosophie eine realpolitische Grenze ziehen würde. Zwar will er schon seit Langem den Philosophen und den Publizisten scharf voneinander geschieden wissen, doch erst seitdem die NATO dem Universalismus keinen verlässlichen machtpolitischen Schutzschirm mehr bieten kann, scheinen die beiden Rollen sogar in Opposition zueinander treten zu können. Indem er davor warnt, eine illusionär gewordene Weltinnenpolitik mit kriegerischen Mitteln durchsetzen zu wollen, ist der Publizist aus dem Schatten jener Zeit herausgetreten, der der Philosoph seine weiter gültig bleibende Theorie verdankt.
Philipp Felsch: "Der Philosoph. Habermas und wir". Propyläen Verlag, 256 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Kulturhistoriker Philipp Felsch erzählt, wie Habermas zum Meisterdenker der Bundesrepublik wurde und heute um deren politische Ideale fürchtet.
Von Mark Siemons
Ganz am Ende dieses leichtfüßigen und eleganten, ebenso treff- wie stilsicher formulierenden Buchs über Habermas und die bundesrepublikanische Ära - wie sie einander wechselseitig spiegeln - steht ein erschütternder Satz aus dem vergangenen September: "All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig 'Schritt für Schritt' verloren." Das ist ein indirektes Zitat von Habermas selbst, und der Kulturhistoriker Philipp Felsch, der es aus dem Wohnzimmer des Philosophen überliefert, stellt ihm gleich, gewissermaßen als nachgelieferte Ermahnung an sich selbst, eine Warnung zur Seite, die Habermas um die gleiche Zeit herum in einem Interview geäußert hatte: "Es ist zu billig, sich über einen solchen Idealismus rückblickend lustig zu machen. Jeder gute Zeithistoriker schreibt Geschichte nicht nur zynisch vom enttäuschenden Ergebnis her."
Tatsächlich tappt Felsch in diese Falle nicht. In jede einzelne Lebens- und Schreibetappe des heute 94-Jährigen taucht er mit gleicher Gegenwärtigkeit ein, voller Verwunderung, wie es Habermas gelang, immer irgendwie zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, von der Polemik gegen Heidegger in der F.A.Z., mit der er 1952 bekannt wurde, über "Erkenntnis und Interesse" und seine Präsenz am Ort der Frankfurter Schule als Horkheimer-Nachfolger in den Sechzigerjahren der Studentenbewegung bis zu seinem Rückzug ins Starnberger Max-Planck-Institut zu Beginn der Siebzigerjahre, die er laut Felsch weit besser als seine Zeitgenossen, "an geistiger Freshness unbeschadet", überstanden habe. Erst beim Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" von 1981 liest Felsch den zum Teil enttäuschten Rezensionen ein erstes Auseinanderfallen mit dem Zeitgeist ab, der sich damals von Großtheorien zu verabschieden begonnen habe. Doch auch in den Jahrzehnten danach sei es Habermas mit zahlreichen publizistischen Interventionen, zumal bei dem von ihm initiierten Historikerstreit, gelungen, die intellektuellen Frontlinien in seinem Sinne zu ordnen (einen "listenreichen Konservativismenfahnder" nannte ihn sein Kollege Dieter Henrich einmal).
Das kleine Buch ist weder eine Biographie - entscheidende Momente des Lebens werden eher fragend angedeutet, als dass versucht würde, sie zu entschlüsseln - noch eine philosophische Auseinandersetzung mit der Theorie. Als Kulturgeschichtler geht es Felsch um den Denker vor allem als Katalysator wechselnder westdeutscher Stimmungen, um den gefühlten Habermas gewissermaßen. Er klopft die vorhandenen Texte, Interviews und Dokumente - Habermas gewährte ihm Zugang zu seinem Vorlass im Frankfurter Universitätsarchiv - auf ihre zeitdiagnostische Symptomatik hin ab, lässt sich den zeittypischen Geschmack ihres "spröden Vokabulars", vom "herrschaftsfreien Diskurs" bis zur "Kolonisierung der Lebenswelt", auf der Zunge zergehen. Das läuft den ursprünglichen philosophischen Absichten nicht unbedingt zuwider; Habermas selbst zitiert er einmal mit der Bemerkung, die Philosophie verdanke ihre Problemstellungen "dem, womit sie auch in die Breite wirkt". Fluchtpunkt dieser Zeitabhängigkeit ist die Bundesrepublik. Je älter Habermas wird, desto offener bescheinigt er ihr "eine große intellektuelle Leistung" - sie habe "zum ersten Mal seit Jahrhunderten" die Deutschen zu "Zeitgenossen des westlichen Europas" werden lassen. Tatsächlich, resümiert Felsch, sei Habermas in dieser Bundesrepublik die "Rolle des Meisterdenkers" zugefallen, "der der verspäteten Zivilisierung seiner Landsleute die Weihen eines philosophischen Systems verlieh".
Darin steckt eine Paradoxie. Habermas bleibt nämlich auch bei der Entwicklung seiner universalistischen Theorie einer idealen politischen Kommunikation, einer postnationalen Zukunft, ganz "innerhalb eines bundesrepublikanischen Horizonts", also unter den extrem partikularen Bedingungen dieses zunächst nicht souveränen Staats unter dem atomaren Schutzschild Amerikas, dessen junge Intellektuellengeneration nach dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch ihre Hauptaufgabe in einer umfassenden Neubegründung der Politik erkannte.
Felsch weist darauf hin, dass bei den von Habermas herausgegebenen "Stichworten zur geistigen Situation der Zeit" von 1979 die Welt außerhalb der deutschen Grenzen so gut wie keine Rolle spielt, und noch nach dem Mauerfall habe für Christa Wolf aus Habermas' Furcht vor ihren unaufgeklärten Landsleuten eine bestürzende Ignoranz gesprochen. Allerdings ist diese Beschränkung auf den bundesrepublikanischen Horizont auch Teil der speziellen Dramaturgie von Felschs Buch und seines Projekts einer Archäologie der geistigen Welt Westdeutschlands, zu dem zuvor auch schon seine brillante Chronik des Merve-Verlags ("Der lange Sommer der Theorie") gehörte. Habermas' globaler Einfluss, etwa auf chinesische Intellektuelle nach seiner Vortragsreise 2001, kommt bei Felsch ebenso wenig vor wie dessen jüngstes großes Buch, "Auch eine Geschichte der Philosophie" von 2019, in dem er sich von Laotse über Buddha bis zu Thomas von Aquin für "Anregungspotentiale" weit jenseits der Grenzen der BRD aufgeschlossen zeigt.
Felschs dialektische Schlussvolte - "vielleicht stellt gerade das, womit Habermas seiner Zeit am stärksten verhaftet war, sein zeitloses Vermächtnis dar" - ist daher etwas unbefriedigend, auch weil sie so unvermittelt auf den zuvor mitgeteilten Eindruck des Philosophen selbst folgt, es gehe zurzeit verloren, was sein Leben ausgemacht habe. Gewiss wird sich Habermas' Philosophie als dauerhafter erweisen als die historischen Umstände, denen sie ihre Entstehung verdankt. Doch was bedeutet diese eher allgemeine Annahme konkret für die Einschätzung der heutigen Lage, dafür, wie sich die Bundesrepublik und ihr Philosoph im gegenwärtigen Moment spiegeln? "In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung", hieß es in seiner von Felsch nicht direkt zitierten Intervention zum Ukrainekrieg im April 2022: "Wie tief muss der Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Russland und China noch von den USA anerkannt wird."
In dieser Stellungnahme mischt sich auf raffinierte Weise die Genugtuung über die Verwurzelung universalistischer Normen im kollektiven Bewusstsein der Deutschen, an der er ja seinen nicht geringen Anteil hatte, mit dem Vorwurf, diese Normen im konkreten außenpolitischen Fall fahrlässig naiv beim Nennwert zu nehmen. Es ist noch nicht so lange her, dass er das selber getan hatte. Er hatte die militärischen Interventionen im Irak 1991 und im Kosovo 1999 im Hinblick auf eine künftige "durchgehend verrechtlichte kosmopolitische Ordnung" noch gerechtfertigt. Damals hatte er offenbar nicht mit dem dramatischen Machtverlust des Westens gerechnet, der einer Verwirklichung seiner Philosophie eine realpolitische Grenze ziehen würde. Zwar will er schon seit Langem den Philosophen und den Publizisten scharf voneinander geschieden wissen, doch erst seitdem die NATO dem Universalismus keinen verlässlichen machtpolitischen Schutzschirm mehr bieten kann, scheinen die beiden Rollen sogar in Opposition zueinander treten zu können. Indem er davor warnt, eine illusionär gewordene Weltinnenpolitik mit kriegerischen Mitteln durchsetzen zu wollen, ist der Publizist aus dem Schatten jener Zeit herausgetreten, der der Philosoph seine weiter gültig bleibende Theorie verdankt.
Philipp Felsch: "Der Philosoph. Habermas und wir". Propyläen Verlag, 256 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Glück auch für den Porträtierten, vor allem aber ein Glück für alle, die sich für Geistesgeschichte interessieren. Denn Felsch besitzt das seltene Talent, komplexe Philosophie in Erzählungen anschaulich machen zu können.« Linus Schöpfer Neue Zürcher Zeitung am Sonntag