Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 19,00 €
  • Gebundenes Buch

1 Kundenbewertung

Das erste neue Leben, das sich nach der nuklearen Katastrophe in Hiroshima wieder regte, war ein Pilz. Ein Matsutake, der auf den verseuchten Trümmern der Stadt wuchs - einer der wertvollsten Speisepilze Asiens, der nicht nur in Japan, wo er Spitzenpreise aufruft, vorkommt, sondern auf der gesamten Nordhalbkugel verbreitet ist. Dieser stark riechende Pilz wächst bevorzugt auf von der Industrialisierung verwüsten und ruinierten Böden und ist nicht kultivierbar. In ihrem faszinierenden kaleidoskopischen Essay geht die Anthropologin Anna Lowenhaupt-Tsing den Spuren dieses Pilzes sowie seiner…mehr

Produktbeschreibung
Das erste neue Leben, das sich nach der nuklearen Katastrophe in Hiroshima wieder regte, war ein Pilz. Ein Matsutake, der auf den verseuchten Trümmern der Stadt wuchs - einer der wertvollsten Speisepilze Asiens, der nicht nur in Japan, wo er Spitzenpreise aufruft, vorkommt, sondern auf der gesamten Nordhalbkugel verbreitet ist. Dieser stark riechende Pilz wächst bevorzugt auf von der Industrialisierung verwüsten und ruinierten Böden und ist nicht kultivierbar.
In ihrem faszinierenden kaleidoskopischen Essay geht die Anthropologin Anna Lowenhaupt-Tsing den Spuren dieses Pilzes sowie seiner biologischen und kulturellen Verbreitung nach und begibt sich damit auch auf die Suche nach den Möglichkeiten von Leben in einer vom Menschen zerstörten Umwelt. Sie erzählt Geschichten von Pilzsammlern, Wissenschaftlern und Matsutake-Händlern und öffnet einen neuen und ungewohnten Blick auf unsere kapitalistische Gegenwart. Denn eigentlicher Gegenstand ihrer preisgekrönten und in viele Sprachen übersetzten Erzählung ist die Ökologie des Matsutake, das Beziehungsgeflecht um den Pilz herum, als pars pro toto des Lebens auf den Ruinen des Kapitalismus, das ein Leben in Beziehungen sein - oder aber nicht sein wird.
Autorenporträt
Lowenhaupt Tsing, Anna
Anna Lowenhaupt Tsing, 1952 geboren, ist Professorin für Anthropologie an der University of California, Santa Cruz. 2013 wurde sie mit der Niels-Bohr-Professur der Aarhus University, Dänemark, für ihre interdisziplinären Beiträge zu den Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften ausgezeichnet.

Höfer, Dirk
1956 geboren, ist Autor und Übersetzer und lebt in Berlin. Studium der Bildenden Kunst und der Philosophie. Weinhändler. Synchronschreiber. Redakteur der Kulturzeitschrift Lettre International, später Drehbuchschreiber und Spieleentwickler für Ludic Philosophy, Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2018

Der Pilz, der uns die Zukunft erklärt
Vom Matsutake lernen heißt, überleben lernen. Die amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing hat ein erstaunliches Buch über Natur, Kapitalismus und soziale Systeme geschrieben

Der Matsutake ist ein Pilz, der auch dort emporschießt, wo die Wachstumsbedingungen für ihn extrem schwierig sind. Nach dem amerikanischen Atombombenabwurf auf Hiroshima gehörte er zu den ersten unscheinbaren Lebensformen, die sich auf den verseuchten Böden wieder einfanden, ganz so, als habe er sich gerade von den Verwüstungen traditioneller Lebenswelten nicht unterkriegen lassen wollen, die sich unaufhaltsam unter der Krone der Evolution ausbreiten. Seit Menschen von ihm wussten, verlief auch seine Geschichte nicht mehr unabhängig von ihren Interessen. Die Kunde, dass er schmeckt, und das heißt, dass er in steigendem Maße verwertbar sein würde, ließ immer mehr Sammler aufbrechen und in den Wäldern nach ihm suchen. Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing hat dem Pilz mit dem eigenartigen Geruch, der nicht nur als Delikatesse gegessen, sondern auch als eine besondere Gabe verschenkt wird, ein außergewöhnliches, sehr gut geschriebenes und sehr gut übersetztes Buch gewidmet, in dem sie vom heldenhaften Überleben des Matsutake in den Ruinen der Menschenwelt erzählt, zu denen längst auch gehört, was noch Natur genannt wird.

So wie Hunde ihre Besitzer an der Leine hinter sich herziehen, so zog der Pilz mit der Autorin durch die Welt. Sie fuhr wegen ihm nach China und Japan und schaute sich nach ihm in Oregon um, sie traf sich in abgelegenen Camps mit Sammlern und verfolgte akribisch und staunend, als liefe ein Trupp von Ameisen quer durch ihr Zimmer, die Verwertungsketten, die aus einem natürlichen Gewächs, das kein Hirsch und kein Elch verschmäht, einen Tauschgegenstand und eine Ware auf internationalen Märkten machen.

Die Sammler in den Wäldern, die sich in der Geduld der Armen üben, dass ihr Wille nicht der Weg zum Reichtum ist, und beim Aufspüren des Pilzes ihren Erfahrungen mit dem Erdreich vertrauen müssen, haben keine Ahnung, was mit den Pilzen geschieht, kaum dass sie ihre Beute bei den Abnehmern vor Ort abgeliefert und dafür mal mehr, mal weniger Geld erhalten haben. Die Beziehungen, die der Pilz mit verschiedenen Baumarten, vor allem mit der resistenten Kiefer, eingegangen ist und eingehen muss, bilden ein unterirdisches Geflecht aus Geben und Nehmen, das ihm in dem allgemeinen kapitalistischen Desaster flächendeckender Ausbeutung sein Überleben sichert. Die Matsutake-Spezialisten aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen, die der Pilz wie bedürftige Verwandte in seiner unmittelbaren Nähe hat aus dem Boden sprießen lassen und mit denen die Autorin ebenso geredet hat wie mit Sammlern, Händlern und Förstern, hängen ihren diversen Theorien an über das Wohl und Wehe und die Wachstumschancen ihres Studiengegenstandes, wie es unter Wissenschaftlern üblich ist, die auch im Labyrinth der Natur weitgehend im Dunkeln tappen.

Potentielle Leser, die noch nie etwas vom Matsutake gehört haben und auch nicht bei sich auf eine allgemeine intellektuelle Neigung für Pilze zurückgreifen können, werden, wenn sie sich wenigstens für das verschüttete Leben interessieren, die Geschichte des Matsutake, wie sie hier erzählt wird, als ein Vorbild für letzte Chancen und eine Vision über eine im unaufhaltsamen Zerfall begriffene Zukunft schätzen lernen, eben so, wie sie von der Autorin gemeint ist. Ihr Buch erschöpft sich ja nicht darin, ein biologisches Phänomen zu beschreiben, dessen Existenz kein Wort an uns richten würde, sondern macht den Leser mit einer Geschichte bekannt, die eine Art Kehrtwendung initiieren und markieren soll, raus aus den üblichen Vorstellungen sozialer Systeme, die von Fortschritt und Modernisierung berichten, und hinein in das Verständnis vegetativer Systeme, die von Lebensarten und Lebewesen handeln.

Großartig ist ihre erregend nüchterne, von detaillierter Wissbegier und ethnographischer Neugier getragene Extrapolation vom partisanenähnlichen Pilz, der unermüdlich und erfolgreich für sich Schlupfwinkel sucht und netzwerkartige Notgemeinschaften herstellt und eingeht, in das flechtartig sich ausdehnende Schicksal eines lebensumspannenden Prekariats, das an den stetig wachsenden Rändern einer rabiaten Gesellschaftsform entsteht, die sich auflöst und auslöscht.

Das einprägsamste Sinnbild für diese prekären Existenzweisen an den sozialen Abgründen findet die anthropologische Naturbetrachterin, für die gelingendes Dasein vor allem nur noch versuchtes Überleben zu sein scheint, unter den wie verlorene Seelen, wie Heimatlose umherziehenden Sammlern in den Wäldern Oregons. Hier haben asiatische Immigranten und amerikanische Veteranen, vor Kriegen Geflohene und von Kriegen Traumatisierte und Entwurzelte eine Art soziales Refugium gefunden, in dem sie mit ihrer Armut und ihren Ängsten über die Runden zu kommen hoffen. Innerlich halten sie dabei die Flagge einer Freiheit hoch in die Nacht, die ihnen in einem vom Staat abgemessenen Gehege der Wildnis zugestanden wird. Wenn alle Stricke, die ein Leben in der Gemeinschaft möglich machten, gerissen, wenn die kapitalistischen Verheerungen so weit fortgeschritten sind, dass eine Rückkehr in die Natur, von der einst geschwärmt wurde, nur ein intelligentes Überleben unter den Bedingungen der Vegetation bedeutet, dann flattert, nicht zum Hohn auf die erfolgreiche Zerstörung, sondern wie eine Hymne auf eine Art Restexistenz, immer noch die Idee einer letzten ersten Freiheit im Herzen, gleichsam wie ein zerschlissener Fetzen vom großen amerikanischen Traum. Anna Lowenhaupt Tsing lehrt Anthropologie an der University of California. Kein Satz ihres Buches bebt in Katastrophenstimmung.

Ohne den Matsutake, der manchen Sammlern in den Wäldern ein Auskommen ermöglicht, wären sie verdammt, zurück in die Städte und engen Wohnsilos zu ziehen, in die übliche Knechtschaft der billigen Lohnarbeiten oder in die psychiatrische Betreuung und soziale Verwahrlosung. Die Natur, in der sie aufatmen und eine ihnen erträgliche Form des Lebens finden, ist kein unbeflecktes Territorium, sondern ein von Menschen geprägtes Asyl, das aus einst abgeholzten und dann wieder aufgeforsteten Wäldern besteht, keine gleichsam heile museale Landschaft, sondern ein wegweisendes Modell für gemeinsame Überlebensstrategien in Zeiten der Regression. Nichts, außer den leeren und hilflosen Versprechen von Politikern und den selbstgewissen und eitlen Parolen der reichen Sieger, scheint dagegen zu sprechen, dass diese Miniatur vom bedrängten und findigen Matsutake sich zum Panorama der sozialen Zukunft auswachsen wird. Die Idee, dass die Natur, die Umwelt gerade von Menschenhand erhalten und gerettet werden könnte, gleicht in ihrer überzogenen Reinheit der Vision einer klassenlosen Gesellschaft als einem Endziel, dem sich die Geschichte beugen werde. Der Matsutake weckt den schwarzen, endzeitlichen Gedanken, dass es auf den Ruinen des Kapitalismus sinnvoller und dringlicher ist, Alternativen und Antworten von der Natur zu erhoffen und sie bei ihr zu suchen, statt sich in dem hypertrophen Glauben einer Siegermacht zu wiegen, es resultiere gerade aus ihren fürsorglichen Einfällen, wie die Natur zu erhalten sei.

Den Pilz studieren, das legt die Autorin in ihrem natursoziologischen Buch nahe, heißt, von ihm für das eigene fragile Leben zu lernen. Der Spiegel der Natur, der einmal für westliche Philosophen ein Bild darstellte von der Selbstsicherheit und Überlegenheit des Geistes, erweist sich in der anthropologischen Perspektive der Geschichte vom Matsutake als ein letztes probates Hilfsmittel für die Bewohner der Städte, rechtzeitig Lehren aus den auf massive Veränderungen reagierenden natürlichen Gemeinschaften zu ziehen für ein Überleben in prekären, desaströsen, ungeschützten Verhältnissen.

EBERHARD RATHGEB

Anna Lowenhaupt Tsing: "Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus". Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz, 448 Seiten, 28 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.12.2019

NEUE TASCHENBÜCHER
Ein Pilz
erklärt die Welt
Um die Komplexität unserer extrem ausdifferenzierten Welt fassbar zu machen, gibt es einen simplen, aber sehr wirksamen Trick: Man widmet sich intensiv einem einzelnen, unscheinbaren Element, bis miteinander verwobene Strukturen zutage treten. Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing aus Santa Cruz, Kalifornien, beherrscht das meisterlich, wie ihre Studie über den Matsutake zeigt. Der vor allem in Japan begehrte Pilz erzielt unfassbare Preise, ist nicht kultivierbar und wächst gewissermaßen in den Ruinen kaputtindustrialisierter Landschaften, er wird so zum Symbol einer Zeit, in der die Apokalypse bereits täglich stattfindet. Tsing schreibt unterhaltsam und entgegen akademischen Sitten angenehm subjektiv, ihr Nachspüren noch der unscheinbarsten Verästelung ist auch eine persönliche Reise. Sie verfällt geradezu einem Pilzfieber, reist um die Welt und folgt den Spuren von Sammlern, Fachleuten und Händlern. So formuliert sie nicht nur eine fundierte Kritik an der derzeitigen Ausrichtung globaler Kapital- und Warenströme, sondern plädiert hellsichtig für eine dem 21. Jahrhundert angemessene Weise, unsere Welt wahrzunehmen. VOLKER BERNHARD
Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 445 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Rezensent Eberhard Rathgeb folgt der amerikanischen Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing fasziniert auf der Suche nach den Geheimnissen des Matsutake-Pilzes. Den den Kunstkniff der Autorin, Pilz und Zivilisation zusammenzudenken, fand er sowohl äußerst unterhaltsam als auch ernsthaft lehrreich: Er hat gelernt, dass der Matsutake darin brilliert, auch unter den denkbar schlechtesten Naturbedingungen zu wachsen, indem er "netzwerkartige Notgemeinschaften" mit verschiedenen anderen Pflanzen eingeht. So besiedelte er Rathgeb zufolge als eine der ersten Lebensformen wieder die verseuchten Böden Hiroshimas. Für Rathgeb gelingt es Lowenhaupt Tsing auf erstaunliche Art und Weise, am Beispiel des robusten Pilzes zu zeigen, wie ein soziales Leben in den zukünftigen "Ruinen des Kapitalismus" auch für den Menschen gelingen könnte. So keimt dank Lowenhaupt Tsings Buch doch noch ein Schimmer Hoffnung in Rathgebs düsterer Vision vom kommenden Leben "in prekären, desaströsen, ungeschützten Verhältnissen" auf.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Tsings Idee eines gemeinschaftlichen Überlebenskampfes von Mensch und Pilz und ihr Plädoyer für Diversität sind erfrischend unfrustriert. Das Buch macht Hoffnung, dass auch außerhalb des kapitalistischen Empire Werte wachsen." - Silke Weber, Zeit Wissen Silke Weber ZEIT - Wissen 20180701