Das erste neue Leben, das sich nach der nuklearen Katastrophe in Hiroshima wieder regte, war ein Pilz. Ein Matsutake, der auf den verseuchten Trümmern der Stadt wuchs - einer der wertvollsten Speisepilze Asiens, der nicht nur in Japan, wo er Spitzenpreise aufruft, vorkommt, sondern auf der gesamten Nordhalbkugel verbreitet ist. Dieser stark riechende Pilz wächst bevorzugt auf von der Industrialisierung verwüsten und ruinierten Böden und ist nicht kultivierbar. In ihrem faszinierenden kaleidoskopischen Essay geht die Anthropologin Anna Lowenhaupt-Tsing den Spuren dieses Pilzes sowie seiner biologischen und kulturellen Verbreitung nach und begibt sich damit auch auf die Suche nach den Möglichkeiten von Leben in einer vom Menschen zerstörten Umwelt. Sie erzählt Geschichten von Pilzsammlern, Wissenschaftlern und Matsutake-Händlern und öffnet einen neuen und ungewohnten Blick auf unsere kapitalistische Gegenwart. Denn eigentlicher Gegenstand ihrer preisgekrönten und in viele Sprachen übersetzten Erzählung ist die Ökologie des Matsutake, das Beziehungsgeflecht um den Pilz herum, als pars pro toto des Lebens auf den Ruinen des Kapitalismus, das ein Leben in Beziehungen sein - oder aber nicht sein wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.12.2019NEUE TASCHENBÜCHER
Ein Pilz
erklärt die Welt
Um die Komplexität unserer extrem ausdifferenzierten Welt fassbar zu machen, gibt es einen simplen, aber sehr wirksamen Trick: Man widmet sich intensiv einem einzelnen, unscheinbaren Element, bis miteinander verwobene Strukturen zutage treten. Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing aus Santa Cruz, Kalifornien, beherrscht das meisterlich, wie ihre Studie über den Matsutake zeigt. Der vor allem in Japan begehrte Pilz erzielt unfassbare Preise, ist nicht kultivierbar und wächst gewissermaßen in den Ruinen kaputtindustrialisierter Landschaften, er wird so zum Symbol einer Zeit, in der die Apokalypse bereits täglich stattfindet. Tsing schreibt unterhaltsam und entgegen akademischen Sitten angenehm subjektiv, ihr Nachspüren noch der unscheinbarsten Verästelung ist auch eine persönliche Reise. Sie verfällt geradezu einem Pilzfieber, reist um die Welt und folgt den Spuren von Sammlern, Fachleuten und Händlern. So formuliert sie nicht nur eine fundierte Kritik an der derzeitigen Ausrichtung globaler Kapital- und Warenströme, sondern plädiert hellsichtig für eine dem 21. Jahrhundert angemessene Weise, unsere Welt wahrzunehmen. VOLKER BERNHARD
Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 445 Seiten, 15 Euro.
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Ein Pilz
erklärt die Welt
Um die Komplexität unserer extrem ausdifferenzierten Welt fassbar zu machen, gibt es einen simplen, aber sehr wirksamen Trick: Man widmet sich intensiv einem einzelnen, unscheinbaren Element, bis miteinander verwobene Strukturen zutage treten. Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing aus Santa Cruz, Kalifornien, beherrscht das meisterlich, wie ihre Studie über den Matsutake zeigt. Der vor allem in Japan begehrte Pilz erzielt unfassbare Preise, ist nicht kultivierbar und wächst gewissermaßen in den Ruinen kaputtindustrialisierter Landschaften, er wird so zum Symbol einer Zeit, in der die Apokalypse bereits täglich stattfindet. Tsing schreibt unterhaltsam und entgegen akademischen Sitten angenehm subjektiv, ihr Nachspüren noch der unscheinbarsten Verästelung ist auch eine persönliche Reise. Sie verfällt geradezu einem Pilzfieber, reist um die Welt und folgt den Spuren von Sammlern, Fachleuten und Händlern. So formuliert sie nicht nur eine fundierte Kritik an der derzeitigen Ausrichtung globaler Kapital- und Warenströme, sondern plädiert hellsichtig für eine dem 21. Jahrhundert angemessene Weise, unsere Welt wahrzunehmen. VOLKER BERNHARD
Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 445 Seiten, 15 Euro.
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