Ramón hat die Schnauze voll und einen neuen Job.Er soll das riesige Coca-Cola-Plakat am Ortseingangbewachen. Und weil die Welt von oben besser aussieht,zieht er gleich ganz auf das Gerüst - ein modernerSäulenheiliger. So sehen ihn auch die Leute, dieihn kurzerhand für verrückt erklären und seinem elfjährigenNeffen, der diese schöne Geschichte erzählt,verbieten, seinen Onkel zu besuchen. Genau dasmacht er natürlich: Da oben sind die Sterne näher,Coca Cola leuchtet, und mit Ramón ist gut schweigen.Aber es gibt Krach. Nicht nur mit Tante Paulinaund der Mutter - wer aus der Reihe tanzt, um wasBesseres zu finden, den trifft die Wut der Nachbarn,egal , wie mies es denen geht. Was tun? Wie schon inihrem gefeierten Erstling »Kramp« lässt María JoséFerrada auch hier ein Kind der gewöhnungsbedürftigenErwachsenenwelt einen klugen, nicht geradeschmeichelhaften Spiegel vorhalten.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit ihrem neuen Buch ist María José Ferrada eine Fortführung ihrer mit dem Roman "Kramp" begonnenen Gesellschaftsanamnese gelungen, findet Rezensentin Katharina Teutsch. Darin erzählt die vielfach ausgezeichnete chilenische Autorin die absurd-komische Geschichte von Ramón, der, als Wachmann einer Gerüstbaufirma, eines Tages beschließt, auf einem riesigen Coca-Cola-Plakat zu wohnen und die Siedlung, in der er lebte, nunmehr ,von oben' zu betrachten. Wiedergegeben wird diese Geschichte von dem kleinen Miguel, dem Sohn von Ramóns Frau Paulina, die als Regalauffüllerin im Supermarkt arbeitet. Dass Ramóns "Suche nach der Stille" nicht einfach romantisiert wird, zeigt sich der Rezensentin zufolge daran, dass auch seine Flucht in den Alkohol und die Aggressionen der Dorfbewohner:innen gegen die am Fuße des Plakats lebenden Obdachlosen thematisiert werden. Eine Parabel auf das Leben im kapitalistischen Chile post Pinochet, von der Teutsch durchaus angetan ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2024Coca-Cola tröstet nicht
María José Ferrada erzählt über Chile
Der Tag, an dem Ramón, der Wachmann einer Gerüstbaufirma, beschließt, auf der riesigen Coca-Cola-Werbung an der Ausfallstraße einer prototypischen chilenischen Vorstadtsiedlung zu wohnen, ist der Tag des Perspektivsprungs. Fortan gibt es in dem kleinen Wohnort die Leute "von unten" und die durch Ramón (den "Irren", den "Idioten", den "Vogel") verkörperte Möglichkeit "von oben". Ramón, erfahren wir in der Parabel von María José Ferrada, war stets schweigsam. Er liebte die Einsamkeit, die Sterne, das Universum. Trotz seiner Entrücktheit heiratet er Paulina, die Tante des kleinen Miguel, aus dessen Perspektive Ramóns Geschichte erzählt wird: "Ramóns neue Behausung sah genau so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte: Als wäre ein nachlässiger Vogel am Werk gewesen, der sein Nest baut, ohne sich um den Fortbestand der Spezies allzu viele Gedanken zu machen. Sämtliche Wände - bis auf die, die ein Teil des Plakats war - wiesen Ritzen zwischen den Brettern auf, durch die, wie ich im Lauf der Zeit merken sollte, Licht drang, das immer nur einen Gegenstand beleuchtete - das Licht des Kaffeedosensatelliten; und schließlich das des Zuckerpackungsmondes."
Unten am Boden geblieben ist Ramóns Ehefrau Paulina, die als Regalauffüllerin im Supermercado arbeitet. "'Warum gefällt es dir hier oben so gut?', fragte Paulina. 'Hör doch mal', antwortete Ramón. 'Alles, was man hört, ist ein davonfahrendes Auto.' 'Eben.'" Und weiter heißt es: "Er hatte sechsunddreißig Jahre gebraucht, um den passenden Beobachtungsposten zu finden, an dem er seine mit neun Jahren unterbrochene Suche nach der Stille fortsetzen konnte. Einen Beobachtungsposten und zugleich eine Arbeit, die ihn keine Zeit kostete, ihm aber trotzdem ermöglichte, sich einen guten Mantel zu kaufen, und ihm seinen täglichen Teller Reis sicherte. Und sein Bier."
Die Wunderlichkeit hat nicht nur eine romantische Seite in dieser Geschichte über einen Außenseiter, der die Gemeinschaft herausfordert. Sie hat auch einen Preis. Ramóns glasiger Blick und die leer getrunkenen Bierdosen, die er auf seinem Gerüst hortet, zeugen von einer Flucht nicht nur aus einer kleinbürgerlichen Durchschnittsexistenz, sondern auch in die ewigen Nebel des Alkohols, der dem Coca-Cola-Kapitalismus etwas von seiner süßlichen Verheißung nimmt.
Ramón ist nicht der kleine Prinz der Leserherzen. Und er ist auch nicht Momo, die den Menschen die vom Kapitalismus gestohlene Zeit zurückgibt. Er ist einfach jemand, der verschwindet, ohne Plan, ohne Metaphysik und mithilfe von stumpf machenden Getränken. Dennoch verkörpert er eine Utopie vom Fliegen und Aussteigen, die die Untengebliebenen zur Weißglut bringt. Auf der Tagesordnung der Siedlungstreffen steht fortan neben den Themenfeldern "1. Obdachlose, 2. Kindersicherheit, 3. Straßenbeleuchtung" noch der Problempunkt "4. Ramón".
Die Obdachlosen und ihre Familien, die am Fuße des Gerüsts eine Stadt aus Lehm bauen, sind die ersten Opfer der kollektiven Wut. Ein Kind aus der Siedlung ist auf dem Weg zu Ramóns Gerüst spurlos verschwunden. Ramón hat sein Gerüst inzwischen verlassen. Gibt es einen Zusammenhang? In einer Gewaltorgie zertrümmern die aufgebrachten Siedlungsbewohner die Behausungen der Obdachlosen. "Mithilfe der Stöcke, mit denen die Bewohner der Siedlung sich bewaffnet hatten, wurde der Scheiterhaufen entzündet, auf dem all die Dinge nach ihrer Rückkehr auf den Erdboden - von dem sie sich nie hätten erheben dürfen - verbrannten. Der Rauch stieg uns in die Augen und hüllte das coca-cola-rote Cabriolet, die Frau und den Himmel auf dem Plakat in eine graue Wolke."
Schon in ihrem Romandebüt über ein tragikomisches Schraubenvertreter-Gespann, bestehend aus Vater und Töchterchen in den chilenischen Achtzigerjahren, erzählte die vielfach ausgezeichnete Kinderbuchautorin María José Ferrada eine Abenteuergeschichte, aus der sich langsam, aber unaufhaltsam das Gewaltthema herausschälte. "Kramp" war eine Gespenster-Road-Novel, denn die desaparecidos des Pinochet-Regimes spukten darin beharrlich herum - Gespenster einer damals noch traumatisierten Gesellschaft.
"Der Plakatwächter", etwas schwächer als sein Vorgänger, spielt in der kapitalistischen Gegenwart. Die Pinochet-Plakate wurden längst durch Coca-Cola-Plakate abgelöst. Die Menschen unter den Plakaten sind aber weit entfernt von bürgerlichem Wohlstand. Der Roman lässt sich als Fortführung einer Gesellschaftsanamnese lesen, aber auch als Parabel auf die Natur des Menschen, der gern nach Sündenböcken sucht, wenn ihm selbst das Glück am Fuße des Coca-Cola-Plakats versagt wird. Ramón ist immerhin zu ihm hochgeklettert. KATHARINA TEUTSCH
María José Ferrada: "Der Plakatwächter". Roman.
Aus dem Spanischen
von Peter Kultzen.
Berenberg Verlag,
Berlin 2024.
128 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
María José Ferrada erzählt über Chile
Der Tag, an dem Ramón, der Wachmann einer Gerüstbaufirma, beschließt, auf der riesigen Coca-Cola-Werbung an der Ausfallstraße einer prototypischen chilenischen Vorstadtsiedlung zu wohnen, ist der Tag des Perspektivsprungs. Fortan gibt es in dem kleinen Wohnort die Leute "von unten" und die durch Ramón (den "Irren", den "Idioten", den "Vogel") verkörperte Möglichkeit "von oben". Ramón, erfahren wir in der Parabel von María José Ferrada, war stets schweigsam. Er liebte die Einsamkeit, die Sterne, das Universum. Trotz seiner Entrücktheit heiratet er Paulina, die Tante des kleinen Miguel, aus dessen Perspektive Ramóns Geschichte erzählt wird: "Ramóns neue Behausung sah genau so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte: Als wäre ein nachlässiger Vogel am Werk gewesen, der sein Nest baut, ohne sich um den Fortbestand der Spezies allzu viele Gedanken zu machen. Sämtliche Wände - bis auf die, die ein Teil des Plakats war - wiesen Ritzen zwischen den Brettern auf, durch die, wie ich im Lauf der Zeit merken sollte, Licht drang, das immer nur einen Gegenstand beleuchtete - das Licht des Kaffeedosensatelliten; und schließlich das des Zuckerpackungsmondes."
Unten am Boden geblieben ist Ramóns Ehefrau Paulina, die als Regalauffüllerin im Supermercado arbeitet. "'Warum gefällt es dir hier oben so gut?', fragte Paulina. 'Hör doch mal', antwortete Ramón. 'Alles, was man hört, ist ein davonfahrendes Auto.' 'Eben.'" Und weiter heißt es: "Er hatte sechsunddreißig Jahre gebraucht, um den passenden Beobachtungsposten zu finden, an dem er seine mit neun Jahren unterbrochene Suche nach der Stille fortsetzen konnte. Einen Beobachtungsposten und zugleich eine Arbeit, die ihn keine Zeit kostete, ihm aber trotzdem ermöglichte, sich einen guten Mantel zu kaufen, und ihm seinen täglichen Teller Reis sicherte. Und sein Bier."
Die Wunderlichkeit hat nicht nur eine romantische Seite in dieser Geschichte über einen Außenseiter, der die Gemeinschaft herausfordert. Sie hat auch einen Preis. Ramóns glasiger Blick und die leer getrunkenen Bierdosen, die er auf seinem Gerüst hortet, zeugen von einer Flucht nicht nur aus einer kleinbürgerlichen Durchschnittsexistenz, sondern auch in die ewigen Nebel des Alkohols, der dem Coca-Cola-Kapitalismus etwas von seiner süßlichen Verheißung nimmt.
Ramón ist nicht der kleine Prinz der Leserherzen. Und er ist auch nicht Momo, die den Menschen die vom Kapitalismus gestohlene Zeit zurückgibt. Er ist einfach jemand, der verschwindet, ohne Plan, ohne Metaphysik und mithilfe von stumpf machenden Getränken. Dennoch verkörpert er eine Utopie vom Fliegen und Aussteigen, die die Untengebliebenen zur Weißglut bringt. Auf der Tagesordnung der Siedlungstreffen steht fortan neben den Themenfeldern "1. Obdachlose, 2. Kindersicherheit, 3. Straßenbeleuchtung" noch der Problempunkt "4. Ramón".
Die Obdachlosen und ihre Familien, die am Fuße des Gerüsts eine Stadt aus Lehm bauen, sind die ersten Opfer der kollektiven Wut. Ein Kind aus der Siedlung ist auf dem Weg zu Ramóns Gerüst spurlos verschwunden. Ramón hat sein Gerüst inzwischen verlassen. Gibt es einen Zusammenhang? In einer Gewaltorgie zertrümmern die aufgebrachten Siedlungsbewohner die Behausungen der Obdachlosen. "Mithilfe der Stöcke, mit denen die Bewohner der Siedlung sich bewaffnet hatten, wurde der Scheiterhaufen entzündet, auf dem all die Dinge nach ihrer Rückkehr auf den Erdboden - von dem sie sich nie hätten erheben dürfen - verbrannten. Der Rauch stieg uns in die Augen und hüllte das coca-cola-rote Cabriolet, die Frau und den Himmel auf dem Plakat in eine graue Wolke."
Schon in ihrem Romandebüt über ein tragikomisches Schraubenvertreter-Gespann, bestehend aus Vater und Töchterchen in den chilenischen Achtzigerjahren, erzählte die vielfach ausgezeichnete Kinderbuchautorin María José Ferrada eine Abenteuergeschichte, aus der sich langsam, aber unaufhaltsam das Gewaltthema herausschälte. "Kramp" war eine Gespenster-Road-Novel, denn die desaparecidos des Pinochet-Regimes spukten darin beharrlich herum - Gespenster einer damals noch traumatisierten Gesellschaft.
"Der Plakatwächter", etwas schwächer als sein Vorgänger, spielt in der kapitalistischen Gegenwart. Die Pinochet-Plakate wurden längst durch Coca-Cola-Plakate abgelöst. Die Menschen unter den Plakaten sind aber weit entfernt von bürgerlichem Wohlstand. Der Roman lässt sich als Fortführung einer Gesellschaftsanamnese lesen, aber auch als Parabel auf die Natur des Menschen, der gern nach Sündenböcken sucht, wenn ihm selbst das Glück am Fuße des Coca-Cola-Plakats versagt wird. Ramón ist immerhin zu ihm hochgeklettert. KATHARINA TEUTSCH
María José Ferrada: "Der Plakatwächter". Roman.
Aus dem Spanischen
von Peter Kultzen.
Berenberg Verlag,
Berlin 2024.
128 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.