Konrad Feldt ist mit Leib und Seele Bibliothekar und lesesüchtig. Eines Tages gesteht ihm ein Kollege, daß er ein wertvolles handschriftliches Manuskript Mozarts aus der Bibliothek gestohlen hat. Nachdem er Feldt das Manuskript übergeben hat, begeht der Dieb Selbstmord. Feldt gibt es nicht zurück, sondern folgt dem verlockenden Angebot eines japanischen Händlers und reist nach Tokio. Mit der kostbaren Handschrift im Gepäck wird er plötzlich verfolgt und steht schließlich unter Mordverdacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998Für eine Handvoll Mozart
Gerhard Roth schickt einen Wiener Bücherwurm nach Japan / Von Uwe Schmitt
Die Sensibleren unter den westlichen Wissenschaftlern und Künstlern, die der ersten Einladung nach Japan folgen, fallen bei ihrer Ankunft in Schocklähmung. Nie fühlten sie sich in einer Industrienation so hilflos. Sie alle erleben dieselbe Entmündigung im fremden Zeichenreich, die lückenlos sorgende Betreuung durch die Gastgeber, endlich die Anstrengung, gelegentlich für ihre Vorträge oder Lesungen in ihre ausgewachsene Haut zurückzufahren.
Es gibt viel preis über Menschen, ob sie den Ausnahmezustand, etwa beim Freigang unter ihresgleichen in Botschaften, Hotels, Goethe-Instituten, erstaunt oder mit Entsetzen schildern. Was der eine als Drogenrausch und Schrumpfen auf Kindesgröße genießt, fürchtet der andere als erniedrigende Taubstummheit wie nach einem Schlaganfall. Auch Gerhard Roth muß bei seinen Lesereisen in Japan diesen frappierenden Sinneswandel, der Wahrnehmung zugleich schärft und abstumpft, erlitten haben. Ob es klug war, die flüchtige Erfahrung seinem neuen Romanhelden anzudichten und einen Kriminalfall japanisch zu verrätseln, statt von sich zu erzählen, ist eine andere Frage.
Es mag sein, daß der Schriftsteller und Dramatiker seiner Rolle als grimmiger Archäologe, Psychoanalytiker und Pathologe österreichischer Doppelköpfigkeit, die er mit dem siebenbändigen Zyklus "Archive des Schweigens" (1980 bis 1991) ausspielte und mit "Der See" (1995) wieder zitierte, endlich überdrüssig war. Denkbar auch, daß Roth sich vor der Sammelwut und Pedanterie seiner Obduktionsbefunde, die in der Südsteiermark wie in Wien am Ende immer dieselben Mordwunden und denselben Verwesungsgeruch aufspüren müssen, in die Ungenauigkeit eines exotischen Abenteuerspielplatzes flüchten wollte.
Auch "Der Plan" seines Protagonisten Konrad Feldt, des lesesüchtigen Angestellten der Wiener Nationalbibliothek, den Gelegenheit zum Dieb und Hehler eines briefmarkenähnlichen Ausrisses aus einem Mozart-Autographen macht, wird weniger von Geldgier angetrieben, als von Abenteuerlust. Mehr noch, ein "Fehdehandschuh an die Bücherwelt" soll Feldts Tat sein, die Roth in der ersten Romanzeile als "Verbrechen" gewaltig übertreibt. Den Fehdehandschuh schleudert jedenfalls früh der allwissende Erzähler in den Bibliotheksstaub der "geistigen Speisekammer", ein Erzähler, dem Gerhard Roth hier leider nicht nur abwegige Metaphern und ungelenke Grammatik zumutet. Was aber den kränkelnden Büchernarren Konrad Feldt je bewegt, mutig und mit erstaunlicher krimineller Routine zu befehden, was er allein liebt auf der Welt, und für immer der Völlerei in der Speisekammer zu entsagen, bleibt bis zu seinem und des Buches Ende sonderbar vage.
Roth erzählt die Vorgeschichte seines Helden in Rückblenden während seines Fluges nach Japan. Der Sohn eines "schweigsamen Militärarztes", der seit seiner Kindheit an Asthma leidet und noch immer cortisonsüchtig ist, liebt nur Lexika noch mehr als die Literatur und nur Portolane, bebilderte Landkarten aus dem siebzehnten Jahrhundert, noch mehr als Lexika. Feldt ist fünfunddreißig, nicht sehr groß, betont mit Goldrandbrille und vollem Haarschopf den jungenhaften Intellektuellen und zweifelt an seiner Eignung fürs Zusammenleben mit einer Frau. Er kennt keine größere Sehnsucht als "die Freiheit, mit Genuß zu lesen". Dieser erotische Genuß stellt sich in seiner erquickendsten Form nach einem überstandenen Asthmaanfall ein. Genügend neurotisches Material, um Feldt Leben einzuflößen, wäre das gewiß.
Nachdem ein gewisser Oberaufseher Glaser in der Nationalbibliothek ihm eines Tages einen Umschlag mit dem Ausriß aus Mozarts Original-Arbeitspartitur des "Requiem" und der Adresse eines Dr. Hayashi in die Hand drückt, sich vor seinen Augen eine Kugel in den Mund schießt, beschließt Feldt, durch den Verkauf des heiligen Fetzens europäischer Beutekunst reich zu werden. Es ist Roths gutes Recht, mit diesem Plot das (nach Jahren schwerster Wirtschaftsdepression) nicht mehr ganz zeitgemäße Ressentiment des neureichen japanischen Sammlers auszubeuten, der aus Genußsucht auch kriminelle Rache übt an der westlichen Kulturhoheit. Doch wäre ein Mann, der eine Million Dollar zahlt für einen Ausriß Notenpapier mit Mozarts letztem Musiziergebot "quam olim d: c:" ("Wie einstmals noch einmal"), wohl auch in Japan eher ein Fall für die Psychiatrie als für den Schwarzmarkt. Sowenig Feldt die ihm zugedachte Biografie je mit Leben erfüllt, so blaß geraten seine Widersacher und Betreuer.
Die Plausibilität der Handlung und seiner Figuren scheint Gerhard Roth nicht sonderlich zu interessieren. Marionettenhaft leihen sie Vorwände für Japan-Impressionen des Autors. Nicht einmal mit dem Wetter nimmt Roth es genau. Unmittelbar nach Feldts Ankunft in Tokio läßt er dort in derselben Szene, "obwohl es Herbst war . . ." (gewöhnlich taifunnaß und warm) und es allenthalben grünt, Eisblumen an Fenstern wachsen und bald Schnee fallen. Um einen Traum oder Halluzinationen Feldts kann es sich bei dem Bühnenwetter kaum handeln, denn der Roman gibt sich handfest erzählt, nicht versponnen assoziiert.
So unbegreiflich wie das Frösteln und Schwitzen erscheinen häufig die Motive der Figuren. Allen voran befremdet Konrad Feldt, dessen zugeschriebene Kenntnisse über Japan zwischen Ignoranz und Abgeklärtheit schwanken wie seine unbewiesenen Eigenschaften. Wie jeden Touristen erstaunen ihn die Pachinko-Spielhallen, Kunststoffspeisen in Restaurantvitrinen, selbstöffnende Taxitüren, das elaborierte Reinigungsritual in den heißen Quellen, Tempel, Gräber, Sushi vom Fließband, die Bilderrätsel der Reklameschriften. Alles das ist in Ordnung, auch wenn einige Beobachtungen wie Kulissenschieberei knirschen und die Szene, in der Feldt am Strand dem Muscheln sammelnden Kaiser begegnet, ins Märchenreich gehört.
Doch wer, der sich unversehens in ein "unentdecktes Reich mit unzähligen Siegeln" geworfen findet, murmelt andererseits ein erlesenes Haiku oder "denkt an eine Zeile des Tao Te King oder an eine Zenweisheit". Ein Wiener Bücherwurm, der Seide spinnt? Hinreißend erzählt, doch nicht minder unvermittelt ist die Wandlung des müden Bibliophilen zum unwiderstehlichen "gaijin lover", der seine germanistisch geschulte Führerin Sato-san auf dem Autorücksitz durch bloßes Hand-auf-Hand-Legen erobert. Nicht, daß das nicht vorkäme: Nur gibt Roth keinen Anlaß, es Konrad Feldt zuzutrauen.
Das nämliche gilt für seine ungestüm reifende Berufung zum Gangster. Die Geistesgegenwart, mit der Feldt nach dem ersten Schuß bei einem Attentat auf Dr. Hayashi in stockfinsterem Haus zu Boden stürzt, und "obwohl er keine Erfahrung mit Waffen hatte, in die Richtung zurückschoß, aus der er die Explosion gehört hatte", wäre selbst in Hollywoods B-Pictures zu kurios, um den letzten Schnitt zu überstehen. Cool wischt Feldt Fingerabdrücke von der Waffe, folgt Blutspuren, fürchtet weder bewaffnete Verfolger noch Erdbeben, als sei er schon immer nebenher Killer, wenigstens Detektiv gewesen. Man wird nicht klug aus ihm.
Nun hat sich Gerhard Roth schon häufig in seinen Büchern die Freiheit genommen, seine Leser nicht zu umwerben mit übertrieben einleuchtenden Handlungsmotiven. Und bisweilen ist auch hier der facettierte Insektenblick, mit dem er, über den Dingen schwirrend, Handlungsstränge beschaut, Beziehungsloses bestäubt und Winziges vergrößert, von wunderbarer Suggestion. Immer dann nämlich, wenn er Feldt sorgfältige botanische Studien treiben, Berglandschaften durchfahren, in Krater absteigen läßt. Beiläufige Beobachtungen wie das erschütternde Papierrascheln eines den Vortrag mitlesenden japanischen Auditoriums beleben die Szenen unendlich mehr als die literarischen Kettenreaktionen, die Feldt gelegentlich zu Kopf steigen. Für den Leser nimmt Feldt aber nicht durch seine Erinnerung an Bruegel-Gemälde oder Lesefrüchte Gestalt an, sondern durch sein Asthma.
Ausgerechnet die immer wiederkehrenden Anfälle, die der ehemalige Medizinstudent Roth schrecklich sachlich diagnostiziert, und die glückselige Erleichterung, die der Kranke einmal durch einen Arzt und am Ende durch eine Kugel in seiner Brust spürt, lassen Konrad Feldt aufleben. Eher mit zwiespältigem Neid nähert man sich dagegen den beiden sexuellen Affären des Ausländers mit Japanerinnen. Während der begnadete Voyeur die lustvolle Unnahbarkeit der Frauen beschreibt - beide, obwohl nur eine dafür bezahlt wurde, lassen ihre Körper so herzenskalt liebkosen und folgenlos besitzen, wie sie essen oder schlafen -, klingt seine Bewunderung für ein "so zartes, so liebliches Ohr" oder gar für "leichtfüßigen Trippelschritt", der angeblich allen Japanerinnen eigen ist, nach "Madame Butterfly" in einer Kleinstadtaufführung.
Plausibilität des Plots und Charakterstärke der Protagonisten sind nicht die einzigen Zutaten in einem Kriminalroman. Was aber soll der Leser des "Plans" noch glauben, wenn beim Showdown, der Geldübergabe für den Fetzen Mozart, im südjapanischen Kumamoto der Gangster beim Feiern des Geschäfts einschläft wie ein Säugling und sich Geld wie Ware abnehmen läßt. Dr. Chiba, ein ganzkörpertätowierter Yakuza, zweifelos erfahren im Umgang mit Schußwaffen und Assistent des ermordeten Dr. Hayashi, erweist sich nicht nur als Tölpel, der beim Geschäft seines Lebens vergißt, daß er keinen Alkohol verträgt. Dem betrunkenen Dr. Chiba, der glaubwürdig prahlt, daß er Feldt "tausendmal" hätte töten lassen können, gelingt Roth zuliebe ein physiologisch-transzendentales Kunststück: "Lachend ließ er sich nach hinten fallen und fing augenblicklich zu schnarchen an."
So einfach, so absurd ist das. Kurz darauf wird Dr. Chiba bei einem Erdbeben von herabstürzenden Balken praktischerweise ganz erledigt. Konrad Feldt, ohne Schuhe, aber ansonsten stolz, einen "kriminellen Geschäftsmann hereingelegt" zu haben, flieht in das Chaos mit Mozart und dem Geldkoffer. Zwei Polizisten halten ihn nahe einem zerstörten Juweliergeschäft für einen Plünderer und erschießen Feldt auf der Stelle. Unbeeindruckt davon, daß diese Schüsse auf einen Ausländer nirgendwo unwahrscheinlicher sind als in Japan, denkt der sterbende Feldt "leb wohl!", den Mozartfetzen in der Hand. Die Polizisten untersuchen den Koffer voller Dollarscheine und beschließen, die Leiche zu plündern. "Währenddessen fiel ein kleines Stück Papier unbemerkt aus der Hand des Gaijin in den aufgewühlten Straßenstaub und verschwand im Schmutz und der Dunkelheit der Nacht."
Konrad Feldt aber ist nicht umzubringen, denn man hat ihn nur denken, nie leben lassen. Nicht in der Wiener Bibliothek und nicht in Japan. Sein Erzähler hat ihn entmündigt, lange bevor er dort ankam.
Gerhard Roth: "Der Plan". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 301 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gerhard Roth schickt einen Wiener Bücherwurm nach Japan / Von Uwe Schmitt
Die Sensibleren unter den westlichen Wissenschaftlern und Künstlern, die der ersten Einladung nach Japan folgen, fallen bei ihrer Ankunft in Schocklähmung. Nie fühlten sie sich in einer Industrienation so hilflos. Sie alle erleben dieselbe Entmündigung im fremden Zeichenreich, die lückenlos sorgende Betreuung durch die Gastgeber, endlich die Anstrengung, gelegentlich für ihre Vorträge oder Lesungen in ihre ausgewachsene Haut zurückzufahren.
Es gibt viel preis über Menschen, ob sie den Ausnahmezustand, etwa beim Freigang unter ihresgleichen in Botschaften, Hotels, Goethe-Instituten, erstaunt oder mit Entsetzen schildern. Was der eine als Drogenrausch und Schrumpfen auf Kindesgröße genießt, fürchtet der andere als erniedrigende Taubstummheit wie nach einem Schlaganfall. Auch Gerhard Roth muß bei seinen Lesereisen in Japan diesen frappierenden Sinneswandel, der Wahrnehmung zugleich schärft und abstumpft, erlitten haben. Ob es klug war, die flüchtige Erfahrung seinem neuen Romanhelden anzudichten und einen Kriminalfall japanisch zu verrätseln, statt von sich zu erzählen, ist eine andere Frage.
Es mag sein, daß der Schriftsteller und Dramatiker seiner Rolle als grimmiger Archäologe, Psychoanalytiker und Pathologe österreichischer Doppelköpfigkeit, die er mit dem siebenbändigen Zyklus "Archive des Schweigens" (1980 bis 1991) ausspielte und mit "Der See" (1995) wieder zitierte, endlich überdrüssig war. Denkbar auch, daß Roth sich vor der Sammelwut und Pedanterie seiner Obduktionsbefunde, die in der Südsteiermark wie in Wien am Ende immer dieselben Mordwunden und denselben Verwesungsgeruch aufspüren müssen, in die Ungenauigkeit eines exotischen Abenteuerspielplatzes flüchten wollte.
Auch "Der Plan" seines Protagonisten Konrad Feldt, des lesesüchtigen Angestellten der Wiener Nationalbibliothek, den Gelegenheit zum Dieb und Hehler eines briefmarkenähnlichen Ausrisses aus einem Mozart-Autographen macht, wird weniger von Geldgier angetrieben, als von Abenteuerlust. Mehr noch, ein "Fehdehandschuh an die Bücherwelt" soll Feldts Tat sein, die Roth in der ersten Romanzeile als "Verbrechen" gewaltig übertreibt. Den Fehdehandschuh schleudert jedenfalls früh der allwissende Erzähler in den Bibliotheksstaub der "geistigen Speisekammer", ein Erzähler, dem Gerhard Roth hier leider nicht nur abwegige Metaphern und ungelenke Grammatik zumutet. Was aber den kränkelnden Büchernarren Konrad Feldt je bewegt, mutig und mit erstaunlicher krimineller Routine zu befehden, was er allein liebt auf der Welt, und für immer der Völlerei in der Speisekammer zu entsagen, bleibt bis zu seinem und des Buches Ende sonderbar vage.
Roth erzählt die Vorgeschichte seines Helden in Rückblenden während seines Fluges nach Japan. Der Sohn eines "schweigsamen Militärarztes", der seit seiner Kindheit an Asthma leidet und noch immer cortisonsüchtig ist, liebt nur Lexika noch mehr als die Literatur und nur Portolane, bebilderte Landkarten aus dem siebzehnten Jahrhundert, noch mehr als Lexika. Feldt ist fünfunddreißig, nicht sehr groß, betont mit Goldrandbrille und vollem Haarschopf den jungenhaften Intellektuellen und zweifelt an seiner Eignung fürs Zusammenleben mit einer Frau. Er kennt keine größere Sehnsucht als "die Freiheit, mit Genuß zu lesen". Dieser erotische Genuß stellt sich in seiner erquickendsten Form nach einem überstandenen Asthmaanfall ein. Genügend neurotisches Material, um Feldt Leben einzuflößen, wäre das gewiß.
Nachdem ein gewisser Oberaufseher Glaser in der Nationalbibliothek ihm eines Tages einen Umschlag mit dem Ausriß aus Mozarts Original-Arbeitspartitur des "Requiem" und der Adresse eines Dr. Hayashi in die Hand drückt, sich vor seinen Augen eine Kugel in den Mund schießt, beschließt Feldt, durch den Verkauf des heiligen Fetzens europäischer Beutekunst reich zu werden. Es ist Roths gutes Recht, mit diesem Plot das (nach Jahren schwerster Wirtschaftsdepression) nicht mehr ganz zeitgemäße Ressentiment des neureichen japanischen Sammlers auszubeuten, der aus Genußsucht auch kriminelle Rache übt an der westlichen Kulturhoheit. Doch wäre ein Mann, der eine Million Dollar zahlt für einen Ausriß Notenpapier mit Mozarts letztem Musiziergebot "quam olim d: c:" ("Wie einstmals noch einmal"), wohl auch in Japan eher ein Fall für die Psychiatrie als für den Schwarzmarkt. Sowenig Feldt die ihm zugedachte Biografie je mit Leben erfüllt, so blaß geraten seine Widersacher und Betreuer.
Die Plausibilität der Handlung und seiner Figuren scheint Gerhard Roth nicht sonderlich zu interessieren. Marionettenhaft leihen sie Vorwände für Japan-Impressionen des Autors. Nicht einmal mit dem Wetter nimmt Roth es genau. Unmittelbar nach Feldts Ankunft in Tokio läßt er dort in derselben Szene, "obwohl es Herbst war . . ." (gewöhnlich taifunnaß und warm) und es allenthalben grünt, Eisblumen an Fenstern wachsen und bald Schnee fallen. Um einen Traum oder Halluzinationen Feldts kann es sich bei dem Bühnenwetter kaum handeln, denn der Roman gibt sich handfest erzählt, nicht versponnen assoziiert.
So unbegreiflich wie das Frösteln und Schwitzen erscheinen häufig die Motive der Figuren. Allen voran befremdet Konrad Feldt, dessen zugeschriebene Kenntnisse über Japan zwischen Ignoranz und Abgeklärtheit schwanken wie seine unbewiesenen Eigenschaften. Wie jeden Touristen erstaunen ihn die Pachinko-Spielhallen, Kunststoffspeisen in Restaurantvitrinen, selbstöffnende Taxitüren, das elaborierte Reinigungsritual in den heißen Quellen, Tempel, Gräber, Sushi vom Fließband, die Bilderrätsel der Reklameschriften. Alles das ist in Ordnung, auch wenn einige Beobachtungen wie Kulissenschieberei knirschen und die Szene, in der Feldt am Strand dem Muscheln sammelnden Kaiser begegnet, ins Märchenreich gehört.
Doch wer, der sich unversehens in ein "unentdecktes Reich mit unzähligen Siegeln" geworfen findet, murmelt andererseits ein erlesenes Haiku oder "denkt an eine Zeile des Tao Te King oder an eine Zenweisheit". Ein Wiener Bücherwurm, der Seide spinnt? Hinreißend erzählt, doch nicht minder unvermittelt ist die Wandlung des müden Bibliophilen zum unwiderstehlichen "gaijin lover", der seine germanistisch geschulte Führerin Sato-san auf dem Autorücksitz durch bloßes Hand-auf-Hand-Legen erobert. Nicht, daß das nicht vorkäme: Nur gibt Roth keinen Anlaß, es Konrad Feldt zuzutrauen.
Das nämliche gilt für seine ungestüm reifende Berufung zum Gangster. Die Geistesgegenwart, mit der Feldt nach dem ersten Schuß bei einem Attentat auf Dr. Hayashi in stockfinsterem Haus zu Boden stürzt, und "obwohl er keine Erfahrung mit Waffen hatte, in die Richtung zurückschoß, aus der er die Explosion gehört hatte", wäre selbst in Hollywoods B-Pictures zu kurios, um den letzten Schnitt zu überstehen. Cool wischt Feldt Fingerabdrücke von der Waffe, folgt Blutspuren, fürchtet weder bewaffnete Verfolger noch Erdbeben, als sei er schon immer nebenher Killer, wenigstens Detektiv gewesen. Man wird nicht klug aus ihm.
Nun hat sich Gerhard Roth schon häufig in seinen Büchern die Freiheit genommen, seine Leser nicht zu umwerben mit übertrieben einleuchtenden Handlungsmotiven. Und bisweilen ist auch hier der facettierte Insektenblick, mit dem er, über den Dingen schwirrend, Handlungsstränge beschaut, Beziehungsloses bestäubt und Winziges vergrößert, von wunderbarer Suggestion. Immer dann nämlich, wenn er Feldt sorgfältige botanische Studien treiben, Berglandschaften durchfahren, in Krater absteigen läßt. Beiläufige Beobachtungen wie das erschütternde Papierrascheln eines den Vortrag mitlesenden japanischen Auditoriums beleben die Szenen unendlich mehr als die literarischen Kettenreaktionen, die Feldt gelegentlich zu Kopf steigen. Für den Leser nimmt Feldt aber nicht durch seine Erinnerung an Bruegel-Gemälde oder Lesefrüchte Gestalt an, sondern durch sein Asthma.
Ausgerechnet die immer wiederkehrenden Anfälle, die der ehemalige Medizinstudent Roth schrecklich sachlich diagnostiziert, und die glückselige Erleichterung, die der Kranke einmal durch einen Arzt und am Ende durch eine Kugel in seiner Brust spürt, lassen Konrad Feldt aufleben. Eher mit zwiespältigem Neid nähert man sich dagegen den beiden sexuellen Affären des Ausländers mit Japanerinnen. Während der begnadete Voyeur die lustvolle Unnahbarkeit der Frauen beschreibt - beide, obwohl nur eine dafür bezahlt wurde, lassen ihre Körper so herzenskalt liebkosen und folgenlos besitzen, wie sie essen oder schlafen -, klingt seine Bewunderung für ein "so zartes, so liebliches Ohr" oder gar für "leichtfüßigen Trippelschritt", der angeblich allen Japanerinnen eigen ist, nach "Madame Butterfly" in einer Kleinstadtaufführung.
Plausibilität des Plots und Charakterstärke der Protagonisten sind nicht die einzigen Zutaten in einem Kriminalroman. Was aber soll der Leser des "Plans" noch glauben, wenn beim Showdown, der Geldübergabe für den Fetzen Mozart, im südjapanischen Kumamoto der Gangster beim Feiern des Geschäfts einschläft wie ein Säugling und sich Geld wie Ware abnehmen läßt. Dr. Chiba, ein ganzkörpertätowierter Yakuza, zweifelos erfahren im Umgang mit Schußwaffen und Assistent des ermordeten Dr. Hayashi, erweist sich nicht nur als Tölpel, der beim Geschäft seines Lebens vergißt, daß er keinen Alkohol verträgt. Dem betrunkenen Dr. Chiba, der glaubwürdig prahlt, daß er Feldt "tausendmal" hätte töten lassen können, gelingt Roth zuliebe ein physiologisch-transzendentales Kunststück: "Lachend ließ er sich nach hinten fallen und fing augenblicklich zu schnarchen an."
So einfach, so absurd ist das. Kurz darauf wird Dr. Chiba bei einem Erdbeben von herabstürzenden Balken praktischerweise ganz erledigt. Konrad Feldt, ohne Schuhe, aber ansonsten stolz, einen "kriminellen Geschäftsmann hereingelegt" zu haben, flieht in das Chaos mit Mozart und dem Geldkoffer. Zwei Polizisten halten ihn nahe einem zerstörten Juweliergeschäft für einen Plünderer und erschießen Feldt auf der Stelle. Unbeeindruckt davon, daß diese Schüsse auf einen Ausländer nirgendwo unwahrscheinlicher sind als in Japan, denkt der sterbende Feldt "leb wohl!", den Mozartfetzen in der Hand. Die Polizisten untersuchen den Koffer voller Dollarscheine und beschließen, die Leiche zu plündern. "Währenddessen fiel ein kleines Stück Papier unbemerkt aus der Hand des Gaijin in den aufgewühlten Straßenstaub und verschwand im Schmutz und der Dunkelheit der Nacht."
Konrad Feldt aber ist nicht umzubringen, denn man hat ihn nur denken, nie leben lassen. Nicht in der Wiener Bibliothek und nicht in Japan. Sein Erzähler hat ihn entmündigt, lange bevor er dort ankam.
Gerhard Roth: "Der Plan". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 301 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main