Ein Mensch, der von Geburt an praktisch blind ist, versucht seiner Umwelt mit allen Mitteln vorzuspielen, daß er sehen kann. Unter Lebensgefahr fährt er Fahrrad, lernt skifahren, reist um die Welt. Was sich wie eine Zeitungsente liest, ist die ebenso wahre wie wahnwitzige Geschichte von Stephen Kuusisto, dem erst im Alter von fünfunddreißig Jahren die Begegnung mit Blindenhund Corky zeigt, wie vielseitig auch das Leben auf dem Planeten der Blinden sein kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998Der wohlgemute Sänger
Auch ohne seine Sehkraft ist Stephen Kuusisto das Leben nicht verleidet / Von Sonja Zekri
Der Planet der Blinden kann überall liegen. Auch in der Grand Central Station. Dem blinden Schriftsteller und seinem gelben Labrador scheint der Bahnhof wie eine verzauberte Landschaft "mit schwankenden tannengrünen Dunkelheiten und den plötzlich auftauchenden Tümpeln aus rosafarbenem Licht". Die Menge hastet vorbei. Die vollkommene Harmonie der Bewegungen, "die perfekte Haltung des Hundes, der aufrechte Gang des Mannes", umgibt beide wie ein Nimbus. Sie sind ohne Angst und unverwundbar: Der Planet der Blinden ist ein Elysium, in dem die Bewohner ihre Blindheit ohne Furcht annehmen können. Der Amerikaner Stephen Kuusisto braucht mehr als dreißig Jahre, bis er dort ankommt, und dann hat sich nicht die Welt verwandelt, sondern seine Einstellung.
Kuusisto ist blind von Geburt an, wegen einer Netzhautschädigung sieht er auf einem Auge gar nichts, auf dem anderen nur fünf Prozent. Beide Augäpfel zucken unkontrolliert wie Pingpongbälle. Doch eine der größten Überraschungen, die dieser erstaunliche Mann dem Leser bereitet, ist die Mitteilung, daß er die Welt zwar wie durch dicke Scherben wahrnimmt - aber was er sieht, ist wunderschön. In seinem Universum verschwinden Formen und Farben hinter neuen aufregenden Figuren. Menschen schimmern wie Bienenkörbe, Restaurants wie Flächen aus Rauch, Silberfäden und waberndem Grün: "Es ist, als ob man in einem riesigen abstrakten Gemälde lebt." Sehen heißt nicht nur erkennen, sondern auch sinnlich genießen. Kuusisto genießt um so mehr, je weniger er erkennt.
Seine Mutter aber, labil und exzentrisch, wollte ihm ein Leben als Behinderter ersparen. Er sollte aufwachsen wie ein Junge, der sehen kann. Warum er dieses Spiel mitgespielt hat, wie es seine Lebensaufgabe wurde, so zu tun, als ob er sehen könnte, das beschreibt Kuusisto nicht als Prozeß einer seelischen Deformierung, sondern als schlechterdings unglaubliche Geschichte. Er fährt Fahrrad und Ski, ohne den Weg zu erkennen, spielt Basketball, ohne zu wissen, wo der Ball und die Körbe waren. Die Schule durchleidet er mehr, als daß er sie durchlebt. Nachts schleicht er ins Naturkunde-Museum, um die ausgestopften Vögel zu streicheln. Er kann kein Straßenschild lesen, reist aber unter Todesängsten nach Finnland, Spanien und Griechenland. In Athen steht er mit brennenden Augen in der Sonne und muß sich vor Schmerzen hinter einer Säule übergeben. Seine Anspannung entlädt sich in Selbstzerstörung: Kuusisto zupft sich die Augenbrauen aus, reißt sich die Haare vom Kopf, aus dem Bart, von der Brust. Er ißt, bis er plump und dick wird, hungert sich später fast zu Tode, trinkt, raucht, nimmt Drogen und Tabletten. "Ich empfinde keine Zuneigung zu meinem Leben", schreibt er spröde. Doch solche bitteren Momente sind selten. Denn sein Buch ist der Triumph einer großen Leidenschaft. Kuusisto liebt Literatur. Er liest wie ein Ertrinkender, greift wahllos nach Gedichten, Märchen, Romanen. Die Gedanken fremder Dichter erweitern seine begrenzte Welt. Den Rücken krumm, die Nase auf die Seite gedrückt, versucht er, die zuckenden Augäpfel auf ein Wort zu richten. Es gibt nicht viele Menschen, die so für das Wort gelitten haben. Mit jeder Faser seines Körpers kämpft er den ewigen Kampf um Wissen und Erkenntnis. "Jede Silbe wird unter Schmerzen geboren", schreibt er, und einmal entziffert, hegt er sie wie ein Kleinod. Daß er sein Buch mit Zitaten von Robert Bly und Wallace Stevens schmückt, verrät nicht Bildungsstolz, sondern Erstaunen, daß auch er der Anmut der Sprache teilhaftig ist. Gedichten nähert er sich wie einer Frau beim ersten Mal - "mit Hingabe und Ehrfurcht".
Kuusisto ist begabt. Nach dem College erhält er einen Platz im Graduiertenkolleg für junge Dichter, später ein Fullbright-Stipendium in Helsinki. Er sieht sich als Märtyrer der Kunst, als "blinder Poet", und auf dieser Selbststilisierung ruht sein Selbstvertrauen. Als er ausgerechnet beim Lesen völlig erblindet, weil ihm ein Lesezeichen in sein gesundes Auge springt, liegt der Gedanke an die Unerbittlichkeit einer antiken Tragödie auf der Hand. Es ist seine Katharsis und das Ende seiner Lebenslüge. Wie er sich langsam an die Wirklichkeit herantastet, den weißen Stock und die Hilfe fremder Menschen annehmen lernt, das beschreibt er in der zweiten Hälfte des Buches. Dieser Reifeprozeß gipfelt in der Anschaffung eines Blindenhundes, der gelben Labrador-Dame Corky.
Wochen des Trainings in einer Blindenschule vergehen bis zum ersten Treffen der beiden. Wie Corky dem blinden Schriftsteller dann entgegenläuft, wie er ihr Fell berührt und begreift, daß er künftig nicht mehr allein durchs Leben gehen muß, das beschreibt er mit dankbarer Überwältigung. Es ist die schönste Szene des Buches, der Moment, auf den Kuusisto seine Autobiographie ausgerichtet hat. Die Ankunft auf dem Planeten der Blinden.
Stephen Kuusisto hat sich in einem einzigen gewaltigen Wurf sein Leben von der Seele geschrieben. Sein Debüt ist das Protokoll einer Befreiung. Seine Liebe zur Lyrik steckt in jeder Zeile, offenbart sich in den Wiederholungen und Variationen der Motive, dem Rhythmus, den er leichthändig wechselt von der Elegie zum fiebrigen Stakkato, der expressiven Bildersprache, die direkt aus jenem anderen Universum der Blinden stammen könnte. Sein Stil ist überreizt, kühn und selbstironisch wie seine rastlose Phantasie. Er findet sich "fett wie Ts'ehsi, die Witwe des Kaisers von China", oder "hager und intensiv wie John Lennon". Längst ist ihm die literarische Überhöhung zum Reflex geworden, um die feindselige Welt zu bewältigen. Beliebige Reize lösen Assoziationen aus, um ganze Bücher zu füllen: "Ich sehe die Blindenschule vor mir als altmodische Institution hoch oben auf einem Hügel, umgeben von einem eisernen Zaun. Es ist ein Schauplatz wie bei Dickens, und in der fiktiven Abstraktheit erschreckt er mich."
Kuusisto umrahmt sein Leben mit Fragmenten der Blindengeschichte seit der Antike, von Teiresias bis zu seinen finnischen Großvätern. Er ist fasziniert von der mythologischen Idee, daß die Augenlosen für den Verlust ihrer Sehkraft mit besonderen geistigen Fähigkeiten entschädigt werden. Blinde sind Auserwählte, außergewöhnliche Existenzen. Ob als Weise oder als Narren.
Stephen Kuusisto: "Der Planet der Blinden". Aus dem Amerikanischen von Ute Hempen. Karl Blessing Verlag, München 1998. 256 S., geb., 34,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch ohne seine Sehkraft ist Stephen Kuusisto das Leben nicht verleidet / Von Sonja Zekri
Der Planet der Blinden kann überall liegen. Auch in der Grand Central Station. Dem blinden Schriftsteller und seinem gelben Labrador scheint der Bahnhof wie eine verzauberte Landschaft "mit schwankenden tannengrünen Dunkelheiten und den plötzlich auftauchenden Tümpeln aus rosafarbenem Licht". Die Menge hastet vorbei. Die vollkommene Harmonie der Bewegungen, "die perfekte Haltung des Hundes, der aufrechte Gang des Mannes", umgibt beide wie ein Nimbus. Sie sind ohne Angst und unverwundbar: Der Planet der Blinden ist ein Elysium, in dem die Bewohner ihre Blindheit ohne Furcht annehmen können. Der Amerikaner Stephen Kuusisto braucht mehr als dreißig Jahre, bis er dort ankommt, und dann hat sich nicht die Welt verwandelt, sondern seine Einstellung.
Kuusisto ist blind von Geburt an, wegen einer Netzhautschädigung sieht er auf einem Auge gar nichts, auf dem anderen nur fünf Prozent. Beide Augäpfel zucken unkontrolliert wie Pingpongbälle. Doch eine der größten Überraschungen, die dieser erstaunliche Mann dem Leser bereitet, ist die Mitteilung, daß er die Welt zwar wie durch dicke Scherben wahrnimmt - aber was er sieht, ist wunderschön. In seinem Universum verschwinden Formen und Farben hinter neuen aufregenden Figuren. Menschen schimmern wie Bienenkörbe, Restaurants wie Flächen aus Rauch, Silberfäden und waberndem Grün: "Es ist, als ob man in einem riesigen abstrakten Gemälde lebt." Sehen heißt nicht nur erkennen, sondern auch sinnlich genießen. Kuusisto genießt um so mehr, je weniger er erkennt.
Seine Mutter aber, labil und exzentrisch, wollte ihm ein Leben als Behinderter ersparen. Er sollte aufwachsen wie ein Junge, der sehen kann. Warum er dieses Spiel mitgespielt hat, wie es seine Lebensaufgabe wurde, so zu tun, als ob er sehen könnte, das beschreibt Kuusisto nicht als Prozeß einer seelischen Deformierung, sondern als schlechterdings unglaubliche Geschichte. Er fährt Fahrrad und Ski, ohne den Weg zu erkennen, spielt Basketball, ohne zu wissen, wo der Ball und die Körbe waren. Die Schule durchleidet er mehr, als daß er sie durchlebt. Nachts schleicht er ins Naturkunde-Museum, um die ausgestopften Vögel zu streicheln. Er kann kein Straßenschild lesen, reist aber unter Todesängsten nach Finnland, Spanien und Griechenland. In Athen steht er mit brennenden Augen in der Sonne und muß sich vor Schmerzen hinter einer Säule übergeben. Seine Anspannung entlädt sich in Selbstzerstörung: Kuusisto zupft sich die Augenbrauen aus, reißt sich die Haare vom Kopf, aus dem Bart, von der Brust. Er ißt, bis er plump und dick wird, hungert sich später fast zu Tode, trinkt, raucht, nimmt Drogen und Tabletten. "Ich empfinde keine Zuneigung zu meinem Leben", schreibt er spröde. Doch solche bitteren Momente sind selten. Denn sein Buch ist der Triumph einer großen Leidenschaft. Kuusisto liebt Literatur. Er liest wie ein Ertrinkender, greift wahllos nach Gedichten, Märchen, Romanen. Die Gedanken fremder Dichter erweitern seine begrenzte Welt. Den Rücken krumm, die Nase auf die Seite gedrückt, versucht er, die zuckenden Augäpfel auf ein Wort zu richten. Es gibt nicht viele Menschen, die so für das Wort gelitten haben. Mit jeder Faser seines Körpers kämpft er den ewigen Kampf um Wissen und Erkenntnis. "Jede Silbe wird unter Schmerzen geboren", schreibt er, und einmal entziffert, hegt er sie wie ein Kleinod. Daß er sein Buch mit Zitaten von Robert Bly und Wallace Stevens schmückt, verrät nicht Bildungsstolz, sondern Erstaunen, daß auch er der Anmut der Sprache teilhaftig ist. Gedichten nähert er sich wie einer Frau beim ersten Mal - "mit Hingabe und Ehrfurcht".
Kuusisto ist begabt. Nach dem College erhält er einen Platz im Graduiertenkolleg für junge Dichter, später ein Fullbright-Stipendium in Helsinki. Er sieht sich als Märtyrer der Kunst, als "blinder Poet", und auf dieser Selbststilisierung ruht sein Selbstvertrauen. Als er ausgerechnet beim Lesen völlig erblindet, weil ihm ein Lesezeichen in sein gesundes Auge springt, liegt der Gedanke an die Unerbittlichkeit einer antiken Tragödie auf der Hand. Es ist seine Katharsis und das Ende seiner Lebenslüge. Wie er sich langsam an die Wirklichkeit herantastet, den weißen Stock und die Hilfe fremder Menschen annehmen lernt, das beschreibt er in der zweiten Hälfte des Buches. Dieser Reifeprozeß gipfelt in der Anschaffung eines Blindenhundes, der gelben Labrador-Dame Corky.
Wochen des Trainings in einer Blindenschule vergehen bis zum ersten Treffen der beiden. Wie Corky dem blinden Schriftsteller dann entgegenläuft, wie er ihr Fell berührt und begreift, daß er künftig nicht mehr allein durchs Leben gehen muß, das beschreibt er mit dankbarer Überwältigung. Es ist die schönste Szene des Buches, der Moment, auf den Kuusisto seine Autobiographie ausgerichtet hat. Die Ankunft auf dem Planeten der Blinden.
Stephen Kuusisto hat sich in einem einzigen gewaltigen Wurf sein Leben von der Seele geschrieben. Sein Debüt ist das Protokoll einer Befreiung. Seine Liebe zur Lyrik steckt in jeder Zeile, offenbart sich in den Wiederholungen und Variationen der Motive, dem Rhythmus, den er leichthändig wechselt von der Elegie zum fiebrigen Stakkato, der expressiven Bildersprache, die direkt aus jenem anderen Universum der Blinden stammen könnte. Sein Stil ist überreizt, kühn und selbstironisch wie seine rastlose Phantasie. Er findet sich "fett wie Ts'ehsi, die Witwe des Kaisers von China", oder "hager und intensiv wie John Lennon". Längst ist ihm die literarische Überhöhung zum Reflex geworden, um die feindselige Welt zu bewältigen. Beliebige Reize lösen Assoziationen aus, um ganze Bücher zu füllen: "Ich sehe die Blindenschule vor mir als altmodische Institution hoch oben auf einem Hügel, umgeben von einem eisernen Zaun. Es ist ein Schauplatz wie bei Dickens, und in der fiktiven Abstraktheit erschreckt er mich."
Kuusisto umrahmt sein Leben mit Fragmenten der Blindengeschichte seit der Antike, von Teiresias bis zu seinen finnischen Großvätern. Er ist fasziniert von der mythologischen Idee, daß die Augenlosen für den Verlust ihrer Sehkraft mit besonderen geistigen Fähigkeiten entschädigt werden. Blinde sind Auserwählte, außergewöhnliche Existenzen. Ob als Weise oder als Narren.
Stephen Kuusisto: "Der Planet der Blinden". Aus dem Amerikanischen von Ute Hempen. Karl Blessing Verlag, München 1998. 256 S., geb., 34,90 DM.
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