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Goscha, der Sohn eines unter Stalin Verfolgten, kämpft mit allen Mitteln um einen Platz in der Gesellschaft und in der Geschichte. Doch am Ende bleibt ihm ein bescheidener Arbeitsplatz unter den kleinen Angestellten der Staatsmaschine. Das Schicksal von Goscha in der Zeit der Chrustschowschen Reformen ist Sinnbild für das Schicksal des ganzen Landes, das bereits damals all das erkennen ließ, was zum heutigen Chaos geführt hat. "Gorenstein gebietet virtuos über eine weitgefächerte Ausdrucksskala. Unterschwellig sind stets hintergründiger Witz, wüste Satire, bissige Komik, ironische…mehr

Produktbeschreibung
Goscha, der Sohn eines unter Stalin Verfolgten, kämpft mit allen Mitteln um einen Platz in der Gesellschaft und in der Geschichte. Doch am Ende bleibt ihm ein bescheidener Arbeitsplatz unter den kleinen Angestellten der Staatsmaschine. Das Schicksal von Goscha in der Zeit der Chrustschowschen Reformen ist Sinnbild für das Schicksal des ganzen Landes, das bereits damals all das erkennen ließ, was zum heutigen Chaos geführt hat. "Gorenstein gebietet virtuos über eine weitgefächerte Ausdrucksskala. Unterschwellig sind stets hintergründiger Witz, wüste Satire, bissige Komik, ironische Verschmitzheit, verwegene Skurrilität, melancholischer Sarkasmus präsent." FAZ.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Allrussische Ohrfeigen
Den Schubladen entkommen: Zwei Romane Friedrich Gorensteins / Von Konrad Fuhrmann

Warum habt ihr eigentlich Ukraine und Rußland vereinigt", schimpft der enttäuschte Reisende vor einem Schalter des Kiewer Hauptbahnhofs, "wenn es von Kiew nach Moskau prinzipiell keine Plätze gibt?" Dieser Zusammenschluß war ein historischer Irrweg, befindet auch der Moskauer Satiriker Sabrodski, Ich-Erzähler von Friedrich Gorensteins Roman "Reisegefährten". Als sich die Ukraine 1648 unter Bogdan Chmelnizki gegen die polnisch-litauische Herrschaft erhob und Moskau anschloß, sei ein Staat verschachert worden, "der ein slawisches Deutschland oder Frankreich hätte werden können".

Sabrodski reist nach Sdolbunow in der Westukraine im Post- und Personenzug Nr. 27, der vom Kiewer Vorortbahnhof "mit seinem heidnischen Waldsteppenkult von Speck und Knoblauch" abfährt - nicht vom Hauptbahnhof, den der sowjetische Spießer besetzt hält, um einen der raren Schnellzugplätze zu erkämpfen.

In der russischen Literatur spielt die Eisenbahn eine wichtige Rolle: Bahnhof und Zugabteil lösten Poststation und Kutsche als Orte epischer Integration, als Treffpunkte von Menschen unterschiedlichster geographischer und sozialer Herkunft ab. In Gorensteins Roman, der 1989 erschien und nun auch auf deutsch vorliegt, geht die Reise durch Raum und Zeit: durch die ukrainische Provinz, durch Orte mit Namen wie Bogujki, Paripsy und Popelnja, die auch in russischen Ohren lustig klingen, durch die liebliche kleinrussische Landschaft und durch die Tragödien der jüngsten ukrainischen Geschichte. Bei Gorenstein fungiert der Zug als vielschichtige Metapher: er ist Symbol der Nachkriegszeit, als der Zug der Geschichte in der bleiernen Landschaft des Spätstalinismus gleichsam stillstand und nur der Wechsel der Fahrgäste die Bewegung anzeigte, ebenso wie existentielles Signum für Veränderung und Hoffnung und für die Erinnerung, die sich im nostalgischen Blick auf die vorbeifliegende "Provinzsilhouette" der verlorenen Kindheit manifestiert; der "trübselige alte Post- und Personenzug", den die Stalinschen Schnellzüge hinter sich lassen, befördert ukrainische Identität.

"Der 22. Juni 1941 war der schwärzeste Tag meines Lebens", erklärt der hinkende Abteilnachbar des Erzählers. An diesem Tage, so die sonderbare Begründung, habe er von der Ablehnung seines autobiographischen Dramas "Hinkebein" erfahren. Sabrodskis Interesse ist geweckt, und er wird zum leidenschaftlichen Zuhörer und Mitschöpfer der grotesken Lebensgeschichte seines Reisegefährten Sascha Tschubinez. Tschubinez überlebt die Zwangskollektivierung der dreißiger Jahre, der Millionen Ukrainer zum Opfer fielen, als Gehilfe eines Schwarzhändlers, der Fleisch verschiebt - Menschenfleisch, wie der entsetzte Jugendliche erfährt, als er selbst zu Frikadellen verarbeitet werden soll. Tschubinez entgeht diesem Los mit Hilfe seiner Krücke und schreibt, von einem Theatererlebnis inspiriert, das Drama. Von der Ablehnung durch ein Moskauer Theater zutiefst gekränkt, vergräbt sich "Hinkebein" in sein Kellerloch und verschläft den deutschen Angriff.

Das Schicksal des Sascha Tschubinez bis zu den Verfolgungen der Nachkriegszeit - als angeblicher Kollaborateur verbringt er sieben Jahre in Haft - steht für Millionen beschädigter und zerstörter Leben in einem geschundenen Land. Der Lebensbericht ist auf meisterhafte Weise mit der Rahmenerzählung verwoben: Landschaftseindrücke, kleine Zwischenfälle unterwegs und Erzählerkommentare liefern den Kontrapunkt zu der rauhen Melodie vom gemarterten Menschen. Mit einer Haltung, die zwischen ironischer Distanz und tiefer menschlicher Anteilnahme schwankt, versucht Gorenstein, die Schrecken unseres Jahrhunderts zu bannen. Allerdings hat der Autor seinen Helden etwas zuviel thematisches Gepäck auf ihre kurze Reise mitgegeben - Schicksal und Schöpfertum, Ukraine und Rußland, Judentum und Antisemitismus -, und auch das Finale überzeugt nicht restlos: hier fehlt die Pointe, die der ansonsten rundum gelungenen, leicht dahinrollenden Eisenbahngeschichte zu letzter Geschlossenheit verholfen hätte.

Von ganz anderem Gewicht und Format ist Friedrich Gorensteins monumentaler Zeitroman "Der Platz". Der zwischen 1969 und 1972 verfaßte und 1976 ergänzte Roman hatte in der Sowjetunion keinerlei Aussichten auf Veröffentlichung; sein Druck erfolgte erst 1991. Warum wurde diese umfassendste und wichtigste Abrechnung mit der Tauwetterperiode gegen Ende der fünfziger Jahre, dem entfernten Vorspiel der Perestrojka, erst vier Jahre nach ihrem Erscheinen ins Deutsche übersetzt, obwohl der Autor seit 1981 in West-Berlin lebt?

In dem "Politischen Roman aus dem Leben eines jungen Mannes", so der Untertitel, der in der deutschen Ausgabe leider unter den Tisch fiel, hat Gorenstein seine traumatischen Jugenderlebnisse und Erfahrungen als Rehabilitierter während der Chruschtschow-Zeit verarbeitet. Der Vater des 1932 in Kiew geborenen Friedrich Naumowitsch Gorenstein, Wirtschaftsprofessor und leitender KP-Funktionär, wird 1935 verhaftet und erschossen; die Mutter entzieht sich der Hinrichtung durch Flucht und überlebt in Verstecken; 1941 stirbt auch sie. Als Sohn eines "Volksfeindes" muß sich Gorenstein nach dem Kriege mit Lügen und Tricks durchmogeln. Er ist zunächst als Bauarbeiter und dann als Bergbauingenieur tätig; gleichzeitig beginnt er zu schreiben. 1962 nimmt er an Kursen für Drehbuchautoren teil und verdient anschließend seinen Lebensunterhalt mit Drehbüchern, darunter zu so bekannten Filmen wie "Solaris" von Andrej Tarkowski. 1979 verläßt Gorenstein die Sowjetunion.

Wie sein Autor ist der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans, Goscha Zwibyschew, Sohn eines Stalin-Opfers und damit als rechtloser Paria aus der siegestrunkenen Sowjetgesellschaft der Nachkriegszeit ausgeschlossen. Sein ganzes Sinnen und Trachten gilt dem "Platz", der schäbigen Schlafstelle in einem schmuddeligen Arbeiterwohnheim, die er nur dank der Interventionen eines ihn demütigenden Gönners halten kann. Der Kampf um diesen ständig von den Intrigen zahlloser bürokratischer und persönlicher Feinde bedrohten Platz nimmt alle seine Kräfte in Anspruch und formt seinen Charakter. Goscha zeichnet von sich das Bild eines in seiner Entwicklung gehemmten, extrem selbstbezogenen jungen Mannes, dessen prekäre Existenz ihn zu fortwährenden Berechnungen zwingt - bei der Bewältigung des Alltags ebenso wie im Verhältnis zu anderen Menschen: "die gesellschaftliche Nichtigkeit meiner Eltern, besonders, wie ich meinte, im siegreichen Nachkriegsjahr, führte zu Verlogenheit, der ständige Bedarf an Unterstützung von außen führte zum Mangel an Uneigennützigkeit in meinen Beziehungen zu anderen Menschen".

Goschas völlige Abhängigkeit von unzuverlässigen Gönnern hat sein Gespür für menschliche Beziehungen geschärft - mit dem kühlen Blick eines Schachspielers analysiert er das Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten und geheimer Motive, um die nächsten Züge seiner Gegenspieler zu errechnen. Sein Hang zur quälenden Selbstanalyse weist Zwibyschew als Nachfahren jener Hamlet-Figuren aus, von denen die russische Literatur um die Mitte des 19. Jahrhunderts wimmelte. Wie viele Gestalten Dostojewskis kompensiert er seine Ohnmacht mit einer großartigen "Idee", die allmählich Gestalt gewinnt: er will Rußland beherrschen.

Goscha hat seine Arbeit auf dem Bau verloren und droht auch in seinem Kampf um den Schlafplatz zu unterliegen - da erreicht ihn ganz unerwartet die Nachricht von der Rehabilitierung seines Vaters, eines ehemaligen Offiziers. Die zuständige Behörde stellt ihm die Rückgabe von Wohnung und Vermögen seiner Eltern in Aussicht. In der ersten Aufwallung seiner Gefühle stürmt Goscha in eine Bezirksstaatsanwaltschaft, rügt das an der Wand hängende Stalinbild und wird routiniert abgefertigt - was er für einen persönlichen Akt gehalten hatte, war damals weitverbreitet: Rehabilitierte drangen plötzlich in Justizbehörden ein und beschimpften das Personal.

Die Euphorie endet bald mit herben Enttäuschungen; Goscha bekommt weder Wohnung noch Vermögen zurück; die Beamten, die der "Chruschtschowerei" ohnehin ablehnend gegenüberstehen, verschanzen sich hinter teilweise abstrusen Paragraphen. So löst die Rehabilitierung keines der drängenden Alltagsprobleme Zwibyschews. Dafür hat sie einen neuen Menschen aus ihm gemacht; seine frühere Fähigkeit, sich anzupassen und Kränkungen einzustecken, ist dahin. Eine neue Phase im Leben Zwibyschews, der Kampf um den Platz in einer feindlichen Gesellschaft, beginnt. Denn das Volk, das seinem Idol Stalin, dem strahlenden Sieger über die deutschen Invasoren, nachtrauert, nimmt die Politik Chruschtschows mit Erbitterung auf und steht den Leiden der ehemaligen GULag-Häftlinge, der aus der von Stalin geschaffenen "starken, klaren Gesellschaft" ein für allemal Ausgeschlossenen, verständnislos gegenüber.

Mit seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag erschütterte Chruschtschow Staat und Gesellschaft der Sowjetunion in ihren Grundfesten. Und wieder, wie während des Tauwetters unter Zar Alexander II. ein Jahrhundert zuvor, suchen Dämonen Rußland heim: nach einer ersten Phase der Salons, des Streits, der Polemik und Skandale gehen extreme Gruppen, die wie Pilze aus dem Boden schießen - slawophile antisemitische Antistalinisten und antisemitische Neostalinisten, Altstalinisten und russische Nationalsozialisten (mehr oder weniger offen gepredigter Judenhaß ist fast allen gemeinsam) -, zur terroristischen Aktion über.

Nachdem Zwibyschew eine Weile vergeblich gehofft hatte, die Gesellschaft werde ihre Schuld ihm gegenüber eingestehen und ihn, den sich nach einer "offiziellen Existenz, bis hin zum Heldentod" Sehnenden, aufnehmen, erwachen Rachegefühle in ihm, und er sucht seinen "Platz unter den Dürstenden". Goscha schließt sich einer Gruppe an, die stalinistische Täter "zum Tode verurteilt" und verprügelt; diese Aktionen gipfeln zunächst in einer "allrussischen und weltweiten Ohrfeige", die die von Chruschtschow entmachtete einstige Nummer Zwei der UdSSR, Wjatscheslaw Molotow, empfängt. Später zeigt sich, daß Schtschussew, der fanatische Führer der Zelle, viel weiter reichende Ziele verfolgt. Als ihm die Verhaftung droht, kennt der nun gänzlich zum Zyniker gewandelte Zwibyschew keine Hemmungen, unter den Dienenden Platz zu nehmen - er stellt sich dem KGB zur Verfügung.

Der Werdegang Goscha Zwibyschews, dessen Suche nach einem "Platz unter den Lebenden" in dem Entschluß mündet, zum Chronisten zu werden, ist eingebettet in ein umfassendes Tableau der posttotalitären sowjetischen Gesellschaft unter Chruschtschow. Wir begegnen stalintreuen Spießern und zeitlosen Bürokraten, reuigen Intellektuellen aus Stalins "literarischem Harem" (Stalin zog talentierte Autoren unfähigen Schönfärbern vor) und extremen Jugendlichen aller Schattierungen, den Naiven und den Heuchlern, die auch hier die Szene beherrschen. Wir erhalten tiefe Einblicke in die Funktionsweise des Systems, den Konflikt zwischen der hohen Sprache der politischen Ideologie und dem "Gossenjargon" der Praxis, der den triumphalistischen Spätstalinismus unterminierte, und die Beweggründe Chruschtschows, der das System ja nicht zerstören, sondern retten wollte.

Die Synthese von Entwicklungs- und Zeitroman führt allerdings zu einer etwas vagen Erzählergestalt, die bald die eingeengte Perspektive des unmittelbar in das Geschehen eingebundenen Zeitgenossen erkennen läßt, bald aus der Position eines allwissenden Erzählers urteilt.

Meisterhaft ist es Gorenstein hingegen gelungen, die Fülle seines Stoffs zu bändigen: In einem dichten Netz von Vorausdeutungen, Vorgriffen und Rückblenden, Anspielungen und Metaphern fügt er die komplexen Geschehnisse zusammen. Hier wie auch in der Figurenzeichnung knüpft Gorenstein an die Romane Dostojewskis an, vor allem an "Die Dämonen", auf die "Der Platz" auch direkt anspielt (so heiratet Goscha die vergewaltigte Mascha, die Personifizierung des von seinen Herrschern vergewaltigten Rußlands, um "fremde Sünden zu vertuschen"). Dostojewskis Weltanschauung, seinen Dogmatismus bekämpft Gorenstein jedoch - man kann den "Platz" auch als große Polemik gegen Dostojewski lesen.

Daß Gorensteins Roman vor mehr als zwanzig Jahren entstand, erscheint angesichts der beklemmenden Analogie der dort geschilderten Vorgänge mit der Perestrojka und den Entwicklungen in Rußland nach dem Ende der Sowjetunion kaum glaublich. Ahnte Friedrich Gorenstein, als er das Manuskript auch nach seiner Übersiedlung in den Westen nicht gleich aus der Schublade holte, daß sein Werk im Laufe der Zeit nur an Aktualität gewinnen konnte?

Friedrich Gorenstein: "Reisegefährten". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Sylvia List. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1995. 256 S., geb., 38,- DM.

Friedrich Gorenstein: "Der Platz". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Renate und Thomas Reschke. Aufbau Verlag, Berlin 1995. 1211 S., geb., 68,- DM.

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