Nobelpreis für Literatur 2022
Ihr Vater stirbt, und Annie Ernaux nimmt das zum Anlass, sein Leben zu erzählen: Um die Jahrhundertwende geboren, musste er früh von der Schule abgehen, war zunächst Bauer, dann, bis zum Todesjahr 1967, Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens in der Normandie, die körperliche Arbeit ließ ihn hart werden gegen seine Familie. Das Leben des Vaters ist auch die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg der Eltern und der gleichzeitigen Angst, wieder in die Unterschicht abzurutschen, von der Gefahr, nicht zu bestehen. Dass seine Tochter eine höhere Schule besucht, macht ihn stolz, trotzdem entfernen sich beide voneinander.
Diese Biographie des Vaters ist auch die Geschichte eines Verrats der Tochter: An ihren Eltern, einfachen Menschen, und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist - gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung.
Ihr Vater stirbt, und Annie Ernaux nimmt das zum Anlass, sein Leben zu erzählen: Um die Jahrhundertwende geboren, musste er früh von der Schule abgehen, war zunächst Bauer, dann, bis zum Todesjahr 1967, Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens in der Normandie, die körperliche Arbeit ließ ihn hart werden gegen seine Familie. Das Leben des Vaters ist auch die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg der Eltern und der gleichzeitigen Angst, wieder in die Unterschicht abzurutschen, von der Gefahr, nicht zu bestehen. Dass seine Tochter eine höhere Schule besucht, macht ihn stolz, trotzdem entfernen sich beide voneinander.
Diese Biographie des Vaters ist auch die Geschichte eines Verrats der Tochter: An ihren Eltern, einfachen Menschen, und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist - gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung.
»An den ... Büchern von Annie Ernaux führt kein Weg vorbei. Die Geschichte ihrer Eltern, so genannter einfacher Leute, ist so messerscharf geschrieben, dass die rigorose Subjektivität sich zu gleißender Allgemeingültigkeit wandelt.« Judith von Sternberg Frankfurter Rundschau 20190626
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2019Aufstieg voller Demütigungen
Diese Woche erscheint das Schlüsselbuch im Werk der Schriftstellerin Annie Ernaux: "Der Platz"
Man muss sich das einmal vorstellen: Zwei Monate, nachdem man, 26 Jahre alt, die praktische Prüfung für den höheren Schuldienst bestanden hat, Beamtin geworden ist, es "geschafft" hat, stirbt der eigene Vater. Nach der Beerdigung, beim Zusammensuchen der Kleidung, die man an Bedürftige weitergeben will, findet man in der Alltagsjacke des Toten dessen Portemonnaie und darin einen zusammengefalteten Zeitungsartikel mit den Ergebnissen der Aufnahmeprüfung an der Fachschule für Grundschullehrerinnen, nach Noten sortiert: der eigene Name steht an zweiter Stelle.
So erging es Annie Ernaux, 1966, als ihr Vater starb. Sie war auf Besuch bei den Eltern - mit dem zweieinhalbjährigen Sohn, aber ohne ihren Ehemann, der sich dort "fehl am Platz" vorgekommen wäre -, als der Vater erst krank wurde, dann nicht mehr aufstand. Auf der Rückfahrt nach Hause, im Erste-Klasse-Abteil des Zuges, gehen Ernaux zwei Sätze durch den Kopf: "jetzt gehöre ich wirklich zum Bürgertum" und "es ist zu spät". Mit Hilfe der aus allerärmsten Verhältnissen stammenden Eltern, die den langen Bildungsweg der einzigen Tochter unterstützt haben, ist Ernaux ihrer Klasse entronnen, als Erste in der Familie hat sie studiert. Sie hat ins Bürgertum eingeheiratet, eine Familie gegründet, ihr Sohn ist vom Stigma der bäuerlich-proletarischen Herkunft, der ihr noch anhaftet, endgültig befreit. Der Preis, den sie für den Aufstieg zahlt, ist seit frühester Jugend die Scham über die Eltern, verbunden mit einer zunehmenden Entfremdung, die sie mitunter als Verrat empfindet. Diese drei starken Gefühle aber - Scham, Entfremdung, Verrat - sind die Triebfedern ihres Schreibens. Ohne sie wäre Annie Ernaux nicht Schriftstellerin geworden.
Seit dem Erscheinen von "Die Jahre" und "Erinnerung eines Mädchens" ist Annie Ernaux auch hierzulande Bestsellerautorin. Mit "Der Platz" liegt nun auch das Buch in einer Neuübersetzung von Sonja Finck vor, in dem sie ihre außergewöhnliche Schreibmethode zuerst entwickelt hat. Nach dem Tod des Vaters wollte sie über ihre ambivalenten Gefühle, sein Leben, die "distanzierte Liebe" zu ihm schreiben, darüber, wie schwierig es ist, in eine andere Klasse aufzusteigen, und welchen Preis Aufsteiger wie Zurückgelassene dafür zahlen. Sie beginnt zunächst einen Roman mit dem Vater als Hauptfigur, merkt aber bald, dass sie sein Leben nicht zu Literatur machen kann. Fast zwanzig Jahre dauert es, bis sie Form und Sprache für die "Geschichte" gefunden hat, die sie erzählen will. Als 1983 "La place" bei Gallimard erscheint, erregt die soziologisch anmutende "méthode Ernaux" Aufsehen: Sie hat mit der Fiktion gebrochen, meidet Emotion und Wertung, betont im Individuellen das Exemplarische, verbindet das Persönliche mit dem Historischen. Ihr Stil ist sachlich, nüchtern, kalt. Im Jahr darauf erhält Ernaux den renommierten Prix Renaudot.
"Der Platz" ist das Schlüsselbuch in Ernaux' Werk. Auch wenn sie darin vordergründig das Leben des Vaters rekonstruiert, erzählt, wie er sich "hochgearbeitet" hat - mit zwölf begann er als Knecht bei einem Großbauern, während des Ersten Weltkriegs kam er zum ersten Mal aus seinem Dorf heraus, war in Paris, fuhr mit der Metro, sah, wie andere Leute lebten; dann war er Arbeiter, schließlich Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank -, ist es kein Buch über ihren Vater, sondern über sie selbst. Über ihre Scham, die einsetzte, sobald sie als kleines Mädchen erkannte, dass ihre Art zu leben, sich zu kleiden, sich zu geben, zu reden, mit wenig Ansehen verbunden war. Über ihren Weg des Aufstiegs, voller Demütigungen und Angst, oft allein, weil die Eltern ihr nicht helfen konnten: "Einen ganzen Abend lang fragten wir uns, was die Direktorin wohl mit dem Satz ,für diese Rolle sollte Ihre Tochter Abendgarderobe tragen' gemeint haben könnte."
Anders als die Emanzipation der Eltern, die vor allem eine äußerliche, eine materielle ist, ist die der Tochter eine verborgene, intellektuelle. Die Sprache - oder eigentlich: die Sprachen, denn in der Schule spricht Ernaux nicht mehr Dialekt wie die Eltern, sondern lernt "richtiges Französisch" - ist, je älter sie wird, desto öfter Auslöser von Ärger und Streit. Dass Ernaux schließlich ausgerechnet in dem Medium, das in Frankreich wie kein anderes eines der sozialen Distinktion ist, reüssiert; dass sie nicht nur Gymnasiallehrerin für Französisch, sondern sogar Schriftstellerin wird, ist ein Triumph, den nur ermessen kann, wer einen ähnlich weiten Weg gegangen ist.
Annie Ernaux ist sicher auch deshalb eine so skrupulöse, bild- und metaphernarme, das einzelne Wort betonende Schreibende geworden, weil der Reichtum der Sprache, die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten und die Raffinessen von Grammatik und Syntax ihr nicht von kleinauf wie selbstverständlich zur Verfügung standen. "Wenn ich als Kind versuchte, mich besser auszudrücken, hatte ich immer das Gefühl, mich in einen Abgrund zu stürzen", schreibt sie. Bei bestimmten Wörtern schwingt die bedrohliche Bedeutung, die sie für die Eltern hatte, bis heute mit, auch wenn sich diese Bedrohung längst verloren hat. Anders als Proust kann sie das Patois, das normannische Platt, und das Französisch der unteren Schichten nicht pittoresk finden. Proust zähle "entzückt Françoises Fehler und veraltete Ausdrücke auf. Ihn interessiert nur die Ästhetik, weil Françoise sein Hausmädchen war, nicht seine Mutter. Und weil ihm diese Wendungen selbst nie spontan über die Lippen gekommen wären."
Ganz am Ende des Buches berichtet Ernaux von einer Begegnung im Supermarkt im Oktober 1982, kurz bevor sie mit dem Schreiben von "Der Platz" begonnen hat. Sie steht mit dem Einkaufswagen in der Schlange, als sie in der Kassiererin eine ehemalige Schülerin erkennt. Sie spricht sie an, fragt, ob ihr die Arbeit gefalle. Die junge Frau sagt ja, fügt dann aber hinzu: "Das mit der Berufsschule hat nicht geklappt." Ernaux hat alles längst vergessen, fragt auch nicht weiter nach, verabschiedet sich nur noch. "Ich war jetzt Teil jener Hälfte der Welt, für die die andere Hälfte nur Kulisse ist", urteilt sie über sich. Dass das nicht ganz stimmt, beweisen diese Episode wie ihr ganzes Buch "Der Platz". Sie hat nicht vergessen, woher sie kommt, verleugnet weder ihren Vater noch ihre ehemalige Schülerin - die auch sie selbst hätte sein können, wenn sie nicht so hart mit sich gewesen wäre, nicht so ehrgeizig und diszipliniert, und wenn sie, ja, auch das, nicht das Glück gehabt hätte, einen Vater zu haben, dessen "größter Stolz", dessen "Lebenszweck" es war, dass sie "eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte".
BETTINA HARTZ
Annie Ernaux: "Der Platz". Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 95 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diese Woche erscheint das Schlüsselbuch im Werk der Schriftstellerin Annie Ernaux: "Der Platz"
Man muss sich das einmal vorstellen: Zwei Monate, nachdem man, 26 Jahre alt, die praktische Prüfung für den höheren Schuldienst bestanden hat, Beamtin geworden ist, es "geschafft" hat, stirbt der eigene Vater. Nach der Beerdigung, beim Zusammensuchen der Kleidung, die man an Bedürftige weitergeben will, findet man in der Alltagsjacke des Toten dessen Portemonnaie und darin einen zusammengefalteten Zeitungsartikel mit den Ergebnissen der Aufnahmeprüfung an der Fachschule für Grundschullehrerinnen, nach Noten sortiert: der eigene Name steht an zweiter Stelle.
So erging es Annie Ernaux, 1966, als ihr Vater starb. Sie war auf Besuch bei den Eltern - mit dem zweieinhalbjährigen Sohn, aber ohne ihren Ehemann, der sich dort "fehl am Platz" vorgekommen wäre -, als der Vater erst krank wurde, dann nicht mehr aufstand. Auf der Rückfahrt nach Hause, im Erste-Klasse-Abteil des Zuges, gehen Ernaux zwei Sätze durch den Kopf: "jetzt gehöre ich wirklich zum Bürgertum" und "es ist zu spät". Mit Hilfe der aus allerärmsten Verhältnissen stammenden Eltern, die den langen Bildungsweg der einzigen Tochter unterstützt haben, ist Ernaux ihrer Klasse entronnen, als Erste in der Familie hat sie studiert. Sie hat ins Bürgertum eingeheiratet, eine Familie gegründet, ihr Sohn ist vom Stigma der bäuerlich-proletarischen Herkunft, der ihr noch anhaftet, endgültig befreit. Der Preis, den sie für den Aufstieg zahlt, ist seit frühester Jugend die Scham über die Eltern, verbunden mit einer zunehmenden Entfremdung, die sie mitunter als Verrat empfindet. Diese drei starken Gefühle aber - Scham, Entfremdung, Verrat - sind die Triebfedern ihres Schreibens. Ohne sie wäre Annie Ernaux nicht Schriftstellerin geworden.
Seit dem Erscheinen von "Die Jahre" und "Erinnerung eines Mädchens" ist Annie Ernaux auch hierzulande Bestsellerautorin. Mit "Der Platz" liegt nun auch das Buch in einer Neuübersetzung von Sonja Finck vor, in dem sie ihre außergewöhnliche Schreibmethode zuerst entwickelt hat. Nach dem Tod des Vaters wollte sie über ihre ambivalenten Gefühle, sein Leben, die "distanzierte Liebe" zu ihm schreiben, darüber, wie schwierig es ist, in eine andere Klasse aufzusteigen, und welchen Preis Aufsteiger wie Zurückgelassene dafür zahlen. Sie beginnt zunächst einen Roman mit dem Vater als Hauptfigur, merkt aber bald, dass sie sein Leben nicht zu Literatur machen kann. Fast zwanzig Jahre dauert es, bis sie Form und Sprache für die "Geschichte" gefunden hat, die sie erzählen will. Als 1983 "La place" bei Gallimard erscheint, erregt die soziologisch anmutende "méthode Ernaux" Aufsehen: Sie hat mit der Fiktion gebrochen, meidet Emotion und Wertung, betont im Individuellen das Exemplarische, verbindet das Persönliche mit dem Historischen. Ihr Stil ist sachlich, nüchtern, kalt. Im Jahr darauf erhält Ernaux den renommierten Prix Renaudot.
"Der Platz" ist das Schlüsselbuch in Ernaux' Werk. Auch wenn sie darin vordergründig das Leben des Vaters rekonstruiert, erzählt, wie er sich "hochgearbeitet" hat - mit zwölf begann er als Knecht bei einem Großbauern, während des Ersten Weltkriegs kam er zum ersten Mal aus seinem Dorf heraus, war in Paris, fuhr mit der Metro, sah, wie andere Leute lebten; dann war er Arbeiter, schließlich Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank -, ist es kein Buch über ihren Vater, sondern über sie selbst. Über ihre Scham, die einsetzte, sobald sie als kleines Mädchen erkannte, dass ihre Art zu leben, sich zu kleiden, sich zu geben, zu reden, mit wenig Ansehen verbunden war. Über ihren Weg des Aufstiegs, voller Demütigungen und Angst, oft allein, weil die Eltern ihr nicht helfen konnten: "Einen ganzen Abend lang fragten wir uns, was die Direktorin wohl mit dem Satz ,für diese Rolle sollte Ihre Tochter Abendgarderobe tragen' gemeint haben könnte."
Anders als die Emanzipation der Eltern, die vor allem eine äußerliche, eine materielle ist, ist die der Tochter eine verborgene, intellektuelle. Die Sprache - oder eigentlich: die Sprachen, denn in der Schule spricht Ernaux nicht mehr Dialekt wie die Eltern, sondern lernt "richtiges Französisch" - ist, je älter sie wird, desto öfter Auslöser von Ärger und Streit. Dass Ernaux schließlich ausgerechnet in dem Medium, das in Frankreich wie kein anderes eines der sozialen Distinktion ist, reüssiert; dass sie nicht nur Gymnasiallehrerin für Französisch, sondern sogar Schriftstellerin wird, ist ein Triumph, den nur ermessen kann, wer einen ähnlich weiten Weg gegangen ist.
Annie Ernaux ist sicher auch deshalb eine so skrupulöse, bild- und metaphernarme, das einzelne Wort betonende Schreibende geworden, weil der Reichtum der Sprache, die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten und die Raffinessen von Grammatik und Syntax ihr nicht von kleinauf wie selbstverständlich zur Verfügung standen. "Wenn ich als Kind versuchte, mich besser auszudrücken, hatte ich immer das Gefühl, mich in einen Abgrund zu stürzen", schreibt sie. Bei bestimmten Wörtern schwingt die bedrohliche Bedeutung, die sie für die Eltern hatte, bis heute mit, auch wenn sich diese Bedrohung längst verloren hat. Anders als Proust kann sie das Patois, das normannische Platt, und das Französisch der unteren Schichten nicht pittoresk finden. Proust zähle "entzückt Françoises Fehler und veraltete Ausdrücke auf. Ihn interessiert nur die Ästhetik, weil Françoise sein Hausmädchen war, nicht seine Mutter. Und weil ihm diese Wendungen selbst nie spontan über die Lippen gekommen wären."
Ganz am Ende des Buches berichtet Ernaux von einer Begegnung im Supermarkt im Oktober 1982, kurz bevor sie mit dem Schreiben von "Der Platz" begonnen hat. Sie steht mit dem Einkaufswagen in der Schlange, als sie in der Kassiererin eine ehemalige Schülerin erkennt. Sie spricht sie an, fragt, ob ihr die Arbeit gefalle. Die junge Frau sagt ja, fügt dann aber hinzu: "Das mit der Berufsschule hat nicht geklappt." Ernaux hat alles längst vergessen, fragt auch nicht weiter nach, verabschiedet sich nur noch. "Ich war jetzt Teil jener Hälfte der Welt, für die die andere Hälfte nur Kulisse ist", urteilt sie über sich. Dass das nicht ganz stimmt, beweisen diese Episode wie ihr ganzes Buch "Der Platz". Sie hat nicht vergessen, woher sie kommt, verleugnet weder ihren Vater noch ihre ehemalige Schülerin - die auch sie selbst hätte sein können, wenn sie nicht so hart mit sich gewesen wäre, nicht so ehrgeizig und diszipliniert, und wenn sie, ja, auch das, nicht das Glück gehabt hätte, einen Vater zu haben, dessen "größter Stolz", dessen "Lebenszweck" es war, dass sie "eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte".
BETTINA HARTZ
Annie Ernaux: "Der Platz". Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 95 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2019Das Leben schreiben
Annie Ernaux’ Buch „La place“, das auch Didier Eribon inspirierte,
erscheint in neuer Übersetzung
VON INSA WILKE
Es war ein schmales Buch, es erschien 1986 im Bertelsmann-Verlag mit dem Titel „Das bessere Leben“ und stammte von einer gewissen Annie Ernaux, 46 Jahre alt, damals in Deutschland völlig unbekannt. In Frankreich war sie für „La place“, so der Titel des Originals, zwei Jahre vorher mit einem der wichtigsten französischen Literaturpreise ausgezeichnet worden und hatte damit nach drei Romanen nationale Bekanntheit erreicht. Genau dieses Buch, mit dem sich Ernaux programmatisch zu einer neuen Schreibweise bekannte und vom Roman abwandte, ist jetzt in der neuen Übersetzung von Sonja Finck unter dem Titel „Der Platz“ wieder veröffentlicht worden, dieses Mal vom Suhrkamp-Verlag.
Man kennt Ernaux inzwischen: „Die Jahre“ und „Erinnerung eines Mädchens“ haben zuletzt viele Leserinnen und einhelliges Lob in der Kritik gefunden. Es war Didier Eribon, der sich in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ ausdrücklich auf Annie Ernaux bezog und ihr so die Türen zum deutschen Markt neu öffnete. Interessant ist nun, wie Ernaux’ Buch 1986/87 wahrgenommen wurde. Kurz zur Orientierung: „Der Platz“ nimmt ziemlich genau die gedankliche Konfiguration vorweg, die Eribon dann vor dem Hintergrund der Krise der Linken und der rechten Erfolgswellen hierzulande berühmt machte und die um den Bruch mit dem Herkunftsmilieu kreist, der auf einen sozialen Aufstieg folgt.
Auch bei Ernaux setzt der Tod des Vaters das Schreiben in Gang. Selbst vom bäuerlichen Tagelöhner zum Besitzer eines Krämerladens und einer Kneipe aufgestiegen, hatte der Vater seiner Tochter ermöglicht, die nächste Stufe der sozialen Karriere zu erklimmen. Er stirbt, kurz nachdem sie die Lehramtsprüfung bestanden hat. In „La place“ erforschte Ernaux erstmals die Entfremdung vom Vater und ihrer Kindheitswelt. Sie beschreibt ein Milieu, in dem Missgunst herrscht und in dem abgestraft wird, wer abweicht und sich über die anderen zu erheben scheint. Auf die Begrenzung durch ein rigides Klassensystem wird mit Beschränkung von innen reagiert. Das wahrt die Würde, wie Ernaux am Beispiel ihres Vaters demonstriert. Die „feinen Unterschiede“ sichern die sozialen Demarkationslinien nicht nur von „oben“ nach „unten“, sondern auch andersherum. Um darüber ohne Wertung und Sentimentalität zu schreiben, entwickelte Annie Ernaux in „La place“ ein fragmentarisches Erzählen und eine dokumentierende Sprache, die bewusst auf literarische Mittel wie Metaphern, Vergleiche, intertextuelle Bezüge verzichtet.
Die NZZ kritisierte 1986, dass die Übersetzung durch einen „erhebenden Beiklang“ im Deutschen und „bürgerliche“ und „romanhafte Floskeln“ den Zweck von Ernaux’ um Distanzierung bemühte Sprache aufhebe. Die Süddeutsche Zeitung deutete „La place“ damals als Hommage an einen Mann, dessen Leben „sich in dem Wunsch nach einem besseren aufgebraucht“ hatte. Die Autorin habe durch ihr Buch den Platz in der Welt des Vaters „verloren, verraten und doch auch wieder zurückerobert“. Im (schiefen) Vergleich zu deutschsprachigen Väter-Büchern (männlicher Autoren), die vor allem mit der deutschen Vergangenheit abrechneten, wurde Ernaux klischeehaft dafür gelobt, weniger „hart“ und eher „natürlich“ zu klingen.
Was für Missverständnisse aus heutiger Sicht! Die damals auf „das bessere Leben“ konzentrierten Leserinnen deuteten Ernaux’ Schreibweise als zweite Distanzierung von der Herkunft beziehungsweise deren sprachliche Veranschaulichung. Das Gegenteil ist aber der Fall, es steht klipp und klar im Text: Ihre Schreibweise diene nicht der Distanzierung und auch nicht der Verbrüderung mit dem Leser, so Ernaux’ Erzählerin. Sie habe nach Wörtern gesucht, die eine Welt auszudrücken vermögen, „in der man alles wörtlich nahm“. Ihre Sprache will also Nähe herstellen, aber keine emotionale, sondern eher die einer dichten Beschreibung im Sinne der Ethnologin, als die Ernaux sich selbst sieht. Es geht nicht um sie oder ihren Vater, sondern um die Lebenswelt, um das Leben selbst und seine Konflikte. „Écrire la vie“ heißt das bei Ernaux.
„Das bessere Leben“ war in den 80er-Jahren etwas, das in Deutschland viele gefühlt gerade erst erreicht hatten, die Mühen des Aufstiegs hatte man noch frisch im Gefühl und war sensibel für Bedrohungen. Im gleichen Jahr wie die Übersetzung von Ernaux’ „La place“ war Ulrichs Becks Buch „Risikogesellschaft“ erschienen. Die selbstreflexive Moderne, so Beck, werde sich einer Gefährdung bewusst, die sich nicht an Klassengrenzen zu halten scheine. Kein Wunder also, dass man Ernaux’ Buch als doch irgendwie beruhigende Erzählung des „Fahrstuhleffekts“ lesen wollte. Leistung sollte sich weiter lohnen, und die „einfache“ Herkunft gilt ja, wenn der entbehrungsreiche Aufstieg erst einmal gelungen ist, bis heute in Deutschland als Distinktionsmerkmal, das sich gut macht im Lebenslauf und auf der Rednerbühne. Ausgeblendet werden bei solchen Lesarten aber, wie endgültig der Bruch mit der Herkunft von Ernaux und dann auch von Eribon beschrieben wird und dass beide nach den Konsequenzen dieses Bruchs fragen. Den heutigen Erfolg von Annie Ernaux erklärt, dass man sich inzwischen für andere Konflikte interessiert und diese Motive im Text erkennt: den Verrat und die Scham.
Ihrem Vater-Buch stellte Ernaux ein Zitat von Jean Genet voran: „Schreiben ist der letzte Ausweg, wenn man Verrat begangen hat.“ Es handelt sich in ihrem Fall um einen doppelten Verrat, den Abschied von den Eltern durch Aufstieg, durch eine andere Sprache und einen anderen Verhaltenskodex sowie die Instrumentalisierung und Verfälschung der väterlichen Biografie durch ihre literarische Transformation. Letzteres ist ein Topos: Gerade Autorinnen plagen sich mit der Frage, wie sie respektvoll und möglichst wahrhaftig von den Toten, die souverän bleiben oder erstmals werden sollen, erzählen können. Zuletzt konnte man das in „Nach dem Gedächtnis“ von Maria Stepanova lesen. Die ästhetische Antwort darauf ist in der Regel die, die auch Ernaux gibt: Nüchternheit, Bekenntnis zum Fragment, Zurückhaltung in der Zuschreibung, strenge Subjektivität. Oder, wie Ernaux es formuliert: Schreiben als Beweisaufnahme einer Existenz durch „Worte, Gesten, Vorlieben“. Die Verantwortung für die Deutung wird so an die Leserinnen und Leser weitergereicht, die dann aber (guter, alter Brecht) immerhin über genau diese Verantwortung nachdenken können.
Brisanter: An den Verrat ist die Scham geknüpft. Durch Ernaux’ Werk geistert sie als machtvolle Doppelagentin. Sie erfasst Ernaux immer dann, wenn sie gegen die Normen ihrer sozialen Stellung verstößt, sei es als Frau oder als jemand aus „einfachen Verhältnissen“, der die Codes anderer Klassen nicht beherrscht. Scham wirkt in diesem Fall disziplinarisch, weil sie lähmt. Sie sorgt für Demut und dafür, dass der Schuster bei seinen Leisten bleibt. Schafft jemand aber doch den Aufstieg, so sorgt wiederum die „Herkunftsscham“ dafür, dass sich die Grenzen sofort wieder abdichten und alles rein und unvermischt bleibt. Zumindest an der Oberfläche, denn die Scham, so Ernaux, hat ein „großes“ und ein unheilstiftendes Gedächtnis. Sie sorgt dafür, dass man immer weiß, woher man kommt, und sich nie vollends zugehörig fühlt, und sie hält das schlechte Gewissen wach, „seine Leute“ im Stich gelassen zu haben. Die Scham ist aber auch Motor der Veränderung, wird sie erst einmal reflektiert, und löst die berechtigte Wut aus, die eigentlich zwangsläufig auf ihre quälenden Nadelstiche folgen muss.
Eines der verräterischen Herkunftszeichen und Distinktionsmerkmale ist die Sprache. „In meiner Erinnerung führt alles, was mit Sprache zu tun hatte, zu Ärger und Streit“, schreibt Ernaux. Die Art und Weise, wie Ernaux nun von diesem Konflikt erzählt – neutral, wertungsfrei, porös – befreit die Sprache von der Herkunftsscham. Sie befreit auch von einer „Fürsorgepflicht“ für die „Abgehängten“, weil sie allen Beteiligten ihre Souveränität lässt und außerdem beschreibt, wie nicht nur die Privilegierten, sondern auch die sogenannten „Abgehängten“ gesellschaftliche „Platzierungsgebote“ überwachen. Es ist keine Distanzierung, die Annie Ernaux’ Sprache versucht, keine sentimentale Hommage, und es ist kein versöhnender Brückenschlag. Vielleicht kann dies erst 2019 sichtbar werden, weil seine Leserinnen und Lesern diesen Text erst jetzt eingeholt haben oder weil sich dieser Text durch seine Offenheit und inneren Widersprüche jeder Zeit anders zeigt. Sicher ist, dass sich inzwischen der eine „Platz“ zu einem Raum erweitert hat, in dem Bewegung denkbar ist. In diesem Sinne erzählt Annie Ernaux mit „Der Platz“ erstaunlich früh von der Befreiung vom schlechten Gewissen und der Scham, nicht (mehr) dazuzugehören. Von dem Versuch also, als Andere zu existieren, in beiden Welten. Das, so zeigt sie schreibend, ist nicht unmöglich.
Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 94 Seiten, 18 Euro.
Leserinnen deuteten Ernaux’
Schreibweise als zweite
Distanzierung von der Herkunft
„Schreiben ist der
letzte Ausweg, wenn man
Verrat begangen hat.“
Es ist keine Distanzierung, die
Annie Ernaux’ Sprache versucht,
keine sentimentale Hommage
Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux wurde in den letzten Jahren in Deutschland wiederentdeckt. Mit „Der Platz“ war ihr 1984 in Frankreich der literarische Durchbruch gelungen.
Foto: Rougemont/Opale/Leemage/laif
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Annie Ernaux’ Buch „La place“, das auch Didier Eribon inspirierte,
erscheint in neuer Übersetzung
VON INSA WILKE
Es war ein schmales Buch, es erschien 1986 im Bertelsmann-Verlag mit dem Titel „Das bessere Leben“ und stammte von einer gewissen Annie Ernaux, 46 Jahre alt, damals in Deutschland völlig unbekannt. In Frankreich war sie für „La place“, so der Titel des Originals, zwei Jahre vorher mit einem der wichtigsten französischen Literaturpreise ausgezeichnet worden und hatte damit nach drei Romanen nationale Bekanntheit erreicht. Genau dieses Buch, mit dem sich Ernaux programmatisch zu einer neuen Schreibweise bekannte und vom Roman abwandte, ist jetzt in der neuen Übersetzung von Sonja Finck unter dem Titel „Der Platz“ wieder veröffentlicht worden, dieses Mal vom Suhrkamp-Verlag.
Man kennt Ernaux inzwischen: „Die Jahre“ und „Erinnerung eines Mädchens“ haben zuletzt viele Leserinnen und einhelliges Lob in der Kritik gefunden. Es war Didier Eribon, der sich in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ ausdrücklich auf Annie Ernaux bezog und ihr so die Türen zum deutschen Markt neu öffnete. Interessant ist nun, wie Ernaux’ Buch 1986/87 wahrgenommen wurde. Kurz zur Orientierung: „Der Platz“ nimmt ziemlich genau die gedankliche Konfiguration vorweg, die Eribon dann vor dem Hintergrund der Krise der Linken und der rechten Erfolgswellen hierzulande berühmt machte und die um den Bruch mit dem Herkunftsmilieu kreist, der auf einen sozialen Aufstieg folgt.
Auch bei Ernaux setzt der Tod des Vaters das Schreiben in Gang. Selbst vom bäuerlichen Tagelöhner zum Besitzer eines Krämerladens und einer Kneipe aufgestiegen, hatte der Vater seiner Tochter ermöglicht, die nächste Stufe der sozialen Karriere zu erklimmen. Er stirbt, kurz nachdem sie die Lehramtsprüfung bestanden hat. In „La place“ erforschte Ernaux erstmals die Entfremdung vom Vater und ihrer Kindheitswelt. Sie beschreibt ein Milieu, in dem Missgunst herrscht und in dem abgestraft wird, wer abweicht und sich über die anderen zu erheben scheint. Auf die Begrenzung durch ein rigides Klassensystem wird mit Beschränkung von innen reagiert. Das wahrt die Würde, wie Ernaux am Beispiel ihres Vaters demonstriert. Die „feinen Unterschiede“ sichern die sozialen Demarkationslinien nicht nur von „oben“ nach „unten“, sondern auch andersherum. Um darüber ohne Wertung und Sentimentalität zu schreiben, entwickelte Annie Ernaux in „La place“ ein fragmentarisches Erzählen und eine dokumentierende Sprache, die bewusst auf literarische Mittel wie Metaphern, Vergleiche, intertextuelle Bezüge verzichtet.
Die NZZ kritisierte 1986, dass die Übersetzung durch einen „erhebenden Beiklang“ im Deutschen und „bürgerliche“ und „romanhafte Floskeln“ den Zweck von Ernaux’ um Distanzierung bemühte Sprache aufhebe. Die Süddeutsche Zeitung deutete „La place“ damals als Hommage an einen Mann, dessen Leben „sich in dem Wunsch nach einem besseren aufgebraucht“ hatte. Die Autorin habe durch ihr Buch den Platz in der Welt des Vaters „verloren, verraten und doch auch wieder zurückerobert“. Im (schiefen) Vergleich zu deutschsprachigen Väter-Büchern (männlicher Autoren), die vor allem mit der deutschen Vergangenheit abrechneten, wurde Ernaux klischeehaft dafür gelobt, weniger „hart“ und eher „natürlich“ zu klingen.
Was für Missverständnisse aus heutiger Sicht! Die damals auf „das bessere Leben“ konzentrierten Leserinnen deuteten Ernaux’ Schreibweise als zweite Distanzierung von der Herkunft beziehungsweise deren sprachliche Veranschaulichung. Das Gegenteil ist aber der Fall, es steht klipp und klar im Text: Ihre Schreibweise diene nicht der Distanzierung und auch nicht der Verbrüderung mit dem Leser, so Ernaux’ Erzählerin. Sie habe nach Wörtern gesucht, die eine Welt auszudrücken vermögen, „in der man alles wörtlich nahm“. Ihre Sprache will also Nähe herstellen, aber keine emotionale, sondern eher die einer dichten Beschreibung im Sinne der Ethnologin, als die Ernaux sich selbst sieht. Es geht nicht um sie oder ihren Vater, sondern um die Lebenswelt, um das Leben selbst und seine Konflikte. „Écrire la vie“ heißt das bei Ernaux.
„Das bessere Leben“ war in den 80er-Jahren etwas, das in Deutschland viele gefühlt gerade erst erreicht hatten, die Mühen des Aufstiegs hatte man noch frisch im Gefühl und war sensibel für Bedrohungen. Im gleichen Jahr wie die Übersetzung von Ernaux’ „La place“ war Ulrichs Becks Buch „Risikogesellschaft“ erschienen. Die selbstreflexive Moderne, so Beck, werde sich einer Gefährdung bewusst, die sich nicht an Klassengrenzen zu halten scheine. Kein Wunder also, dass man Ernaux’ Buch als doch irgendwie beruhigende Erzählung des „Fahrstuhleffekts“ lesen wollte. Leistung sollte sich weiter lohnen, und die „einfache“ Herkunft gilt ja, wenn der entbehrungsreiche Aufstieg erst einmal gelungen ist, bis heute in Deutschland als Distinktionsmerkmal, das sich gut macht im Lebenslauf und auf der Rednerbühne. Ausgeblendet werden bei solchen Lesarten aber, wie endgültig der Bruch mit der Herkunft von Ernaux und dann auch von Eribon beschrieben wird und dass beide nach den Konsequenzen dieses Bruchs fragen. Den heutigen Erfolg von Annie Ernaux erklärt, dass man sich inzwischen für andere Konflikte interessiert und diese Motive im Text erkennt: den Verrat und die Scham.
Ihrem Vater-Buch stellte Ernaux ein Zitat von Jean Genet voran: „Schreiben ist der letzte Ausweg, wenn man Verrat begangen hat.“ Es handelt sich in ihrem Fall um einen doppelten Verrat, den Abschied von den Eltern durch Aufstieg, durch eine andere Sprache und einen anderen Verhaltenskodex sowie die Instrumentalisierung und Verfälschung der väterlichen Biografie durch ihre literarische Transformation. Letzteres ist ein Topos: Gerade Autorinnen plagen sich mit der Frage, wie sie respektvoll und möglichst wahrhaftig von den Toten, die souverän bleiben oder erstmals werden sollen, erzählen können. Zuletzt konnte man das in „Nach dem Gedächtnis“ von Maria Stepanova lesen. Die ästhetische Antwort darauf ist in der Regel die, die auch Ernaux gibt: Nüchternheit, Bekenntnis zum Fragment, Zurückhaltung in der Zuschreibung, strenge Subjektivität. Oder, wie Ernaux es formuliert: Schreiben als Beweisaufnahme einer Existenz durch „Worte, Gesten, Vorlieben“. Die Verantwortung für die Deutung wird so an die Leserinnen und Leser weitergereicht, die dann aber (guter, alter Brecht) immerhin über genau diese Verantwortung nachdenken können.
Brisanter: An den Verrat ist die Scham geknüpft. Durch Ernaux’ Werk geistert sie als machtvolle Doppelagentin. Sie erfasst Ernaux immer dann, wenn sie gegen die Normen ihrer sozialen Stellung verstößt, sei es als Frau oder als jemand aus „einfachen Verhältnissen“, der die Codes anderer Klassen nicht beherrscht. Scham wirkt in diesem Fall disziplinarisch, weil sie lähmt. Sie sorgt für Demut und dafür, dass der Schuster bei seinen Leisten bleibt. Schafft jemand aber doch den Aufstieg, so sorgt wiederum die „Herkunftsscham“ dafür, dass sich die Grenzen sofort wieder abdichten und alles rein und unvermischt bleibt. Zumindest an der Oberfläche, denn die Scham, so Ernaux, hat ein „großes“ und ein unheilstiftendes Gedächtnis. Sie sorgt dafür, dass man immer weiß, woher man kommt, und sich nie vollends zugehörig fühlt, und sie hält das schlechte Gewissen wach, „seine Leute“ im Stich gelassen zu haben. Die Scham ist aber auch Motor der Veränderung, wird sie erst einmal reflektiert, und löst die berechtigte Wut aus, die eigentlich zwangsläufig auf ihre quälenden Nadelstiche folgen muss.
Eines der verräterischen Herkunftszeichen und Distinktionsmerkmale ist die Sprache. „In meiner Erinnerung führt alles, was mit Sprache zu tun hatte, zu Ärger und Streit“, schreibt Ernaux. Die Art und Weise, wie Ernaux nun von diesem Konflikt erzählt – neutral, wertungsfrei, porös – befreit die Sprache von der Herkunftsscham. Sie befreit auch von einer „Fürsorgepflicht“ für die „Abgehängten“, weil sie allen Beteiligten ihre Souveränität lässt und außerdem beschreibt, wie nicht nur die Privilegierten, sondern auch die sogenannten „Abgehängten“ gesellschaftliche „Platzierungsgebote“ überwachen. Es ist keine Distanzierung, die Annie Ernaux’ Sprache versucht, keine sentimentale Hommage, und es ist kein versöhnender Brückenschlag. Vielleicht kann dies erst 2019 sichtbar werden, weil seine Leserinnen und Lesern diesen Text erst jetzt eingeholt haben oder weil sich dieser Text durch seine Offenheit und inneren Widersprüche jeder Zeit anders zeigt. Sicher ist, dass sich inzwischen der eine „Platz“ zu einem Raum erweitert hat, in dem Bewegung denkbar ist. In diesem Sinne erzählt Annie Ernaux mit „Der Platz“ erstaunlich früh von der Befreiung vom schlechten Gewissen und der Scham, nicht (mehr) dazuzugehören. Von dem Versuch also, als Andere zu existieren, in beiden Welten. Das, so zeigt sie schreibend, ist nicht unmöglich.
Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 94 Seiten, 18 Euro.
Leserinnen deuteten Ernaux’
Schreibweise als zweite
Distanzierung von der Herkunft
„Schreiben ist der
letzte Ausweg, wenn man
Verrat begangen hat.“
Es ist keine Distanzierung, die
Annie Ernaux’ Sprache versucht,
keine sentimentale Hommage
Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux wurde in den letzten Jahren in Deutschland wiederentdeckt. Mit „Der Platz“ war ihr 1984 in Frankreich der literarische Durchbruch gelungen.
Foto: Rougemont/Opale/Leemage/laif
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Paul Jandl bewundert, wie Annie Ernaux in ihrer Erinnerungsprosa alle Sentimentalitäten vermeidet, um mit einem unverstellten soziografischen Blick ihr eigen Geschichte, ihre Familie und die ländliche Normandie zu erkunden. Das verblüffende Ergebnis dieser "literarischen Wissenschaft" sei ein warmherziges, geradezu zärtliches Porträt ihres verstorbenen Vaters, in dessen Welt vor allem der Wunsch vorherrschte, "es besser zu haben". Der Vater kam aus einer Familie sprachloser Tagelöhner, er hatte sich das Geld für eine Kneipe zusammengespart und dann seiner Tochter ein Studium ermöglicht. Aber schon der bescheidene Aufstieg ging auch einher mit dem Bewusstsein für soziale Unterschiede. Wie Ernaux die Scham beschreibt, die mit der Deklassiertheit einhergeht, die ständige Angst vor der Entblößung, das hat den Rezensenten sehr berührt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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