Als die androgyne Alex, die trotz ihrer dreißig Jahre ihren Platz im Leben noch zu suchen scheint und Bindungen meidet wie der Teufel das Weihwasser, als Untermieterin im Haus von Marlène und Bertrand einzieht, lernt sie auch Bertrands Bruder Gérard kennen. Der Schwerbehinderte hat es bei der
herrischen und oft herzlosen Marlène nicht leicht und so fängt Alex an, sich um ihn zu kümmern. Ganz…mehrAls die androgyne Alex, die trotz ihrer dreißig Jahre ihren Platz im Leben noch zu suchen scheint und Bindungen meidet wie der Teufel das Weihwasser, als Untermieterin im Haus von Marlène und Bertrand einzieht, lernt sie auch Bertrands Bruder Gérard kennen. Der Schwerbehinderte hat es bei der herrischen und oft herzlosen Marlène nicht leicht und so fängt Alex an, sich um ihn zu kümmern. Ganz heimlich still und leise schleicht er sich in ihr Herz und Alex beginnt nach einem besseren Leben für den zartfühligen Poeten Ausschau zu halten.
Nach “Das Labyrinth der Wörter” (La tête en friche) hat Marie-Sabine Roger auch mit “Der Poet der kleinen Dinge” wieder bewiesen, dass ein großer Roman in Gänze vom Feingefühl seiner Autorin leben kann. Sie zeigt ein Gespür für die Menschen um sich herum, das man kaum erlernen kann. Ihr Blick auf die Welt geht weit unter die polierte Oberfläche bigotter Kleinstadtidyllen und schafft so eine Wahrhaftigkeit, die zwangsläufig aufwühlt und berührt, ohne dabei jemals laut zu werden.
Die Charaktere sind alle ein wenig anders, haben ihre Macken, entwickeln sich, was sie extrem ausdrucksstark macht und selbst die Distanz, die man fast bis zum Schluss zu Alex fühlt, ist perfekt auf die Figur abgestimmt und unterstreicht deren eigene distanzierte Art. Gérard rührt einen zutiefst und rückt mit seiner kindlichen und gleichzeitig weisen Art die Welt so manches Mal auf ein überschaubares Maß zurecht.
Dass der Roman zwei Ich-Erzähler hat, verwirrt einen zu Anfang ein wenig, aber sogar das wirkt beabsichtigt und wohlüberlegt.
Eine wunderbare, zutiefst anrührende Geschichte über das Anderssein, über Toleranz und Nächstenliebe und die Frage, wie erstrebenswert Normalität wirklich ist.
Zitate:
Ich glaube, in den Geburtskliniken liegen ausschließlich Prinzessinnen und Märchenprinzen in den kleinen Plastikbetten. Kein einziges Neugeborenes, das entmutigt, enttäuscht, traurig oder blasiert wäre. Kein einziges kommt auf die Welt und sagt sich: Später gehe ich mal für einen Hungerlohn in der Fabrik malochen. Ich werde ein Scheißleben haben und das wird super-duper. Juhu. Warum ich hier bin, jetzt, in diesem Moment, ist sogar mir selbst ein Rätsel. Aber da ich an Schicksal glaube, sage ich mir, dass es irgendwo einen großen Plan geben muss., hoch über meinem Kopf. Dass es für das alles einen Grund gibt. (Seite 22)
Ich habe etwas Unfertiges, Unreifes an mir. Ich bin wie ein Entwurf meiner selbst. (Seite 25)
Ich habe gesoffen, bis ich mich am liebsten selbst ausgekotzt hätte, gevögelt, bis alle Lust dahin war. Heute weiß ich, was mit mir los war: Ich hatte zu viel Leere in mir und zu wenig Leben. Ich sehnte mich so sehr nach einer Leidenschaft, nach einer starken, heftigen Sache, die einen vorwärtstreibt. Einem Ziel. Ja, einem Schicksal! Wennschon, dennschon. (Seite 46)
Es gibt nichts an ihm, das nicht missraten, entstellt, erschreckend oder lächerlich wäre. Nichts bis auf seinen Welpenblick, der so sanft ist, dass man es gar nicht beschreiben kann. Nichts bis auf sein schallendes Lachen, voller Leben und Humor. Aber dieses Nichts reicht aus, um etwas in mir zu wecken, Gefühle, die ich nicht verstehe, die Lust, ihm die Flügel zu strecken, und wenn es mir Gewalt ist. Die Lust, ihm abends zuzuhören, ihn am Kanal entlang spazieren zu fahren. […] Wir werden noch mehr Leute treffen, die loslachen werden, wenn sie Roswell sehen. Die wahren Monster sind sie. (Seite 81)
Im Theater ist es wie im echten Leben, da gibt es keinen Probelauf, man kann nicht sagen: “Klappe, die Szene nochmal!” Wenn der Vorhang aufgeht, ist es ernst. Schummeln gilt nicht. (Seite 123)
Seit achtundzwanzig Jahren träume ich Tag für Tag davon, hier abzuhauen, aber es ist wie mit dem Rauchen:Morgen höre ich auf, morgen gehe ich weg. Morgen fange ich an zu leben. immer morgen, morgen, nur nicht heute… (Seite 152)
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