Der junge Manuel träumt vom freien Leben in Amerika und von einer Frau, die dort irgendwo auf ihn wartet. Er wird Simultanübersetzer und begegnet auf einem Kongreß der schönen Nadia, folgt ihr nach New York und sieht sich bereits am Ziel seiner Träume. Doch Nadia erzählt ihm, daß sie, wie er, aus der andalusischen Stadt Magia stamme. Gemeinsam vertiefen sie sich in die Geschichte ihrer Heimatstadt. - Munoz Molinas Chronik einer Stadt ist gleichzeitig die vier Gerationen umfassende Geschichte einer Familie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995Verliebter Sprung in den Koffer
Antonio Muñoz Molina pflegt eine besondere Form des Totenkults / Von Max Grosse
Leben ist gefährlich. Besonders für kleine Kinder: "Nicht zu nah an die Katze kommen, damit sie einem nicht kratzte, nicht zu nah den Hufen der Pferde und Maultiere, da sie einem den Kopf zerschmettern konnten, bei stürmischem Wetter sich nicht unter die Regentraufen stellen, denn ein Dachziegel konnte herunterfallen oder eine Schlange einem in den Knöchel beißen, oder schlimmer noch, ins Haus gelangen und auf der Suche nach der Wärme eines Körpers unter die Bettdecke eines schlafenden Kindes gleiten, kein Wasser trinken, in das die Geckos gespien haben könnten, sich im Winter niemals in den Schatten setzen, damit man keine Lungenentzündung bekam, Zugwind vermeiden, von dem man blöd und schiefmäulig und glubschäugig wurde, keine Süßigkeiten von Fremden annehmen, die Schwindsüchtige auf der Suche nach frischem Kinderblut sein konnten, kein Gas einatmen, nicht an die Steckdosen fassen, nicht allzulange in diesen Apparat starren, den ich noch nie gesehen hatte, von dem es aber hieß, der reiche Bartolomé von der Plaza de San Lorenzo habe einen, ein Apparat wie ein Kino, viel kleiner allerdings und ohne Farbe, in dem man Stierkämpfe sah und die Reden von Franco."
So breit fließt der Strom von Antonio Muñoz Molinas Erzählprosa dahin, daß es nur schwer möglich ist, gelegentlich einen notdürftigen Damm zu errichten, um einen Abschnitt zum Zitat aufzustauen. Selten genug läßt ein Punkt die Kette der Satzteile abreißen, um dem Leser eine Verschnaufpause zu gewähren. Die Drohungen des Landlebens, die Delirien des Aberglaubens und die Risiken der Technik folgen Schlag auf Schlag. Im Alltag sind die altertümlichen Bauernregeln und die technische Modernisierung auf ebenso abgründige Weise einander beigeordnet wie im Fernsehen die Folklore der Toreros und die nationalkatholische Rhetorik des Diktators. Das erste Fernsehgerät war in einer andalusischen Kleinstadt der beginnenden sechziger Jahre anscheinend nicht weniger wunderbar als die Einführung des Eises in Macondo. Die Wunder von einst sind die Selbstverständlichkeiten von heute, und alle übersehen sie, nur die Historiker und die Schriftsteller nicht. Bei Antonio Muñoz Molina heißt der Ort der Handlung Mágina. Man sucht diesen Namen auf der spanischen Landkarte vergeblich, aber wer würde sich anheischig machen, Macondo auf der kolumbianischen ausfindig zu machen? Nun sind die Lage zwischen Flußaue und Gebirge, die Renaissancepaläste und die Straßennamen verräterische Indizien: Sie verweisen nämlich alle auf Ubeda, den in der Provinz Jaén gelegenen Geburtsort des Autors, und damit auf eine Poetik, die ihre Mitte nicht in der Erfindung, sondern in der Erinnerung hat.
Antonio Muñoz Molina schreibt gegen den Gedächtnisverlust an, den die spanische Gesellschaft allzu bereitwillig als Preis für den reibungslosen Übergang von einer autoritären zu einer demokratisch legitimierten Herrschaftsform entrichtete. Sein mit Abstand umfangreichster Roman "Der polnische Reiter", der ihm im Jahre 1991 den Premio Planeta bescherte, erzählt nicht in erster Linie von Kindheit und Jugend, Liebe und Tod in Mágina, sondern vom Erinnern und Vergessen. Die Handlung beginnt in der warmen Dunkelheit eines New Yorker Schlafzimmers, das sich bald vom Liebesnest in ein Kino der Erinnerung verwandelt. Das verschneite Manhattan bleibt draußen vor der Tür; in traulicher Umarmung deuten der Simultandolmetscher Manuel und seine Geliebte Nadia die Bruchstücke ihrer einsamen und doch manchmal gemeinsamen Vergangenheiten auf der anderen Seite des Atlantiks im fernen Andalusien.
Erst die geographische Distanz zu Spanien und die körperliche Nähe der Liebenden zueinander ermöglicht es ihnen, das Schweigen der früheren Generationen zu brechen und alle alten Wunden zu betrachten. Ihrem Gedächtnis hilft ein unförmiger Koffer auf die Sprünge. Er enthält unzählige vergilbte Photos aus Mágina, die der dort ansässige Porträtphotograph Ramiro Nadias kurz zuvor verstorbenem Vater hinterlassen hatte. Der ehemals in Mágina stationierte Kommandant Galaz war einer der wenigen Offiziere gewesen, die der republikanischen Regierung die Treue gehalten hatten. Deshalb blieb ihm nach dem Sieg der aufständischen Truppen Francos nur der Weg ins amerikanische Exil. Die in knappen Anspielungen aufgerufene politische Geschichte Spaniens bildet gewissermaßen den Unheilshorizont, vor dem sich die Familien-und die Alltagsgeschichte abspielen.
In jedem der drei Teile des Romans liegt das Schwergewicht auf einer jeweils anderen Zeitebene: Das "Reich der Stimmen" führt aus dem vergangenen Jahrhundert bis in die frühe Kindheit Manuels, denn das Echo der Ursprünge hallt nur aus den widersprüchlichen Stimmen der Vorfahren zurück. Es beschwört die archaische Welt der andalusischen Bauern, die im Zyklus der Jahreszeiten und im Bann jahrhundertealter Ehrbegriffe verläuft. "Reiter im Sturm" handelt von pubertärer Aufmüpfigkeit und Identitätssuche. Darauf weist bereits der einem Song von Jim Morrison entlehnte Zwischentitel hin. Manuel bereitet sich im Jahre 1973 auf sein Abitur vor und hat Aussicht auf ein Stipendium, das ihm den Ausbruch aus dem begrenzten Bezirk der Olivenhaine und weißgekalkten Häuser, dem als "Gefängnis" empfundenen Mágina in die große weite Welt eröffnen wird. Während der unglücklich in eine Klassenkameradin Verliebte auf Flucht sinnt und sich eine Zukunft als Rocksänger und Globetrotter ausmalt, proben Nadia und ihr Vater die Rückkehr nach Mágina. Der amerikanische Teenager findet Gefallen an der unbekannten Stadt, der spanische Offizier hat sich im Exil seiner früheren Heimat völlig entfremdet.
Sinnbild jener Ruhelosigkeit, die er mit seiner Tochter und auch mit Manuel teilt, ist Rembrandts rätselhaftes Gemälde "Der polnische Reiter" aus der New Yorker Frick Collection; eine Reproduktion hatte Galaz vor dem Bürgerkrieg in Mágina erworben, überallhin mitgenommen und dann Nadia weitervererbt. Im Zeichen des Reiters laufen schließlich achtzehn Jahre später, also in der unmittelbaren Gegenwart des Veröffentlichungsjahres, alle Fäden zusammen. Durch das unverhoffte Wiedersehen von Nadia und Manuel erst in Madrid, dann in New York werden sämtliche Wissenslücken gestopft. Nachdem beiden Hauptpersonen ihre Vergangenheit durchsichtig wurde, können sie sich auf das Wiedersehen in Mágina freuen.
Arno Schmidts Definition des Autors ("Ist Derjenige, dem ,ein Stock im Petticoat' beim Anblick dessen einfällt, wozu ein Leser zeitlebens ,Schirm' sagt") trifft auf Muñoz Molina weniger zu; überraschende Bilderfindungen sind seine Sache kaum. Die erotischen Szenen bleiben den im nachfrankistischen Spanien verbreiteten Klischees von "befreiter" Sexualität verpflichtet. Das Begehren wird behauptet, aber kaum sinnfällig in Sprache umgemünzt. Dagegen liegen Muñoz Molinas Stärken in der Konstruktion von Spannungsbögen und der raffinierten Streuung von Indizien. Erst ganz am Ende der Erzählung kann man sich einen Reim darauf machen, warum die Erinnerung an Mágina mit zwei haarsträubenden Episoden im Stil des Schauerromans einsetzte: In den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wird angeblich ein junger Arzt entführt, um heimlich eine Entbindung vorzunehmen; zwei Generationen später legt eine zufällig explodierende Granate in einem verlassenen Adelspalast die Mumie einer eingemauerten Frau frei. Im Jahre 1991 findet Manuel bei einem Antiquitätenhändler die Wachsnachbildung der ihm durch Photos und Berichte bekannten Toten und befragt den letzten überlebenden Zeitzeugen. Der Arzt Don Mercurio hatte die schöne Gräfin Agueda Dávalos heiß geliebt und, nachdem der Ehebruch entdeckt worden war, erst viele Jahre später als Mumie wiedergesehen. Die von ihm in Auftrag gegebene Wachsnachbildung sollte das Angedenken einer tödlichen Leidenschaft konservieren und steht jetzt für Touristen zum Verkauf. Die Frucht des Ehebruchs war wahrscheinlich niemand anders als der aus dem Findelhaus stammende und von einer Bauernfamilie aufgenommene Pedro Expósito ("Findelkind") - ein Urgroßvater Manuels. Auch wenn ein solche Vermutung nie ausgesprochen wird, so liegt sie doch nahe. Familienromane verzaubern Zufall in Notwendigkeit. Sie suggerieren Lösungen für die Rätsel der Herkunft und Hoffnungen für die Zukunft. Wie Wachsbildnisse oder vergilbte Photographien dienen sie der Erinnerung. Vielleicht sind sie die eigentlich moderne Form des Totenkults.
Antonio Muñoz Molina: "Der polnische Reiter".Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1995. 720 S., geb., 48,- DM.
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Antonio Muñoz Molina pflegt eine besondere Form des Totenkults / Von Max Grosse
Leben ist gefährlich. Besonders für kleine Kinder: "Nicht zu nah an die Katze kommen, damit sie einem nicht kratzte, nicht zu nah den Hufen der Pferde und Maultiere, da sie einem den Kopf zerschmettern konnten, bei stürmischem Wetter sich nicht unter die Regentraufen stellen, denn ein Dachziegel konnte herunterfallen oder eine Schlange einem in den Knöchel beißen, oder schlimmer noch, ins Haus gelangen und auf der Suche nach der Wärme eines Körpers unter die Bettdecke eines schlafenden Kindes gleiten, kein Wasser trinken, in das die Geckos gespien haben könnten, sich im Winter niemals in den Schatten setzen, damit man keine Lungenentzündung bekam, Zugwind vermeiden, von dem man blöd und schiefmäulig und glubschäugig wurde, keine Süßigkeiten von Fremden annehmen, die Schwindsüchtige auf der Suche nach frischem Kinderblut sein konnten, kein Gas einatmen, nicht an die Steckdosen fassen, nicht allzulange in diesen Apparat starren, den ich noch nie gesehen hatte, von dem es aber hieß, der reiche Bartolomé von der Plaza de San Lorenzo habe einen, ein Apparat wie ein Kino, viel kleiner allerdings und ohne Farbe, in dem man Stierkämpfe sah und die Reden von Franco."
So breit fließt der Strom von Antonio Muñoz Molinas Erzählprosa dahin, daß es nur schwer möglich ist, gelegentlich einen notdürftigen Damm zu errichten, um einen Abschnitt zum Zitat aufzustauen. Selten genug läßt ein Punkt die Kette der Satzteile abreißen, um dem Leser eine Verschnaufpause zu gewähren. Die Drohungen des Landlebens, die Delirien des Aberglaubens und die Risiken der Technik folgen Schlag auf Schlag. Im Alltag sind die altertümlichen Bauernregeln und die technische Modernisierung auf ebenso abgründige Weise einander beigeordnet wie im Fernsehen die Folklore der Toreros und die nationalkatholische Rhetorik des Diktators. Das erste Fernsehgerät war in einer andalusischen Kleinstadt der beginnenden sechziger Jahre anscheinend nicht weniger wunderbar als die Einführung des Eises in Macondo. Die Wunder von einst sind die Selbstverständlichkeiten von heute, und alle übersehen sie, nur die Historiker und die Schriftsteller nicht. Bei Antonio Muñoz Molina heißt der Ort der Handlung Mágina. Man sucht diesen Namen auf der spanischen Landkarte vergeblich, aber wer würde sich anheischig machen, Macondo auf der kolumbianischen ausfindig zu machen? Nun sind die Lage zwischen Flußaue und Gebirge, die Renaissancepaläste und die Straßennamen verräterische Indizien: Sie verweisen nämlich alle auf Ubeda, den in der Provinz Jaén gelegenen Geburtsort des Autors, und damit auf eine Poetik, die ihre Mitte nicht in der Erfindung, sondern in der Erinnerung hat.
Antonio Muñoz Molina schreibt gegen den Gedächtnisverlust an, den die spanische Gesellschaft allzu bereitwillig als Preis für den reibungslosen Übergang von einer autoritären zu einer demokratisch legitimierten Herrschaftsform entrichtete. Sein mit Abstand umfangreichster Roman "Der polnische Reiter", der ihm im Jahre 1991 den Premio Planeta bescherte, erzählt nicht in erster Linie von Kindheit und Jugend, Liebe und Tod in Mágina, sondern vom Erinnern und Vergessen. Die Handlung beginnt in der warmen Dunkelheit eines New Yorker Schlafzimmers, das sich bald vom Liebesnest in ein Kino der Erinnerung verwandelt. Das verschneite Manhattan bleibt draußen vor der Tür; in traulicher Umarmung deuten der Simultandolmetscher Manuel und seine Geliebte Nadia die Bruchstücke ihrer einsamen und doch manchmal gemeinsamen Vergangenheiten auf der anderen Seite des Atlantiks im fernen Andalusien.
Erst die geographische Distanz zu Spanien und die körperliche Nähe der Liebenden zueinander ermöglicht es ihnen, das Schweigen der früheren Generationen zu brechen und alle alten Wunden zu betrachten. Ihrem Gedächtnis hilft ein unförmiger Koffer auf die Sprünge. Er enthält unzählige vergilbte Photos aus Mágina, die der dort ansässige Porträtphotograph Ramiro Nadias kurz zuvor verstorbenem Vater hinterlassen hatte. Der ehemals in Mágina stationierte Kommandant Galaz war einer der wenigen Offiziere gewesen, die der republikanischen Regierung die Treue gehalten hatten. Deshalb blieb ihm nach dem Sieg der aufständischen Truppen Francos nur der Weg ins amerikanische Exil. Die in knappen Anspielungen aufgerufene politische Geschichte Spaniens bildet gewissermaßen den Unheilshorizont, vor dem sich die Familien-und die Alltagsgeschichte abspielen.
In jedem der drei Teile des Romans liegt das Schwergewicht auf einer jeweils anderen Zeitebene: Das "Reich der Stimmen" führt aus dem vergangenen Jahrhundert bis in die frühe Kindheit Manuels, denn das Echo der Ursprünge hallt nur aus den widersprüchlichen Stimmen der Vorfahren zurück. Es beschwört die archaische Welt der andalusischen Bauern, die im Zyklus der Jahreszeiten und im Bann jahrhundertealter Ehrbegriffe verläuft. "Reiter im Sturm" handelt von pubertärer Aufmüpfigkeit und Identitätssuche. Darauf weist bereits der einem Song von Jim Morrison entlehnte Zwischentitel hin. Manuel bereitet sich im Jahre 1973 auf sein Abitur vor und hat Aussicht auf ein Stipendium, das ihm den Ausbruch aus dem begrenzten Bezirk der Olivenhaine und weißgekalkten Häuser, dem als "Gefängnis" empfundenen Mágina in die große weite Welt eröffnen wird. Während der unglücklich in eine Klassenkameradin Verliebte auf Flucht sinnt und sich eine Zukunft als Rocksänger und Globetrotter ausmalt, proben Nadia und ihr Vater die Rückkehr nach Mágina. Der amerikanische Teenager findet Gefallen an der unbekannten Stadt, der spanische Offizier hat sich im Exil seiner früheren Heimat völlig entfremdet.
Sinnbild jener Ruhelosigkeit, die er mit seiner Tochter und auch mit Manuel teilt, ist Rembrandts rätselhaftes Gemälde "Der polnische Reiter" aus der New Yorker Frick Collection; eine Reproduktion hatte Galaz vor dem Bürgerkrieg in Mágina erworben, überallhin mitgenommen und dann Nadia weitervererbt. Im Zeichen des Reiters laufen schließlich achtzehn Jahre später, also in der unmittelbaren Gegenwart des Veröffentlichungsjahres, alle Fäden zusammen. Durch das unverhoffte Wiedersehen von Nadia und Manuel erst in Madrid, dann in New York werden sämtliche Wissenslücken gestopft. Nachdem beiden Hauptpersonen ihre Vergangenheit durchsichtig wurde, können sie sich auf das Wiedersehen in Mágina freuen.
Arno Schmidts Definition des Autors ("Ist Derjenige, dem ,ein Stock im Petticoat' beim Anblick dessen einfällt, wozu ein Leser zeitlebens ,Schirm' sagt") trifft auf Muñoz Molina weniger zu; überraschende Bilderfindungen sind seine Sache kaum. Die erotischen Szenen bleiben den im nachfrankistischen Spanien verbreiteten Klischees von "befreiter" Sexualität verpflichtet. Das Begehren wird behauptet, aber kaum sinnfällig in Sprache umgemünzt. Dagegen liegen Muñoz Molinas Stärken in der Konstruktion von Spannungsbögen und der raffinierten Streuung von Indizien. Erst ganz am Ende der Erzählung kann man sich einen Reim darauf machen, warum die Erinnerung an Mágina mit zwei haarsträubenden Episoden im Stil des Schauerromans einsetzte: In den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wird angeblich ein junger Arzt entführt, um heimlich eine Entbindung vorzunehmen; zwei Generationen später legt eine zufällig explodierende Granate in einem verlassenen Adelspalast die Mumie einer eingemauerten Frau frei. Im Jahre 1991 findet Manuel bei einem Antiquitätenhändler die Wachsnachbildung der ihm durch Photos und Berichte bekannten Toten und befragt den letzten überlebenden Zeitzeugen. Der Arzt Don Mercurio hatte die schöne Gräfin Agueda Dávalos heiß geliebt und, nachdem der Ehebruch entdeckt worden war, erst viele Jahre später als Mumie wiedergesehen. Die von ihm in Auftrag gegebene Wachsnachbildung sollte das Angedenken einer tödlichen Leidenschaft konservieren und steht jetzt für Touristen zum Verkauf. Die Frucht des Ehebruchs war wahrscheinlich niemand anders als der aus dem Findelhaus stammende und von einer Bauernfamilie aufgenommene Pedro Expósito ("Findelkind") - ein Urgroßvater Manuels. Auch wenn ein solche Vermutung nie ausgesprochen wird, so liegt sie doch nahe. Familienromane verzaubern Zufall in Notwendigkeit. Sie suggerieren Lösungen für die Rätsel der Herkunft und Hoffnungen für die Zukunft. Wie Wachsbildnisse oder vergilbte Photographien dienen sie der Erinnerung. Vielleicht sind sie die eigentlich moderne Form des Totenkults.
Antonio Muñoz Molina: "Der polnische Reiter".Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1995. 720 S., geb., 48,- DM.
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