Eine Zeitreise in ein längst vergessenes Italien.
Süditalien 1969. Im verschlafenen Girifalco geht alles seinen gewohnten Gang - die anstehenden Kommunalwahlen sind schon das Aufregendste, was auf absehbare Zeit zu erwarten ist. Doch im Geheimen zieht ein guter Geist die Fäden, ohne dass die anderen Dorfbewohner es ahnen: Denn der Postbote des Ortes ist ein melancholischer Einzelgänger, der die Philosophie liebt und Zufälle sammelt - und nebenbei heimlich in den Briefverkehr des Dorfes eingreift. So versucht er, den Dingen die richtige Richtung zu geben.
Unglücklich Liebende werden zusammengeführt, politische und amouröse Betrugsversuche verhindert, und Mütter bekommen plötzlich Post von ihren in der Ferne verschollen geglaubten Söhnen. Der Postbote von Girifalco scheint sich in seinem zurückgezogenen Dasein eingerichtet zu haben - bis ein mysteriöser Brief aus der Vergangenheit auftaucht, der das Dorfleben im Allgemeinen und seines im Besonderen gehörig ins Wanken bringt. Ein charmanter, lustiger, rührender Roman mit einem zu Herzen gehenden Protagonisten, der uns mitnimmt auf eine nostalgische Italienreise.Im Buch finden Sie ein ausführliches Verzeichnis der agierenden Personen.
Süditalien 1969. Im verschlafenen Girifalco geht alles seinen gewohnten Gang - die anstehenden Kommunalwahlen sind schon das Aufregendste, was auf absehbare Zeit zu erwarten ist. Doch im Geheimen zieht ein guter Geist die Fäden, ohne dass die anderen Dorfbewohner es ahnen: Denn der Postbote des Ortes ist ein melancholischer Einzelgänger, der die Philosophie liebt und Zufälle sammelt - und nebenbei heimlich in den Briefverkehr des Dorfes eingreift. So versucht er, den Dingen die richtige Richtung zu geben.
Unglücklich Liebende werden zusammengeführt, politische und amouröse Betrugsversuche verhindert, und Mütter bekommen plötzlich Post von ihren in der Ferne verschollen geglaubten Söhnen. Der Postbote von Girifalco scheint sich in seinem zurückgezogenen Dasein eingerichtet zu haben - bis ein mysteriöser Brief aus der Vergangenheit auftaucht, der das Dorfleben im Allgemeinen und seines im Besonderen gehörig ins Wanken bringt. Ein charmanter, lustiger, rührender Roman mit einem zu Herzen gehenden Protagonisten, der uns mitnimmt auf eine nostalgische Italienreise.Im Buch finden Sie ein ausführliches Verzeichnis der agierenden Personen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Knapp, aber begeistert bespricht Mira Nagel diesen Debütroman des italienischen Autors Domenico Dara, der ihr die Geschichte eines einsamen Postboten in einem italienischen Dorf der Sechziger erzählt, der mitunter in die zuzustellenden Briefe eingreift und Schicksal spielt. Wenn Daras Held schließlich in einem Brief auf eine tragische Liebesgeschichte und ein zurückliegendes Verbrechen stößt, nimmt die Story an Tempo auf, versichert die Kritikerin, die dem Postboten dank Daras "subtiler" Erzählweise da aber schon längst näher gekommen ist. Und wie der Autor einzelne Geschichten verknüpft, dabei philosophische Exkurse einbaut und Leseerwartungen unterläuft, hat Nagel ebenfalls gut gefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2019Wenn der Postmann zu oft klingelt
Philosophie im Taschenformat: Domenico Dara hat einen schrulligen Roman über den Zufall geschrieben
Zum Zufall unterhält die Literatur eine zwiespältige Beziehung. Bei der Niederschrift kann sie ihn nicht mögen: Ein gelungenes Werk ist eines, in dem alle Teile zusammenpassen, und sei es dadurch, dass sie grell kontrastieren - zufällig darf hier nichts sein. Als Handlungselement hingegen ist der Zufall literarisch fruchtbar: Große wie Robert Musil oder Luigi Pirandello haben ihn genutzt, um die Form des Romans neu zu erfinden; ihre von der Kontingenz gebeutelten Charaktere sind gerade deshalb als offene entworfen. Auch der Umkehrschluss gilt für die moderne Literatur: je kontrollierter ihre Welt, desto größer die Kitschgefahr.
In "Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall" erzählt Domenico Dara von einem Briefträger, der sich Zufälle notiert. Zu Beginn der Handlung ist er bei Nr. 438 angekommen; es ist der 7. April 1969, die Amerikaner schicken Menschen gen Mond. Ziel des Beamten ist nicht, dem Zufall auf die Spur zu kommen, im Gegenteil, er will ihn ausschalten: "Nichts auf der Welt geschah zufällig, nichts wurde zerstört und nichts erschaffen, sondern alles verwandelte sich auf sinnvolle Weise." Der einsame Träumer, der bei anderen mitlebt, statt die eigene Existenz zu gestalten, will den verborgenen Sinn im Leben entdecken, die Fäden zu einem verständlichen Ganzen binden. Tatsächlich werden dreieinhalb Monate und 27 Zufälle später mehrere Geschichten abgeschlossen und die Aufgabe des Postboten erfüllt sein.
Das erzählt Dara in einem vitalen Roman: Girifalco wimmelt so sehr von sinnenfrohen und schrulligen Figuren, dass sie in einem vierseitigen Verzeichnis am Ende resümiert werden. Die kalabrische Fülle trägt jedes einzelne Kapitel durch seine Überschrift, die gern Existentielles und Sinnliches, Poetisches und Kulinarisches mixt, wie überreife Tomaten in einem Bauchladen vor sich her: "Von Vonella, der freiwillig nach Russland fährt, von einem Flämmchen, das allmählich erlischt, von einem ungewöhnlichen bösen Blick, von Bratkartoffeln mit Paprika und von einer Fotografie vergangener Sorglosigkeit". Auch wenn das Städtchen real existiert und Dara in Girifalco aufgewachsen ist, bedient der Roman doch das, was man so an stereotypen Erwartungen haben könnte: Es begegnen darin kupplerische Tanten, dralle Damen, die das Gemächt des Priesteranwärters erobern, korrupte christdemokratische Bürgermeister, die die Landschaft mit Mülldeponien verschandeln möchten, knorrige, sauflustige und analphabetische Kommunisten oder eben ein Postbote, der heimlich Briefe öffnet und das Schicksal seiner Mitmenschen in bessere Bahnen zu leiten sucht.
Im Zentrum des Buches stehen die Briefe eines Unbekannten an Teresa Sperarò, eine verheiratete Frau und Mutter: Offensichtlich handelt es sich um eine Stimme aus der Vergangenheit, die eine frühere Liebe wiederbeleben möchte. Der Briefträger stellt seine Nachforschungen an und kommt darauf, dass es sich um Salvatore Crisante handeln muss, Teresas ehemaligen Verlobten, der wegen einer Vergewaltigung, die er nicht begangen hatte, zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde. Diese Liebe nimmt den Postboten ganz in Beschlag: Sie lässt die Erinnerung an seine verflossene Leidenschaft für Rosa wieder aufleben und führt ihn sogar in das bislang gemiedene Nachbardorf San Floro, wo sein Vater, der seine Mutter und ihn verlassen hatte, sein Leben verbracht hat.
Mit seinem Debüt hat der 1971 geborene Domenico Dara viel Erfolg bei Publikum, Kritik und den Juroren diverser Preise erzielt. Teils kann man es nachvollziehen: Die Charaktere sind sympathisch, vorneweg der philosophierende Postbote; es wimmelt an saftigen Anekdoten und malerischen Details, die Geschichte wird flott erzählt, die eine oder andere Wendung der Hauptintrige um Teresa spielt die Lesererwartung elegant aus. Die allermeisten tun das allerdings leider nicht: "Der Postbote von Girifalco" läuft mit einem gutbestückten Vorrat an Klischees über den Markt und versucht, sie alle an den Mann zu bringen. Zu Geschlechterrollen: "Der arme Kerl! Seine Frau war das einzig Schöne, das ihm das Leben geschenkt hatte; nur in ihren Armen und zwischen ihren Beinen empfand er Freude, und jetzt drohte er durch die Launen eines Frauenhelds im Westentaschenformat, eines figghiu de puttana, alles zu verlieren." Zu Leben und Liebe (hier mit den Worten des Postboten): "Alles geht zu Ende, denn wir sind Früchte am Baum, aber manchmal ist etwas, das wie ein Ende aussieht, der Beginn einer anderen Geschichte, und so wird unsere Liebe wiedergeboren werden, Teresa, denn manchmal brauchen Schicksale mehr als ein Leben, um sich zu erfüllen." Zu Büchern: "Es war, wie wenn die Bücher ihm die Augen öffneten und ihm andere Länder und Menschen zeigten."
Dara liefert mehr oder weniger gehobene Unterhaltung, und man wundert sich, dass die Juroren des renommierten Italo-Calvino-Preises, der nicht publizierte Erstlingswerke auszeichnet, den Roman in die engere Auswahl genommen haben. Denn der süditalienische Mikrokosmos wird im Postkartenformat geliefert, da helfen auch Homer- und Dante-Anspielungen nichts. Und der Zufall, diese Zumutung, die in Reinform nur wenige ertragen, hat in Daras Welt wenig zu suchen: Ihn ersetzt ein Aufguss poetischer Gerechtigkeit, in Hochglanz, mit Sepiatönung.
NIKLAS BENDER
Domenico Dara: "Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall". Roman.
Aus dem Italienischen von Anja Mehrmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 480 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philosophie im Taschenformat: Domenico Dara hat einen schrulligen Roman über den Zufall geschrieben
Zum Zufall unterhält die Literatur eine zwiespältige Beziehung. Bei der Niederschrift kann sie ihn nicht mögen: Ein gelungenes Werk ist eines, in dem alle Teile zusammenpassen, und sei es dadurch, dass sie grell kontrastieren - zufällig darf hier nichts sein. Als Handlungselement hingegen ist der Zufall literarisch fruchtbar: Große wie Robert Musil oder Luigi Pirandello haben ihn genutzt, um die Form des Romans neu zu erfinden; ihre von der Kontingenz gebeutelten Charaktere sind gerade deshalb als offene entworfen. Auch der Umkehrschluss gilt für die moderne Literatur: je kontrollierter ihre Welt, desto größer die Kitschgefahr.
In "Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall" erzählt Domenico Dara von einem Briefträger, der sich Zufälle notiert. Zu Beginn der Handlung ist er bei Nr. 438 angekommen; es ist der 7. April 1969, die Amerikaner schicken Menschen gen Mond. Ziel des Beamten ist nicht, dem Zufall auf die Spur zu kommen, im Gegenteil, er will ihn ausschalten: "Nichts auf der Welt geschah zufällig, nichts wurde zerstört und nichts erschaffen, sondern alles verwandelte sich auf sinnvolle Weise." Der einsame Träumer, der bei anderen mitlebt, statt die eigene Existenz zu gestalten, will den verborgenen Sinn im Leben entdecken, die Fäden zu einem verständlichen Ganzen binden. Tatsächlich werden dreieinhalb Monate und 27 Zufälle später mehrere Geschichten abgeschlossen und die Aufgabe des Postboten erfüllt sein.
Das erzählt Dara in einem vitalen Roman: Girifalco wimmelt so sehr von sinnenfrohen und schrulligen Figuren, dass sie in einem vierseitigen Verzeichnis am Ende resümiert werden. Die kalabrische Fülle trägt jedes einzelne Kapitel durch seine Überschrift, die gern Existentielles und Sinnliches, Poetisches und Kulinarisches mixt, wie überreife Tomaten in einem Bauchladen vor sich her: "Von Vonella, der freiwillig nach Russland fährt, von einem Flämmchen, das allmählich erlischt, von einem ungewöhnlichen bösen Blick, von Bratkartoffeln mit Paprika und von einer Fotografie vergangener Sorglosigkeit". Auch wenn das Städtchen real existiert und Dara in Girifalco aufgewachsen ist, bedient der Roman doch das, was man so an stereotypen Erwartungen haben könnte: Es begegnen darin kupplerische Tanten, dralle Damen, die das Gemächt des Priesteranwärters erobern, korrupte christdemokratische Bürgermeister, die die Landschaft mit Mülldeponien verschandeln möchten, knorrige, sauflustige und analphabetische Kommunisten oder eben ein Postbote, der heimlich Briefe öffnet und das Schicksal seiner Mitmenschen in bessere Bahnen zu leiten sucht.
Im Zentrum des Buches stehen die Briefe eines Unbekannten an Teresa Sperarò, eine verheiratete Frau und Mutter: Offensichtlich handelt es sich um eine Stimme aus der Vergangenheit, die eine frühere Liebe wiederbeleben möchte. Der Briefträger stellt seine Nachforschungen an und kommt darauf, dass es sich um Salvatore Crisante handeln muss, Teresas ehemaligen Verlobten, der wegen einer Vergewaltigung, die er nicht begangen hatte, zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde. Diese Liebe nimmt den Postboten ganz in Beschlag: Sie lässt die Erinnerung an seine verflossene Leidenschaft für Rosa wieder aufleben und führt ihn sogar in das bislang gemiedene Nachbardorf San Floro, wo sein Vater, der seine Mutter und ihn verlassen hatte, sein Leben verbracht hat.
Mit seinem Debüt hat der 1971 geborene Domenico Dara viel Erfolg bei Publikum, Kritik und den Juroren diverser Preise erzielt. Teils kann man es nachvollziehen: Die Charaktere sind sympathisch, vorneweg der philosophierende Postbote; es wimmelt an saftigen Anekdoten und malerischen Details, die Geschichte wird flott erzählt, die eine oder andere Wendung der Hauptintrige um Teresa spielt die Lesererwartung elegant aus. Die allermeisten tun das allerdings leider nicht: "Der Postbote von Girifalco" läuft mit einem gutbestückten Vorrat an Klischees über den Markt und versucht, sie alle an den Mann zu bringen. Zu Geschlechterrollen: "Der arme Kerl! Seine Frau war das einzig Schöne, das ihm das Leben geschenkt hatte; nur in ihren Armen und zwischen ihren Beinen empfand er Freude, und jetzt drohte er durch die Launen eines Frauenhelds im Westentaschenformat, eines figghiu de puttana, alles zu verlieren." Zu Leben und Liebe (hier mit den Worten des Postboten): "Alles geht zu Ende, denn wir sind Früchte am Baum, aber manchmal ist etwas, das wie ein Ende aussieht, der Beginn einer anderen Geschichte, und so wird unsere Liebe wiedergeboren werden, Teresa, denn manchmal brauchen Schicksale mehr als ein Leben, um sich zu erfüllen." Zu Büchern: "Es war, wie wenn die Bücher ihm die Augen öffneten und ihm andere Länder und Menschen zeigten."
Dara liefert mehr oder weniger gehobene Unterhaltung, und man wundert sich, dass die Juroren des renommierten Italo-Calvino-Preises, der nicht publizierte Erstlingswerke auszeichnet, den Roman in die engere Auswahl genommen haben. Denn der süditalienische Mikrokosmos wird im Postkartenformat geliefert, da helfen auch Homer- und Dante-Anspielungen nichts. Und der Zufall, diese Zumutung, die in Reinform nur wenige ertragen, hat in Daras Welt wenig zu suchen: Ihn ersetzt ein Aufguss poetischer Gerechtigkeit, in Hochglanz, mit Sepiatönung.
NIKLAS BENDER
Domenico Dara: "Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall". Roman.
Aus dem Italienischen von Anja Mehrmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 480 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2019Drei Aperol Spritz und ein gezuckerter Campari
Je krisenhafter das reale Italien, desto erfolgreicher seine literarische Idyllisierung: Domenico Daras „Der Postbote von Girifalco“
Das Lebens- und Selbstwertgefühl der Italiener hat in den letzten Jahren, aus Gründen, die fast jeden Tag in der Zeitung stehen, erhebliche Blessuren erlitten. Proportional dazu ist der Traum von Italien, die einst so zuverlässige Mixtur aus Südsehnsucht, Kulturschwärmerei und Dolce-vita-Fantasien, selbst in deutschen Gemütern spürbar verblasst.
Der 1971 in Kalabrien geborene Lehrer und Schriftsteller Domenico Dara hat schon vor geraumer Zeit erkannt, was seine Landsleute und ihre enttäuschten Liebhaber in dieser Lage dringend brauchen: den fiktionalen Rückzug in ein trostspendendes Italien der Vergangenheit, das es so vielleicht nie gegeben hat, das aber dennoch im kollektiven Gedächtnis etabliert ist, über Jahrzehnte gespeist aus Reiseeindrücken, Filmen, Büchern, Liedern und kulinarischen Reminiszenzen.
Daras im Jahr 1969 angesiedelter Debütroman, der 2014 unter dem Titel „Breve trattato sulle coincidenze“ (Kurze Abhandlung über den Zufall) erschien, wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet, von Publikum und Kritik bejubelt. Erst jetzt liegt die deutsche Übersetzung vor, die „Der Postbote von Girifalco“ heißt und sich nur im Untertitel „Eine kurze Geschichte über den Zufall“ nennt. Ein kluger Schachzug. Der Briefträger als Held – welcher reifere Leser dächte da nicht an den Film „Il Postino“, der vor einem Vierteljahrhundert, mit dem unvergleichlichen Massimo Troisi in der Hauptrolle, auf zwei süditalienischen Inseln gedreht wurde und vergessen ließ, dass die literarische Vorlage von dem Argentinier Antonio Skàrmeta stammte? Girifalco wiederum ist der Name des kalabrischen Bergstädtchens, in dem Domenico Dara aufwuchs, was seine Milieuschilderungen und sein Figurenarsenal zumindest teilweise als authentisch beglaubigt.
Der Autor spielt damit in seiner Nachbemerkung, die gewitzt auf das Romanthema verweist. Nach dem Aufsagen des Sprüchleins, jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen beruhe auf „reinem Zufall“, zählt er, als „Ausnahme“, knapp zwanzig seiner Figuren auf, die „tatsächlich leben oder gelebt haben“. Es kommen, wie ein Verzeichnis am Schluss erhellt, noch mehr als zwanzig hinzu, die frei erfunden sind. Etliche dieser Gestalten verkörpern sind mehr oder weniger schrullige Typen, die man aus eigener landeskundlicher Erfahrung wiederzuerkennen meint. Die pittoreske Kleinstadt (damals, zum Zeitpunkt der Mondlandung, noch eher ein Dorf) wird zum Kosmos aufgeblasen wie ein bunter Luftballon. Wer Italien mit dem Klischee lebenspraller Opulenz verbindet, kommt hier auf seine Kosten.
Und dann der Postbote, dessen Berufsbild als solches schon das verlorene Paradies der Langsamkeit repräsentiert. Genau wie jener „Postino“ ist auch dieser Protagonist ein versponnener Einzelgänger, ein schüchterner Träumer. Aber er besitzt darüber hinaus viele staunenswerte Eigenschaften. Er ist belesen, kennt sich in der griechischen Mythologie aus, kann jede Handschrift perfekt imitieren und philosophiert, sichtlich unter dem Einfluss fernöstlicher Lehren, über den Sinn des Daseins, den verborgenen Faden, der alle Dinge und Wesen miteinander verbindet.
Vom Erkenntnisdrang beflügelt, notiert er Zufälle, nur um nachzuweisen, dass es keinen Zufall gibt. Zwecks Beweisführung aber greift er, der sich nicht traut, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen, mit großer Empathie und Tatkraft in das Schicksal seiner Mitmenschen ein. Er öffnet Briefe, verzögert sie, leitet sie um und schreibt notfalls selbst welche, stets auf der Basis gewissenhafter Nachforschungen und mit Hilfe eines liebevoll gepflegten Archivs. Alles soll zum Besseren gelenkt werden, was bisweilen erfordert, traurige Mitteilungen durch hoffnungsvolle zu ersetzen.
Bei den Verwicklungen, denen er durch sein Treiben auf die Spur kommt, handelt es sich vornehmlich um herzzerreißende Liebesgeschichten, nicht zuletzt um seine eigene, die er schon abgeschlossen wähnte. Dass dieser Götterbote und Postillon d’amour in Personalunion auch noch einen korrupten Bürgermeister daran hindert, den Wald auf dem Monte Covello in eine Mülldeponie umzufunktionieren, wirkt dazwischen wie ein minimales Zugeständnis an die italienische Wirklichkeit.
Der (sehr fein übersetzte) Roman enthält Bilder und Beobachtungen, die das Zeug dazu hätten, sich tief einzuprägen, etwa die Szene, in der Dara die täglich auf dem Hauptplatz sich einfindenden Dorfbewohner mit jenen beweglichen Krippenfiguren vergleicht, die in Italien zum Weihnachtszauber gehören: „Die Männer auf der Piazza waren wie der Bäcker, der gegen einen Glückspfennig das Brot in den Ofen schob und es wieder herausholte, sie waren wie der Schmied, der langsam mit dem Hammer auf den Amboss schlug, sie waren wie die Schäfchen, die in einer Höhle verschwanden und gleich wieder herauskamen, sie waren wie der melancholische Komet, der am sternenklaren Himmel aufstieg und wieder herabstürzte.“
Leider gehen solche kleinen Perlen unter in einem Erzählstrom, der sich an seinem Überfluss an Metaphern, poetischen Wendungen, malerischen Details und rührenden Einfällen unaufhörlich zu berauschen scheint. Am Ende fühlt man sich, als hätte man drei Aperol Spritz und einen gezuckerten Cappuccino getrunken, und sehnt sich nach einem pechschwarzen, bitteren Caffè, dem „anderen Italien“.
Dann kann man auf die Idee verfallen, sich für das reale Girifalco zu interessieren, das in der Region den traditionellen Beinamen „il paese dei pazzi“ trägt, „das Dorf der Verrückten“. Er bezieht sich zwar auch auf eine Tendenz der Einwohner zum Abseitigen und Kauzigen, in erster Linie jedoch darauf, dass dort im Jahr 1880 in einem ehemaligen Konvent eine der größten psychiatrischen Anstalten Süditaliens eingerichtet wurde – eine Institution, die im Laufe ihrer Geschichte einige dunkle Seiten offenbarte. In Daras Buch wird sie nur beiläufig erwähnt. Der Autor hat seine Verklärung des Ortes zum Idyll unterdessen mit einem zweiten Roman fortgesetzt, für den er den renommierten „Premio Strega“ erhielt. Immerhin soll darin ein Verrückter vorkommen.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Domenico Dara: Der Postbote von Girifalco. Roman. Aus dem Italienischen von Anja Mehrmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 477 S., 23 Euro.
Zufälle notiert der Postbote nur,
um nachzuweisen,
dass es keine Zufälle gibt
Jenseits der kleinen Stadt: Landschaft bei Girifalco.
Foto: HUBER IMAGES
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Je krisenhafter das reale Italien, desto erfolgreicher seine literarische Idyllisierung: Domenico Daras „Der Postbote von Girifalco“
Das Lebens- und Selbstwertgefühl der Italiener hat in den letzten Jahren, aus Gründen, die fast jeden Tag in der Zeitung stehen, erhebliche Blessuren erlitten. Proportional dazu ist der Traum von Italien, die einst so zuverlässige Mixtur aus Südsehnsucht, Kulturschwärmerei und Dolce-vita-Fantasien, selbst in deutschen Gemütern spürbar verblasst.
Der 1971 in Kalabrien geborene Lehrer und Schriftsteller Domenico Dara hat schon vor geraumer Zeit erkannt, was seine Landsleute und ihre enttäuschten Liebhaber in dieser Lage dringend brauchen: den fiktionalen Rückzug in ein trostspendendes Italien der Vergangenheit, das es so vielleicht nie gegeben hat, das aber dennoch im kollektiven Gedächtnis etabliert ist, über Jahrzehnte gespeist aus Reiseeindrücken, Filmen, Büchern, Liedern und kulinarischen Reminiszenzen.
Daras im Jahr 1969 angesiedelter Debütroman, der 2014 unter dem Titel „Breve trattato sulle coincidenze“ (Kurze Abhandlung über den Zufall) erschien, wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet, von Publikum und Kritik bejubelt. Erst jetzt liegt die deutsche Übersetzung vor, die „Der Postbote von Girifalco“ heißt und sich nur im Untertitel „Eine kurze Geschichte über den Zufall“ nennt. Ein kluger Schachzug. Der Briefträger als Held – welcher reifere Leser dächte da nicht an den Film „Il Postino“, der vor einem Vierteljahrhundert, mit dem unvergleichlichen Massimo Troisi in der Hauptrolle, auf zwei süditalienischen Inseln gedreht wurde und vergessen ließ, dass die literarische Vorlage von dem Argentinier Antonio Skàrmeta stammte? Girifalco wiederum ist der Name des kalabrischen Bergstädtchens, in dem Domenico Dara aufwuchs, was seine Milieuschilderungen und sein Figurenarsenal zumindest teilweise als authentisch beglaubigt.
Der Autor spielt damit in seiner Nachbemerkung, die gewitzt auf das Romanthema verweist. Nach dem Aufsagen des Sprüchleins, jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen beruhe auf „reinem Zufall“, zählt er, als „Ausnahme“, knapp zwanzig seiner Figuren auf, die „tatsächlich leben oder gelebt haben“. Es kommen, wie ein Verzeichnis am Schluss erhellt, noch mehr als zwanzig hinzu, die frei erfunden sind. Etliche dieser Gestalten verkörpern sind mehr oder weniger schrullige Typen, die man aus eigener landeskundlicher Erfahrung wiederzuerkennen meint. Die pittoreske Kleinstadt (damals, zum Zeitpunkt der Mondlandung, noch eher ein Dorf) wird zum Kosmos aufgeblasen wie ein bunter Luftballon. Wer Italien mit dem Klischee lebenspraller Opulenz verbindet, kommt hier auf seine Kosten.
Und dann der Postbote, dessen Berufsbild als solches schon das verlorene Paradies der Langsamkeit repräsentiert. Genau wie jener „Postino“ ist auch dieser Protagonist ein versponnener Einzelgänger, ein schüchterner Träumer. Aber er besitzt darüber hinaus viele staunenswerte Eigenschaften. Er ist belesen, kennt sich in der griechischen Mythologie aus, kann jede Handschrift perfekt imitieren und philosophiert, sichtlich unter dem Einfluss fernöstlicher Lehren, über den Sinn des Daseins, den verborgenen Faden, der alle Dinge und Wesen miteinander verbindet.
Vom Erkenntnisdrang beflügelt, notiert er Zufälle, nur um nachzuweisen, dass es keinen Zufall gibt. Zwecks Beweisführung aber greift er, der sich nicht traut, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen, mit großer Empathie und Tatkraft in das Schicksal seiner Mitmenschen ein. Er öffnet Briefe, verzögert sie, leitet sie um und schreibt notfalls selbst welche, stets auf der Basis gewissenhafter Nachforschungen und mit Hilfe eines liebevoll gepflegten Archivs. Alles soll zum Besseren gelenkt werden, was bisweilen erfordert, traurige Mitteilungen durch hoffnungsvolle zu ersetzen.
Bei den Verwicklungen, denen er durch sein Treiben auf die Spur kommt, handelt es sich vornehmlich um herzzerreißende Liebesgeschichten, nicht zuletzt um seine eigene, die er schon abgeschlossen wähnte. Dass dieser Götterbote und Postillon d’amour in Personalunion auch noch einen korrupten Bürgermeister daran hindert, den Wald auf dem Monte Covello in eine Mülldeponie umzufunktionieren, wirkt dazwischen wie ein minimales Zugeständnis an die italienische Wirklichkeit.
Der (sehr fein übersetzte) Roman enthält Bilder und Beobachtungen, die das Zeug dazu hätten, sich tief einzuprägen, etwa die Szene, in der Dara die täglich auf dem Hauptplatz sich einfindenden Dorfbewohner mit jenen beweglichen Krippenfiguren vergleicht, die in Italien zum Weihnachtszauber gehören: „Die Männer auf der Piazza waren wie der Bäcker, der gegen einen Glückspfennig das Brot in den Ofen schob und es wieder herausholte, sie waren wie der Schmied, der langsam mit dem Hammer auf den Amboss schlug, sie waren wie die Schäfchen, die in einer Höhle verschwanden und gleich wieder herauskamen, sie waren wie der melancholische Komet, der am sternenklaren Himmel aufstieg und wieder herabstürzte.“
Leider gehen solche kleinen Perlen unter in einem Erzählstrom, der sich an seinem Überfluss an Metaphern, poetischen Wendungen, malerischen Details und rührenden Einfällen unaufhörlich zu berauschen scheint. Am Ende fühlt man sich, als hätte man drei Aperol Spritz und einen gezuckerten Cappuccino getrunken, und sehnt sich nach einem pechschwarzen, bitteren Caffè, dem „anderen Italien“.
Dann kann man auf die Idee verfallen, sich für das reale Girifalco zu interessieren, das in der Region den traditionellen Beinamen „il paese dei pazzi“ trägt, „das Dorf der Verrückten“. Er bezieht sich zwar auch auf eine Tendenz der Einwohner zum Abseitigen und Kauzigen, in erster Linie jedoch darauf, dass dort im Jahr 1880 in einem ehemaligen Konvent eine der größten psychiatrischen Anstalten Süditaliens eingerichtet wurde – eine Institution, die im Laufe ihrer Geschichte einige dunkle Seiten offenbarte. In Daras Buch wird sie nur beiläufig erwähnt. Der Autor hat seine Verklärung des Ortes zum Idyll unterdessen mit einem zweiten Roman fortgesetzt, für den er den renommierten „Premio Strega“ erhielt. Immerhin soll darin ein Verrückter vorkommen.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Domenico Dara: Der Postbote von Girifalco. Roman. Aus dem Italienischen von Anja Mehrmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 477 S., 23 Euro.
Zufälle notiert der Postbote nur,
um nachzuweisen,
dass es keine Zufälle gibt
Jenseits der kleinen Stadt: Landschaft bei Girifalco.
Foto: HUBER IMAGES
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»ein toller Roman voller italienischer Gefühle« Franziska Schleicher rezensoehnchen.de 20190808