Die deutsche Einigung 1989/90 bildete eine tiefe Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte. Auf der Basis bisher unveröffentlichter Quellen und Interviews mit Zeitzeugen kann Gerhard Ritter zeigen, daß die Übertragung des relativ großzügigen westdeutschen Sozialsystems und seiner Institutionen auf die neuen Bundesländer und die damit verbundenen gewaltigen Transferleistungen die Rahmenbedingungen der deutschen Politik und Wirtschaft entscheidend veränderten und damit die Krise des Sozialstaates verschärften. Dieses Buch liefert die längst fällige gründliche Analyse des deutschen Einungsprozesses in sozialpolitischer Hinsicht und ist zugleich eine einzigartige Dokumentation dieses Prozesses mit einem Schatz an authentischen Äußerungen der direkt daran Beteiligten. Nach einer Erörterung der internationalen, innenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen stellt der Band die intensiven Verhandlungen dar, die schließlich zur Übertragung des bundesdeutschen Systems der sozialen Sicherung, des Arbeitsrechts und der Arbeitsbeziehungen auf die neuen Bundesländer führten. Die gewaltigen Transferleistungen vom Westen in den Osten führten zu einem rapiden Anstieg der Staatsschulden und des Anteils der Sozialleistungen am Sozialprodukt. Damit verschlechterten sich die Rahmenbedingungen der deutschen Politik und Wirtschaft entscheidend. Wie der Band zeigt, wurde durch die Fixierung auf die Probleme der Einheit der bereits begonnene Umbau des deutschen Sozialstaates für mehrere Jahre auf Eis gelegt und dessen ohnehin durch die Globalisierung, die Änderung der traditionellen Arbeitsgesellschaft und die Alterung der Bevölkerung entstandene Krise dramatisch verschärft.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2007Einigung im Eiltempo
Der Lebensstandard im Osten stieg, das Vertrauen schwand
Im Trend liegt die Kulturgeschichte, die Sozialgeschichte gilt als passé. Aber der emeritierte Nestor der deutschen Sozialgeschichte – Gerhard A. Ritter – legt jetzt ein Werk vor, das dem Trend ins Gesicht bläst. Auf mehr als 500 Seiten zeigt Ritter, wozu Sozialgeschichte in der Lage ist – zur historisch-politischen Aufklärung über ausgesprochen komplexe Zusammenhänge. Der mit Zahlen, Daten und präzisen Beschreibungen von Entscheidungsabläufen vollgepackte Band ist keine einfache, aber eine lohnende Lektüre. Es ist risikolos, vorauszusagen, dass das Werk für geraume Zeit ein Standardwerk bleiben wird.
Die Sozialpolitik bildete so etwas wie das Scharnier der Vereinigung, denn den Akteuren im Osten wie im Westen war klar, dass die Vereinigung politisch nur mehrheitsfähig sei, wenn sie sozial abgefedert würde. Dieses Ziel, so Ritters Fazit, wurde im Großen und Ganzen erreicht: Der Lebensstandard der meisten Menschen in den neuen Bundesländern stieg an und verdoppelte sich real. Besonders profitierten von der Vereinigung diejenigen, die die DDR-Sozialpolitik stiefmütterlich behandelte: Rentner, Witwen, Kriegsopfer und Behinderte.
Diesen Befund Ritters teilen nach zahlreichen Umfragen sogar auch die Menschen in den neuen Ländern, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung. Sie sehen zwar ihre eigene materielle Lage heute rosiger als vor 1989, „gleichzeitig beurteilen sie aber die allgemeine Situation schlechter als ihre individuelle Situation und beklagen vor allem den Verlust an sozialer Sicherheit und sozialer Geborgenheit”. Das hat weniger mit „Ostalgie” oder „Sehnsucht nach der DDR” zu tun als mit den sozialen Schieflagen bei der Finanzierung und den politischen Defiziten der Vereinigung.
Ritter gliedert die Vereinigung in drei Phasen: die erste umfasst die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion durch den Staatsvertrag zwischen BRD und DDR vom 18. Mai 1990, die zweite die Verpflanzung des bundesdeutschen Sozialstaats nach Osten durch den Einigungsvertrag vom 20. September 1990 und die dritte dessen Anwendung in der Zeit der einsetzenden Rezession von 1992 bis zu den Bundestagswahlen im Herbst 1994. Allen drei Phasen gemeinsam ist, dass unter ungeheuerlichem Zeitdruck gearbeitet werden musste.
Die Einführung der Währungsunion stand im Zeichen der Drohung der DDR-Bürger, sie würden zur D-Mark reisen, wenn diese nicht zu ihnen komme. Trotz der Warnungen vieler Fachleute vor den wirtschaftlichen Folgen wurden unter diesem Druck Ost-Mark und DM im Verhältnis von 1:1 getauscht, was eine faktische Aufwertung um 340 Prozent bedeutete. Die DDR-Wirtschaft wurde so über Nacht konkurrenzunfähig. Die Arbeitslosigkeit wurde mit massenhafter Frühverrentung pariert, was wiederum die Rentenkassen leerte.
Auch der Einigungsvertrag kam unter Zeitdruck zustande. Die Umsetzung des Vertrags zwang zu Kompromissen, weil die christlich-liberale Koalition nach den Hessenwahlen vom Januar 1991 ihren Mehrheit im Bundesrat verloren hatte. Schlechte und verschleppte Lösungen waren die Folge, vor allem aber zerfiel der politische Einfluss von Parlament, Parteien, Länderregierungen und Verbänden, die allesamt – so Ritter – „nicht einbezogen” und „unzureichend informiert” waren. Informelle Arbeitsgruppen, Elefantenrunden und Expertenklüngel entschieden. Eine effiziente Ministerialbürokratie installierte in den neuen Ländern das bundesdeutsche Sozialsystem. Zum Preis der Einheit gehört, dass Politik, Parteien und Demokratie diese abgehobene Vereinigungspolitik auch mit dem Verlust an Vertrauen und Ansehen bezahlten.
Was als „Krise des Sozialstaats” bezeichnet wird, hat ein Doppelgesicht. Einerseits hatte sich die Lage der Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit zwischen 1991 und 1995 dramatisch verschlechtert, weil der Solidargemeinschaft der Versicherten – also Arbeitnehmern und Unternehmen – ein Viertel der gesamten Transferkosten (rund 140 Milliarden Mark) aufgebürdet wurde, wodurch die Staatsverschuldung stark anstieg. Andererseits waren es gerade die Fehler bei der Finanzierung der Vereinigung, die die strukturellen Probleme des deutschen Modells des Sozialstaats offengelegt haben. Da die Sozialversicherungssysteme hauptsächlich aus Beiträgen der Versicherten und der Unternehmen und nicht aus Steuern finanziert werden, stiegen die Lohnnebenkosten, was wiederum den Wirtschaftsstandort Deutschland schädigte und dessen Konkurrenzfähigkeit reduzierte. Ritter plädiert aber nun nicht etwa für den Abbau, aber für den Umbau des Sozialstaats. RUDOLF WALTHER
GERHARD A. RITTER: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats. C. H. Beck, München 2006. 541 Seiten, 38 Euro.
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Der Lebensstandard im Osten stieg, das Vertrauen schwand
Im Trend liegt die Kulturgeschichte, die Sozialgeschichte gilt als passé. Aber der emeritierte Nestor der deutschen Sozialgeschichte – Gerhard A. Ritter – legt jetzt ein Werk vor, das dem Trend ins Gesicht bläst. Auf mehr als 500 Seiten zeigt Ritter, wozu Sozialgeschichte in der Lage ist – zur historisch-politischen Aufklärung über ausgesprochen komplexe Zusammenhänge. Der mit Zahlen, Daten und präzisen Beschreibungen von Entscheidungsabläufen vollgepackte Band ist keine einfache, aber eine lohnende Lektüre. Es ist risikolos, vorauszusagen, dass das Werk für geraume Zeit ein Standardwerk bleiben wird.
Die Sozialpolitik bildete so etwas wie das Scharnier der Vereinigung, denn den Akteuren im Osten wie im Westen war klar, dass die Vereinigung politisch nur mehrheitsfähig sei, wenn sie sozial abgefedert würde. Dieses Ziel, so Ritters Fazit, wurde im Großen und Ganzen erreicht: Der Lebensstandard der meisten Menschen in den neuen Bundesländern stieg an und verdoppelte sich real. Besonders profitierten von der Vereinigung diejenigen, die die DDR-Sozialpolitik stiefmütterlich behandelte: Rentner, Witwen, Kriegsopfer und Behinderte.
Diesen Befund Ritters teilen nach zahlreichen Umfragen sogar auch die Menschen in den neuen Ländern, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung. Sie sehen zwar ihre eigene materielle Lage heute rosiger als vor 1989, „gleichzeitig beurteilen sie aber die allgemeine Situation schlechter als ihre individuelle Situation und beklagen vor allem den Verlust an sozialer Sicherheit und sozialer Geborgenheit”. Das hat weniger mit „Ostalgie” oder „Sehnsucht nach der DDR” zu tun als mit den sozialen Schieflagen bei der Finanzierung und den politischen Defiziten der Vereinigung.
Ritter gliedert die Vereinigung in drei Phasen: die erste umfasst die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion durch den Staatsvertrag zwischen BRD und DDR vom 18. Mai 1990, die zweite die Verpflanzung des bundesdeutschen Sozialstaats nach Osten durch den Einigungsvertrag vom 20. September 1990 und die dritte dessen Anwendung in der Zeit der einsetzenden Rezession von 1992 bis zu den Bundestagswahlen im Herbst 1994. Allen drei Phasen gemeinsam ist, dass unter ungeheuerlichem Zeitdruck gearbeitet werden musste.
Die Einführung der Währungsunion stand im Zeichen der Drohung der DDR-Bürger, sie würden zur D-Mark reisen, wenn diese nicht zu ihnen komme. Trotz der Warnungen vieler Fachleute vor den wirtschaftlichen Folgen wurden unter diesem Druck Ost-Mark und DM im Verhältnis von 1:1 getauscht, was eine faktische Aufwertung um 340 Prozent bedeutete. Die DDR-Wirtschaft wurde so über Nacht konkurrenzunfähig. Die Arbeitslosigkeit wurde mit massenhafter Frühverrentung pariert, was wiederum die Rentenkassen leerte.
Auch der Einigungsvertrag kam unter Zeitdruck zustande. Die Umsetzung des Vertrags zwang zu Kompromissen, weil die christlich-liberale Koalition nach den Hessenwahlen vom Januar 1991 ihren Mehrheit im Bundesrat verloren hatte. Schlechte und verschleppte Lösungen waren die Folge, vor allem aber zerfiel der politische Einfluss von Parlament, Parteien, Länderregierungen und Verbänden, die allesamt – so Ritter – „nicht einbezogen” und „unzureichend informiert” waren. Informelle Arbeitsgruppen, Elefantenrunden und Expertenklüngel entschieden. Eine effiziente Ministerialbürokratie installierte in den neuen Ländern das bundesdeutsche Sozialsystem. Zum Preis der Einheit gehört, dass Politik, Parteien und Demokratie diese abgehobene Vereinigungspolitik auch mit dem Verlust an Vertrauen und Ansehen bezahlten.
Was als „Krise des Sozialstaats” bezeichnet wird, hat ein Doppelgesicht. Einerseits hatte sich die Lage der Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit zwischen 1991 und 1995 dramatisch verschlechtert, weil der Solidargemeinschaft der Versicherten – also Arbeitnehmern und Unternehmen – ein Viertel der gesamten Transferkosten (rund 140 Milliarden Mark) aufgebürdet wurde, wodurch die Staatsverschuldung stark anstieg. Andererseits waren es gerade die Fehler bei der Finanzierung der Vereinigung, die die strukturellen Probleme des deutschen Modells des Sozialstaats offengelegt haben. Da die Sozialversicherungssysteme hauptsächlich aus Beiträgen der Versicherten und der Unternehmen und nicht aus Steuern finanziert werden, stiegen die Lohnnebenkosten, was wiederum den Wirtschaftsstandort Deutschland schädigte und dessen Konkurrenzfähigkeit reduzierte. Ritter plädiert aber nun nicht etwa für den Abbau, aber für den Umbau des Sozialstaats. RUDOLF WALTHER
GERHARD A. RITTER: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats. C. H. Beck, München 2006. 541 Seiten, 38 Euro.
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