China - ein geheimnisvolles und unbekanntes Land. Zu einer Zeit, als man in Europa Buchdruck und Papier noch nicht kannte, lebte man in der Song-Dynastie (1084 - ca. 1155) bereits in Millionenstädten mit Buchhandlungen und Luxuswaren. Barbara Beuys schildert das dramatische Leben von Chinas größter Dichterin - und bringt dem Leser auf diese Weise zweitausend Jahre spannender chinesischer Geschichte und Kultur nahe.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2004Vorsprung China
Das Porträt der liebenden Dichterin Li Qingzhao gerät Barbara Beuys zum Großpanorama der Kulturgeschichte
Die Phrase vom finsteren Mittelalter haben uns die Mediävisten in den letzten Jahren ausgetrieben. Dass die Jahrhunderte zwischen dem bröckelnden Untergang der Antike und dem krisenhaften Anbruch der Neuzeit eine lichte Ära der Aufklärung und Toleranz, der Entdeckungen und Wohlfahrt gewesen sei, haben freilich auch sie nicht behauptet. Und doch, glauben wir Barbara Beuys, die ihre Bücher erst nach gründlichem Studium von Quellen und wissenschaftlicher Literatur anzugehen pflegt, hat es zu Zeiten unseres Mittelalters bereits eine Gesellschaft gegeben, deren höchstes Ideal die Bildung war, die ihr staatliches Ziel in der Zufriedenheit aller Staatsbürger und ihren Repräsentanten im dichtenden Beamten hatte.
Schade nur, dass die europäischen Zeitgenossen von dieser Gesellschaft weder etwas wussten noch etwas hatten, denn die Autorin spricht nicht von Europa, wenn sie das perfekte Grundschulsystem des elften Jahrhunderts, Städte mit mehreren hunderttausend Einwohnern, die soziale Versorgung von Armen und Kranken und die großzügig dotierten Bibliotheken rühmt. Nein, sie erzählt von China, genauer vom China der Song-Dynastie, die das riesengroße Land von 960 nach Christus bis zur Teilung des Reichs im Jahr 1142, den der Einfall der Barbaren erzwang, zu einer zivilisatorischen Blüte führte, mit der sich das europäische Mittelalter keineswegs messen konnte.
Aber, ist man versucht einzuwerfen: Wenigstens die Renaissance, in der sich die europäische Kultur im Bild der wiederentdeckten Antike kühn und selbstbewusst neu entwarf, hatte doch chinesisches Niveau! Mitnichten, wischt die Autorin solch europäischen Dünkel beiseite: Um die Jahrtausendwende, als in Europa ein paar Mönche sich in feuchten Klosterzellen mit dem Kopieren vor allem religiöser Texte abmühten, herrschte in China eine Kultur, so wohlorganisiert und frei, so hoch entwickelt und reich entfaltet, dass sie allenfalls mit dem aufbrechenden Europa zu Beginn der industriellen Revolution verglichen werden kann.
Barbara Beuys, früher Journalistin beim „Stern” und der „Zeit”, hat sich mit penibel recherchierten und gut geschriebenen Sachbüchern, namentlich mit ihren Biographien der Annette von Droste-Hülshoff und der Hildegard von Bingen einen Namen gemacht. Ihr neues Buch gibt sich bescheiden als Biographie der chinesischen Dichterin Li Qingzhao und ist mehr und weniger zugleich. Mehr: Eine chinesische Kulturgeschichte von beiläufig 2000 Jahren, die ungemein informativ von der Erziehung der Mädchen über die Herstellung von Papiergeld oder Rattan-Möbeln bis zur erstaunlich liberal konzipierten Strafjustiz alles Mögliche an Wissenswertem ausbreitet. Weniger: Ein monumentales Werk, dessen Gelehrsamkeit sich gelegentlich etwas wusthaft ausnimmt und das Objekt seiner Darstellung mehr als einmal aus den weit ausblickenden Augen verliert, so dass wir vor lauter Exkursen oft nicht mehr wissen, worum es eigentlich geht.
Und worum geht es? Um eine selbstbewusste Frau, Li Qingzhao, die von 1084 bis etwa 1155 gelebt hat und in China heute noch als große Dichterin verehrt wird - und um die Liebe dieser Dichterin zu ihrem Ehemann Zhao Mingcheng, der als unermüdlicher Sammler von Altertümern zum Ahnherrn der chinesischen Archäologie wurde. Die Gedichte der Li Qingzhao, die den strengen Formenkanon beachten und dabei doch individuell nuanciert sind, standen am Beginn, sie waren es, die in Barbara Beuys, wie sie im Nachwort verrät, die Leidenschaft für das alte China entfachten. Aber so zahlreich sind die Texte, die sich von Li erhalten haben, wieder nicht, und gar so vieles ist von ihrem Leben nicht verbürgt, als dass sich daraus eine gewichtige Biographie von fast 500 Seiten entwickeln ließe.
Die Erde als Quadrat
Und vor allem: Gänzlich unbekannt sind selbst dem gebildeten deutschen Leser die Voraussetzungen eines solchen Frauenlebens, das man nach Lektüre des Buches durchaus als emanzipiert bezeichnen möchte; nichts wissen wir von dem Bildungsideal des chinesischen Beamtenstaates, nichts von den Traditionen der Dichtung, von der Wirtschaft, vom Handel, von den sanitären Verhältnissen und den sexuellen Gepflogenheiten, nichts von den religiösen Vorstellungen, den sozialen Konflikten, den ungeschriebenen und geschriebenen Regeln des Zusammenlebens - all diese Voraussetzungen will uns Barbara Beuys daher vermitteln, und die Energie, mit der sie uns vom Bauplan chinesischer Städte („weil der Chinese sich die Erde als Quadrat dachte, waren analog dazu die Grundrisse der Städte von den ersten Anfängen an ein Quadrat”) oder vom weit verbreiteten Konkubinenwesen unterrichtet, reißt uns mit, ermüdet aber auch ein wenig.
Überzeugt davon, dass man diese Dichterin nur verstehen kann, wenn man die chinesische Geschichte kennt, birgt Beuys die Biographie ihrer Heldin in einem weitschweifigen historiographischen Abriss. Das hat gewiss seine Berechtigung, zumal Li und Zhao aus der Kenntnis der Tradition, ja in der beständigen Auseinandersetzung mit ihr lebten und in der chinesischen Kultur das Vergangene ohnedies viel präsenter gehalten wird als im Westen: „Hinter dem Sammler-Ehepaar lagen zweitausend Jahre chinesischer Geschichte, die mit Musik und Gedichten, Ritualen und Geschichten, mit Helden und Weisen, Kaisern und Künstlern jederzeit für Li Qingzhao und Zhao Mingchen abrufbar waren.” In aller Bescheidenheit nimmt Beuys sich nicht weniger vor, als diese zweitausend Jahre tatsächlich mitzuerzählen.
Wie vieles erfahren wir, von dem wir nichts wussten und das wir kaum glauben können! Dass die Hauptstadt Kaifeng, als sich das junge Ehepaar dort niederließ, rund eine Million Einwohner zählte - während die größte deutsche Stadt, Köln, es damals auf höchstens 20000 brachte. Dass in Kaifeng nachts die Lichter nicht ausgingen, weil es ein so weit aufgefächertes Programm der Vergnügungen gab. Dass über die Jahrhunderte jeder chinesische Kaiser zugleich ein Dichter von Rang und Bedeutung war. Dass die konfuzianischen, buddhistischen und daoistischen Gelehrten über die Herkunft des Menschen und den Sinn des Lebens diskutierten, während in Europa für die Ketzer die Scheiterhaufen brannten. Und da wir von all dem auf spannende Weise erfahren, vergessen wir gern, dass die Autorin uns eigentlich etwas anderes, die Biographie einer großen Liebenden, der Dichterin Li Qingzhao, versprochen hatte.
KARL-MARKUS GAUSS
BARBARA BEUYS: Der Preis der Leidenschaft. Chinas große Zeit: das dramatische Leben der Li Qingzhao. Hanser Verlag, München 2004. 488 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Das Porträt der liebenden Dichterin Li Qingzhao gerät Barbara Beuys zum Großpanorama der Kulturgeschichte
Die Phrase vom finsteren Mittelalter haben uns die Mediävisten in den letzten Jahren ausgetrieben. Dass die Jahrhunderte zwischen dem bröckelnden Untergang der Antike und dem krisenhaften Anbruch der Neuzeit eine lichte Ära der Aufklärung und Toleranz, der Entdeckungen und Wohlfahrt gewesen sei, haben freilich auch sie nicht behauptet. Und doch, glauben wir Barbara Beuys, die ihre Bücher erst nach gründlichem Studium von Quellen und wissenschaftlicher Literatur anzugehen pflegt, hat es zu Zeiten unseres Mittelalters bereits eine Gesellschaft gegeben, deren höchstes Ideal die Bildung war, die ihr staatliches Ziel in der Zufriedenheit aller Staatsbürger und ihren Repräsentanten im dichtenden Beamten hatte.
Schade nur, dass die europäischen Zeitgenossen von dieser Gesellschaft weder etwas wussten noch etwas hatten, denn die Autorin spricht nicht von Europa, wenn sie das perfekte Grundschulsystem des elften Jahrhunderts, Städte mit mehreren hunderttausend Einwohnern, die soziale Versorgung von Armen und Kranken und die großzügig dotierten Bibliotheken rühmt. Nein, sie erzählt von China, genauer vom China der Song-Dynastie, die das riesengroße Land von 960 nach Christus bis zur Teilung des Reichs im Jahr 1142, den der Einfall der Barbaren erzwang, zu einer zivilisatorischen Blüte führte, mit der sich das europäische Mittelalter keineswegs messen konnte.
Aber, ist man versucht einzuwerfen: Wenigstens die Renaissance, in der sich die europäische Kultur im Bild der wiederentdeckten Antike kühn und selbstbewusst neu entwarf, hatte doch chinesisches Niveau! Mitnichten, wischt die Autorin solch europäischen Dünkel beiseite: Um die Jahrtausendwende, als in Europa ein paar Mönche sich in feuchten Klosterzellen mit dem Kopieren vor allem religiöser Texte abmühten, herrschte in China eine Kultur, so wohlorganisiert und frei, so hoch entwickelt und reich entfaltet, dass sie allenfalls mit dem aufbrechenden Europa zu Beginn der industriellen Revolution verglichen werden kann.
Barbara Beuys, früher Journalistin beim „Stern” und der „Zeit”, hat sich mit penibel recherchierten und gut geschriebenen Sachbüchern, namentlich mit ihren Biographien der Annette von Droste-Hülshoff und der Hildegard von Bingen einen Namen gemacht. Ihr neues Buch gibt sich bescheiden als Biographie der chinesischen Dichterin Li Qingzhao und ist mehr und weniger zugleich. Mehr: Eine chinesische Kulturgeschichte von beiläufig 2000 Jahren, die ungemein informativ von der Erziehung der Mädchen über die Herstellung von Papiergeld oder Rattan-Möbeln bis zur erstaunlich liberal konzipierten Strafjustiz alles Mögliche an Wissenswertem ausbreitet. Weniger: Ein monumentales Werk, dessen Gelehrsamkeit sich gelegentlich etwas wusthaft ausnimmt und das Objekt seiner Darstellung mehr als einmal aus den weit ausblickenden Augen verliert, so dass wir vor lauter Exkursen oft nicht mehr wissen, worum es eigentlich geht.
Und worum geht es? Um eine selbstbewusste Frau, Li Qingzhao, die von 1084 bis etwa 1155 gelebt hat und in China heute noch als große Dichterin verehrt wird - und um die Liebe dieser Dichterin zu ihrem Ehemann Zhao Mingcheng, der als unermüdlicher Sammler von Altertümern zum Ahnherrn der chinesischen Archäologie wurde. Die Gedichte der Li Qingzhao, die den strengen Formenkanon beachten und dabei doch individuell nuanciert sind, standen am Beginn, sie waren es, die in Barbara Beuys, wie sie im Nachwort verrät, die Leidenschaft für das alte China entfachten. Aber so zahlreich sind die Texte, die sich von Li erhalten haben, wieder nicht, und gar so vieles ist von ihrem Leben nicht verbürgt, als dass sich daraus eine gewichtige Biographie von fast 500 Seiten entwickeln ließe.
Die Erde als Quadrat
Und vor allem: Gänzlich unbekannt sind selbst dem gebildeten deutschen Leser die Voraussetzungen eines solchen Frauenlebens, das man nach Lektüre des Buches durchaus als emanzipiert bezeichnen möchte; nichts wissen wir von dem Bildungsideal des chinesischen Beamtenstaates, nichts von den Traditionen der Dichtung, von der Wirtschaft, vom Handel, von den sanitären Verhältnissen und den sexuellen Gepflogenheiten, nichts von den religiösen Vorstellungen, den sozialen Konflikten, den ungeschriebenen und geschriebenen Regeln des Zusammenlebens - all diese Voraussetzungen will uns Barbara Beuys daher vermitteln, und die Energie, mit der sie uns vom Bauplan chinesischer Städte („weil der Chinese sich die Erde als Quadrat dachte, waren analog dazu die Grundrisse der Städte von den ersten Anfängen an ein Quadrat”) oder vom weit verbreiteten Konkubinenwesen unterrichtet, reißt uns mit, ermüdet aber auch ein wenig.
Überzeugt davon, dass man diese Dichterin nur verstehen kann, wenn man die chinesische Geschichte kennt, birgt Beuys die Biographie ihrer Heldin in einem weitschweifigen historiographischen Abriss. Das hat gewiss seine Berechtigung, zumal Li und Zhao aus der Kenntnis der Tradition, ja in der beständigen Auseinandersetzung mit ihr lebten und in der chinesischen Kultur das Vergangene ohnedies viel präsenter gehalten wird als im Westen: „Hinter dem Sammler-Ehepaar lagen zweitausend Jahre chinesischer Geschichte, die mit Musik und Gedichten, Ritualen und Geschichten, mit Helden und Weisen, Kaisern und Künstlern jederzeit für Li Qingzhao und Zhao Mingchen abrufbar waren.” In aller Bescheidenheit nimmt Beuys sich nicht weniger vor, als diese zweitausend Jahre tatsächlich mitzuerzählen.
Wie vieles erfahren wir, von dem wir nichts wussten und das wir kaum glauben können! Dass die Hauptstadt Kaifeng, als sich das junge Ehepaar dort niederließ, rund eine Million Einwohner zählte - während die größte deutsche Stadt, Köln, es damals auf höchstens 20000 brachte. Dass in Kaifeng nachts die Lichter nicht ausgingen, weil es ein so weit aufgefächertes Programm der Vergnügungen gab. Dass über die Jahrhunderte jeder chinesische Kaiser zugleich ein Dichter von Rang und Bedeutung war. Dass die konfuzianischen, buddhistischen und daoistischen Gelehrten über die Herkunft des Menschen und den Sinn des Lebens diskutierten, während in Europa für die Ketzer die Scheiterhaufen brannten. Und da wir von all dem auf spannende Weise erfahren, vergessen wir gern, dass die Autorin uns eigentlich etwas anderes, die Biographie einer großen Liebenden, der Dichterin Li Qingzhao, versprochen hatte.
KARL-MARKUS GAUSS
BARBARA BEUYS: Der Preis der Leidenschaft. Chinas große Zeit: das dramatische Leben der Li Qingzhao. Hanser Verlag, München 2004. 488 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Zwar ist dem deutschsprachigen Raum kein Sinologe wie Jonathan Spence vergönnt, an dessen Chinabildern man sich erbauen und erfreuen könnte, aber es gibt immerhin Barbara Beuys! Sie hat mit diesem Buch "ein großes Zeitbild" des mittelalterlichen Chinas geschaffen, so Rezensent Jürgen Osterhammel, "mit einer kleinen Figur im Vordergrund": der Dichterin Li Qingzhao. Zwar könne Beuys das Handikap, keinen unmittelbaren Zugang zu den in klassischem Chinesisch verfassten Quellen zu haben und auch sonst über wenig biografisches Material zu verfügen, nicht gänzlich abstreifen, doch sei es ihrem "Fleiß, Ernst und ihrem Drang zur Vollständigkeit" zu verdanken, dass dieses Buch so lesenswert geworden ist. Und auch wenn sie manchmal fast etwas zu sorgfältig gearbeitet hat, so der Rezensent, gerade der Beschäftigung mit den so wichtigen Passagen aus Li Qingzhaos Werk tue diese Sorgfalt sehr gut, da die genaue Aufschlüsselung der Bezüge die Bedeutung der Verse nachvollziehbar mache. Auch an der Tatsache, dass sich die Spur der Dichterin ab und an verliert, hat der Rezensent nichts auszusetzen, denn kaum erscheint sie, besticht sie - dank ihrer Verse - durch "stärkste Präsenz". Dieses Buch, so das Fazit des Rezensenten, vermittelt einem das "angeblich Fremde" aus nächster Nähe - dank Barbara Beuys' "kundiger" und taktvoller Hand.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein großes Bild des alten China - kundig und mit feinem Takt gemalt." Jürgen Osterhammel, Die Zeit, 07.10.2004 "Barbara Beuys lässt eine ganze verschwundene Welt glanzvoll wieder auferstehen. Es ist lange her, dass ich ein Buch gelesen habe, bei dem ich so viel gelernt und mich gleichzeitig so gut unterhalten gefühlt habe." Sabine Groß, Brigitte, 21/ 2004 "Mit Gespür hat die Autorin die Zeichen der Zeit erkannt: wir erhalten eine farbenprächtige Grundlage zum Verständnis dessen, war China war und zuweilen noch ist." Neue Zürcher Zeitung, 18.09.2004 "...so spannend erzählt, als wäre diese wahre Lebensgeschichte ein Roman." Gala, 18.11.2004