Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Die Bedeutung der Flöhe im Pelz
Schrifttreu: Die Faksimile-Ausgabe von Kafkas "Process" / Von Frank Schirrmacher
Manchmal stärken sich die Leser Franz Kafkas am Optimismus der Kabbala. Alle Rätsel der Schrift, das garantiert die jüdische Geheimlehre, werden in den letzten sechzig Sekunden vor Anbruch des Jüngsten Gerichts entschlüsselt. Aber weil auch metaphysische Garantien ihre Verfallsfrist haben, feilt die Kafka-Philologie nun schon seit siebzig Jahren an einem Dietrich herum.
Kafkas verpanzerte Texttore sind schwer zu öffnen. Manche schafften es, die Türen ein wenig aufzustemmen; einige gelangten ins Vorzimmer, blieben aber dann vor der verschlossenen Diele stehen; es gab glaubensstarke Optimisten, die über das lichte Dach, über den Umweg des Himmels einsteigen wollten. Und es gab melancholische Pessimisten, die es durch den düsteren Keller und die Fundamente der Existenz versuchten.
Der marxistische Literaturtheoretiker Georg Lukács verspottete den ganzen Bau samt Schloß und Riegel als unverbindlichen spätbürgerlichen Albtraum. Doch als Lukács eines Tages vor seiner Tür bereits das Zellenschlüsselgeklirr des spätsozialistischen NKWD hören konnte, fiel der berühmte Satz: "Kafka war doch ein Realist". Weil aber selbst im Sozialismus zwar unangekündigte Verhaftungen möglich,unangemeldete Verwandlungen von Menschen in Käfer oder von Mäusen in Sängerinnen aber unmöglich sind, fand auch der realistische Universalschlüssel wenig Beifall.
Am Ende, unendlich ermattet, verkündete die postmoderne Fraktion der Panzerknacker, Kafka habe eben das beweisen wollen: die Unmöglichkeit von Panzerknackern. Briefe und Tagebücher belegen freilich, daß Kafka sehr genau wußte, was er tat, als er seine Texte versperrte. Beim Vortrag aus den Manuskripten, so wird berichtet, geriet er oft so sehr ins Lachen, daß er nicht mehr weiterlesen konnte. Solche Komik erschließt sich dem, der Kafkas Literatur den Generalklang abzuhören versteht.
Auf dessen Oberfläche spielt der Autor "mit ganzen Orchestern von Assoziationen" seine Melodie. Seit Kafkas Freund Max Brod im ersten Nachwort zum "Schloß"-Roman einen solchen Deutungsansatz vorlegte und Gershom Scholem ihn durch Hinweise aus seinen Kabbala-Studien stützte, sind die Parameter einer Lektüre tastend, aber doch immer genauer gesetzt worden: in Kafkas Literatur, so die Überzeugung, verbirgt sich ein rekonstruktionsfähiger Reflexionstext.
Es wuchs in Teilen der Kafka-Philologie die Zuversicht, man würde bei der Entzifferung kafkaesken Sinns den kabbalistischen Zeitrahmen unterbieten können. Aber es gab keinen zuverlässigen Text und bis in die achtziger Jahre keine kritisch edierte Ausgabe der Werke Franz Kafkas. Vor allem das Manuskript des "Process"-Romans hatte eine abenteuerliche, von Haushälterinnen zu haushälterischen Verkaufsabsichten führende Reise hinter sich, bis es endlich für das Marbacher Literaturarchiv erworben werden konnte.
Seit einiger Zeit liegt nun die von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit verantwortete Kritische Ausgabe bei S. Fischer vor, und ohne Zweifel bleibt das verdienstvolle Unternehmen die unverzichtbare Grundlage jeder künftigen Beschäftigung mit Kafka. Zwar gab es vereinzelt Kritik an der Arbeit der Editoren - vornehmlich aus den Reihen der hier anzuzeigenden konkurrierenden Edition -, aber es wäre unsinnig und überflüssig, daraus eine Debatte über Editionspraxis zu machen. Kritische Werkausgaben sind, wie jeder weiß, immer auch Deutungen.
Wer die Pasley-Ausgabe lobt, muß begründen, warum er dennoch die von Roland Reuß und Peter Staengle hergestellte kritische Edition des "Process"-Romans begrüßt. Das liegt daran, daß jeder Kafka-Leser dem Mann vom Lande in der Torhüter-Parabel gleicht: er ist geduldig, er studiert jedes Detail im Textgewebe, "bis er auch die Flöhe im Pelzkragen erkannt hat", und er ist, wie der Torhüter tadelnd vermerkt, unersättlich.
Die Flöhe im Pelzkragen können Kommas sein. Keine Lektüre Kafkas, die nicht mit unersättlicher Hoffnung in der Handschrift des Autors zu finden versuchte, was die gedruckte Version ihr versagt: die winzige Korrektur, die kleinste Verschreibung, den dünnen Strich, die das Tor aufsperren und die Rätsel lösen. Kafka war ein Theologe der Schrift. Der "erste kleine Strich", den der Künstler in der Erzählung "Ein Traum" auf dem Grabstein eingräbt, ist für K. "wie eine Erlösung". Der "erste kleine Strich" ist im hebräischen Alphabet das Jod, aus dem alle anderen Buchstaben, das Alphabet und schließlich alle Schriften entstanden sind. Sollte, wer dergleichen schreibt, nicht auch eine Spur solcher Buchstabengläubigkeit davon in seinen Manuskripten verwahrt haben? Könnte die Kafka-Forschung nicht wie Josef K. der "Erlösung" teilhaftig werden?
Roland Reuß und Peter Staengle haben Kafkas "Process"-Handschrift seitenweise faksimiliert und auf der jeweils gegenüberliegenden Seite lesbar und übersichtlich transkribiert. So groß ist ihre vom Dom-Geistlichen verordnete "Achtung vor der Schrift", daß sie das fragmentarische Manuskript veröffentlichen, wie es Max Brod vorgefunden hatte, ehe er es zu einem fiktiven Ganzen zusammenfügte: als unvollständiges, in einzelnen Heften und differenzierten Schriftträgern aufgeteiltes Textkonvolut.
Sie haben damit die unendliche Debatte über die richtige Kapitelfolge im "Process" (die sich vor allen Dingen um die Plazierung des "Dom"-Kapitels dreht) neu eröffnet. Auch wenn Mikro- und Makrostruktur der Handschrift keine eindeutigen Schlüsse erlauben, so spricht doch sehr viel für die Brodsche Anordnung, die auch von der S. Fischer-Ausgabe in den entscheidenden Zügen übernommen wurde.
Die Frage der Plazierung des "Dom"-Kapitels ist nicht nur von editionstechnischem Interesse - sie ist mitentscheidend für das Verständnis des gesamten Romans. Dank der faksimilierten, erstaunlich gut lesbaren Manuskriptseiten und ihrer hervorragenden Transkription läßt sich nun jede Verschreibung, jeder Buchstabenansatz, jede Streichung und jeder Strich rekonstruieren. Man kann erkennen, wann Kafka schnell und wann er langsam geschrieben hat, wie er Gedanken abkürzen und Bilder anreichern wollte, wann plötzlich das gespenstische "Ich" des Erzählers auftaucht, das Max Brod eliminiert hatte.
Vieles, so meint der Rezensent, spricht dafür, daß Kafka den auf der metaphysischen Gerichts- und Prozeßebene entwickelten und bereits beendeten Roman mit einer lebensweltlichen Gegen-Geschichte konfrontieren wollte. Das Mißlingen dieses Subtextes hat Kafka die Arbeit am "Process" abbrechen lassen. Akzeptiert man diese Prämisse, dann gewinnen nicht nur die von Brod ausgeschiedenen Kapitel um Elsa, den Staatsanwalt und die Mutter eine einsichtigere Bedeutung und einen dichteren Zusammenhang. Sie erklärt auch, warum Kafka in der Todesstunde K.'s die Staatsmacht als lebensweltliches Gegenüber zur Gerichtsmacht hatte auftreten lassen wollen.
Man befindet sich jetzt schon tief im Innern der Handschrift, und wer gerne Abenteuer sucht und Schlösser knacken will, kann sich von Reuß und Staengle das Handwerkszeug besorgen. Ein Wort noch zu den beiden Editoren: Roland Reuß und Peter Staengle, die auch eine kritische Edition der Werke Kleists betreuen, keine technischen Hilfswerke befehligen, die Transkription und den Satz selber besorgen, haben sich mittlerweile zu staunenswerten Meistern der Editionspraxis entwickelt.
Der "Ruck", den alle erwarten und den sich niemand gibt, ist hier durch die Germanistik gegangen und hat zur Gründung einer Manufaktur glänzender Textphilologie geführt. Es gilt für diese Edition der Handschrift des "Process"-Romans, was Tucholsky nach Lektüre der gedruckten Erstausgabe notierte: "Wir dürfen lesen, staunen, danken."
Franz Kafka: "Der Process". Faksimile-Edition. Herausgegeben von Roland Reuß unter Mitarbeit von Peter Staengle. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 1997. Sechzehn einzeln geheftete Entwurfs-Kapitel im Schuber, 348,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schrifttreu: Die Faksimile-Ausgabe von Kafkas "Process" / Von Frank Schirrmacher
Manchmal stärken sich die Leser Franz Kafkas am Optimismus der Kabbala. Alle Rätsel der Schrift, das garantiert die jüdische Geheimlehre, werden in den letzten sechzig Sekunden vor Anbruch des Jüngsten Gerichts entschlüsselt. Aber weil auch metaphysische Garantien ihre Verfallsfrist haben, feilt die Kafka-Philologie nun schon seit siebzig Jahren an einem Dietrich herum.
Kafkas verpanzerte Texttore sind schwer zu öffnen. Manche schafften es, die Türen ein wenig aufzustemmen; einige gelangten ins Vorzimmer, blieben aber dann vor der verschlossenen Diele stehen; es gab glaubensstarke Optimisten, die über das lichte Dach, über den Umweg des Himmels einsteigen wollten. Und es gab melancholische Pessimisten, die es durch den düsteren Keller und die Fundamente der Existenz versuchten.
Der marxistische Literaturtheoretiker Georg Lukács verspottete den ganzen Bau samt Schloß und Riegel als unverbindlichen spätbürgerlichen Albtraum. Doch als Lukács eines Tages vor seiner Tür bereits das Zellenschlüsselgeklirr des spätsozialistischen NKWD hören konnte, fiel der berühmte Satz: "Kafka war doch ein Realist". Weil aber selbst im Sozialismus zwar unangekündigte Verhaftungen möglich,unangemeldete Verwandlungen von Menschen in Käfer oder von Mäusen in Sängerinnen aber unmöglich sind, fand auch der realistische Universalschlüssel wenig Beifall.
Am Ende, unendlich ermattet, verkündete die postmoderne Fraktion der Panzerknacker, Kafka habe eben das beweisen wollen: die Unmöglichkeit von Panzerknackern. Briefe und Tagebücher belegen freilich, daß Kafka sehr genau wußte, was er tat, als er seine Texte versperrte. Beim Vortrag aus den Manuskripten, so wird berichtet, geriet er oft so sehr ins Lachen, daß er nicht mehr weiterlesen konnte. Solche Komik erschließt sich dem, der Kafkas Literatur den Generalklang abzuhören versteht.
Auf dessen Oberfläche spielt der Autor "mit ganzen Orchestern von Assoziationen" seine Melodie. Seit Kafkas Freund Max Brod im ersten Nachwort zum "Schloß"-Roman einen solchen Deutungsansatz vorlegte und Gershom Scholem ihn durch Hinweise aus seinen Kabbala-Studien stützte, sind die Parameter einer Lektüre tastend, aber doch immer genauer gesetzt worden: in Kafkas Literatur, so die Überzeugung, verbirgt sich ein rekonstruktionsfähiger Reflexionstext.
Es wuchs in Teilen der Kafka-Philologie die Zuversicht, man würde bei der Entzifferung kafkaesken Sinns den kabbalistischen Zeitrahmen unterbieten können. Aber es gab keinen zuverlässigen Text und bis in die achtziger Jahre keine kritisch edierte Ausgabe der Werke Franz Kafkas. Vor allem das Manuskript des "Process"-Romans hatte eine abenteuerliche, von Haushälterinnen zu haushälterischen Verkaufsabsichten führende Reise hinter sich, bis es endlich für das Marbacher Literaturarchiv erworben werden konnte.
Seit einiger Zeit liegt nun die von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit verantwortete Kritische Ausgabe bei S. Fischer vor, und ohne Zweifel bleibt das verdienstvolle Unternehmen die unverzichtbare Grundlage jeder künftigen Beschäftigung mit Kafka. Zwar gab es vereinzelt Kritik an der Arbeit der Editoren - vornehmlich aus den Reihen der hier anzuzeigenden konkurrierenden Edition -, aber es wäre unsinnig und überflüssig, daraus eine Debatte über Editionspraxis zu machen. Kritische Werkausgaben sind, wie jeder weiß, immer auch Deutungen.
Wer die Pasley-Ausgabe lobt, muß begründen, warum er dennoch die von Roland Reuß und Peter Staengle hergestellte kritische Edition des "Process"-Romans begrüßt. Das liegt daran, daß jeder Kafka-Leser dem Mann vom Lande in der Torhüter-Parabel gleicht: er ist geduldig, er studiert jedes Detail im Textgewebe, "bis er auch die Flöhe im Pelzkragen erkannt hat", und er ist, wie der Torhüter tadelnd vermerkt, unersättlich.
Die Flöhe im Pelzkragen können Kommas sein. Keine Lektüre Kafkas, die nicht mit unersättlicher Hoffnung in der Handschrift des Autors zu finden versuchte, was die gedruckte Version ihr versagt: die winzige Korrektur, die kleinste Verschreibung, den dünnen Strich, die das Tor aufsperren und die Rätsel lösen. Kafka war ein Theologe der Schrift. Der "erste kleine Strich", den der Künstler in der Erzählung "Ein Traum" auf dem Grabstein eingräbt, ist für K. "wie eine Erlösung". Der "erste kleine Strich" ist im hebräischen Alphabet das Jod, aus dem alle anderen Buchstaben, das Alphabet und schließlich alle Schriften entstanden sind. Sollte, wer dergleichen schreibt, nicht auch eine Spur solcher Buchstabengläubigkeit davon in seinen Manuskripten verwahrt haben? Könnte die Kafka-Forschung nicht wie Josef K. der "Erlösung" teilhaftig werden?
Roland Reuß und Peter Staengle haben Kafkas "Process"-Handschrift seitenweise faksimiliert und auf der jeweils gegenüberliegenden Seite lesbar und übersichtlich transkribiert. So groß ist ihre vom Dom-Geistlichen verordnete "Achtung vor der Schrift", daß sie das fragmentarische Manuskript veröffentlichen, wie es Max Brod vorgefunden hatte, ehe er es zu einem fiktiven Ganzen zusammenfügte: als unvollständiges, in einzelnen Heften und differenzierten Schriftträgern aufgeteiltes Textkonvolut.
Sie haben damit die unendliche Debatte über die richtige Kapitelfolge im "Process" (die sich vor allen Dingen um die Plazierung des "Dom"-Kapitels dreht) neu eröffnet. Auch wenn Mikro- und Makrostruktur der Handschrift keine eindeutigen Schlüsse erlauben, so spricht doch sehr viel für die Brodsche Anordnung, die auch von der S. Fischer-Ausgabe in den entscheidenden Zügen übernommen wurde.
Die Frage der Plazierung des "Dom"-Kapitels ist nicht nur von editionstechnischem Interesse - sie ist mitentscheidend für das Verständnis des gesamten Romans. Dank der faksimilierten, erstaunlich gut lesbaren Manuskriptseiten und ihrer hervorragenden Transkription läßt sich nun jede Verschreibung, jeder Buchstabenansatz, jede Streichung und jeder Strich rekonstruieren. Man kann erkennen, wann Kafka schnell und wann er langsam geschrieben hat, wie er Gedanken abkürzen und Bilder anreichern wollte, wann plötzlich das gespenstische "Ich" des Erzählers auftaucht, das Max Brod eliminiert hatte.
Vieles, so meint der Rezensent, spricht dafür, daß Kafka den auf der metaphysischen Gerichts- und Prozeßebene entwickelten und bereits beendeten Roman mit einer lebensweltlichen Gegen-Geschichte konfrontieren wollte. Das Mißlingen dieses Subtextes hat Kafka die Arbeit am "Process" abbrechen lassen. Akzeptiert man diese Prämisse, dann gewinnen nicht nur die von Brod ausgeschiedenen Kapitel um Elsa, den Staatsanwalt und die Mutter eine einsichtigere Bedeutung und einen dichteren Zusammenhang. Sie erklärt auch, warum Kafka in der Todesstunde K.'s die Staatsmacht als lebensweltliches Gegenüber zur Gerichtsmacht hatte auftreten lassen wollen.
Man befindet sich jetzt schon tief im Innern der Handschrift, und wer gerne Abenteuer sucht und Schlösser knacken will, kann sich von Reuß und Staengle das Handwerkszeug besorgen. Ein Wort noch zu den beiden Editoren: Roland Reuß und Peter Staengle, die auch eine kritische Edition der Werke Kleists betreuen, keine technischen Hilfswerke befehligen, die Transkription und den Satz selber besorgen, haben sich mittlerweile zu staunenswerten Meistern der Editionspraxis entwickelt.
Der "Ruck", den alle erwarten und den sich niemand gibt, ist hier durch die Germanistik gegangen und hat zur Gründung einer Manufaktur glänzender Textphilologie geführt. Es gilt für diese Edition der Handschrift des "Process"-Romans, was Tucholsky nach Lektüre der gedruckten Erstausgabe notierte: "Wir dürfen lesen, staunen, danken."
Franz Kafka: "Der Process". Faksimile-Edition. Herausgegeben von Roland Reuß unter Mitarbeit von Peter Staengle. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 1997. Sechzehn einzeln geheftete Entwurfs-Kapitel im Schuber, 348,- DM.
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