Grundlos wird Josef K. an seinem 30. Geburtstag verhaftet und verhört. Die Umstände sind grotesk, niemand kennt das Gesetz, und das Gericht bleibt anonym. Die »Schuld«, erfährt Josef K., haftet ihm an, ohne dass er dagegen etwas tun könnte. Verbissen, aber erfolglos versucht er, sich gegen die zunehmende Absurdität und Verstrickung zu wehren, schlägt jede Warnung vor weiterer Gegenwehr in den Wind und wird schließlich ein Jahr später vor den Toren der Stadt exekutiert. Franz Kafka hat mit diesem Roman ein Jahrhundertwerk geschaffen, das auf beispielhafte Weise die wesentlichen Existenzfragen des modernen Menschen neu formuliert.
Kafkas wohl berühmtester RomanGebundene AusgabeMeilenstein der literarischen Moderne
Kafkas wohl berühmtester RomanGebundene AusgabeMeilenstein der literarischen Moderne
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2008DAS HÖRBUCH
Lockende Zudringlichkeit
Franz Kafkas Romane in wunderbarer Lesung
Jemand musste einmal diese Idee haben, denn ohne dass es ein besonderes Wagnis wäre, dürfte dem Projekt der Erfolg sicher sein. Wenn die drei Romane Franz Kafkas zu gleicher Zeit als ungekürzte Lesungen erscheinen, liegen sie im Trend der aktuellen Hörbuchproduktion. Und dennoch spekulieren die Kafka-Produktionen des Rundfunks Berlin- Brandenburg nicht bloß auf Lese-Vermeidungsstrategien. Über einunddreißig Stunden Gesamtlaufzeit ergeben die Rezitationen von Peter Simonischek („Der Verschollene”), Peter Matic („Der Prozess”) und Ulrich Matthes („Das Schloss”), wenn man sie zusammennimmt. Und das sollte man tun, obwohl zwischen den Aufnahmen gut ein Dutzend Jahre liegen. Dass es sich bei den beiden erstgenannten um Aufzeichnungen aus den Jahren 1983 und 1995 handelt, und nur die Schloss-Lesung eine neue Produktion darstellt, ist marktstrategisch zwar geschickt im Kleingedruckten der CD-Beilage versteckt, aber unabhängig vom Aufnahmedatum ist allen drei Sprechern gemeinsam, dass sie die Anlagen der Romane zum mündlichen Vortrag auch umsetzen.
Das sind zunächst die vielfältigen rhetorischen Situationen, die Befragungen und Verhöre, die sich ebenso in der direkten Rede konstituieren wie ihre sprachlichen Gegenstücke, die Selbsterklärungen und sachlichen Darlegungen. Der junge Karl Roßmann, der Verschollene aus dem Amerika-Roman, stolpert von Rechtfertigung zu Rechtfertigung, die K.-Figuren aus den beiden anderen Romanen von Belehrung zu Belehrung über die krypto-bürokratischen Funktionsweisen von Gericht und Schloss-Administration. Kafkas Literatur entsteht zu einem großen Teil in den Sprech- und Hörszenen von Rede und Widerrede.
Zwar äußerte sich Kafka in einem Brief an Felice Bauer missbilligend über die Verbreitung der Grammophone, gegenüber der Teilzeitverlobten bezeichnete er deren bloße Existenz schon als Bedrohung. Das tut dem Interesse für die Koppelung von Technik und gesprochenem Wort aber keinen Abbruch. Es ist jedoch eine andere Gerätschaft, die vorrangig in den Texten auftaucht: Es wird viel telefoniert. Schon im Büro des Kapitäns, dessen Schiff Karl Roßmann nach Amerika bringt, dann im Hotel Occidental, wo er als Aufzugsjunge arbeitet, und selbstverständlich im Schloss-Roman.
Viel wird geflüstert
Die Frage des Verstehens oder Missverstehens entspringt den vielfältigen Möglichkeiten der Artikulation. Wie etwas gemeint ist, hängt auch davon ab, wie es gesagt wird. Viel ist über den Blick bei Kafka geschrieben worden, als Werkzeug der sozialen Kontrolle und Selbstkontrolle. Dieser Mechanismus wäre zu ergänzen um den des Hörens und Gehörtwerdens. Man achte einmal darauf, wie häufig gesellschaftliche Erwartungen oder der Vorwurf einer Verfehlung in der Rede mitschwingen. Auch, wie viel bei Kafka geflüstert wird, um niemanden zu stören. Wie zahlreich die Ausrufe der Verwunderung, die Worte der Empörung, die lockenden Sätze der Zudringlichkeit sind.
All dies ist in einer Hörfassung ungleich besser darzustellen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass Kafka die Tauglichkeit seiner Texte selbst im mündlichen Vortrag gegenüber der Schwester und dem Freund Max Brod getestet hat. Und übten auch Grammophon und Radio noch keine Wirkung auf die Präsentation der Literatur aus, so verdankt Kafka seinen ersten Bekanntheitsschub doch einem Tonträger. Er hieß Ludwig Hardt, war professioneller Rezitator und hatte zwar noch nicht die Romane, aber doch einige Erzählungen Kafkas im Programm.
Die Romanlesungen von Simonischek, Matic und Matthes berühren also wesentliche Momente in Kafkas Werk. Die Wirkkraft wird vielleicht durch die technische Aufzeichnung als Hörbuch noch verstärkt. Denn die Faszination der Romane speist sich aus einem internen Widerspruch: Nicht zuletzt im Kampf mit einer von unübersichtlichen Mechanismen durchdrungenen modernen Welt bietet sie vielfach die Möglichkeit zu Identifikationen. Andererseits ist diese Welt dem Alltag weit entrückt, beklemmend, wie im Dorf des Schloss-Romans, surreal, wie auf den gerichtlichen Dachböden des Prozess-Romans, von grotesken Gestalten bevölkert und gerade deshalb unheimlich reizvoll. Die Stimme des Hörbuchs setzt diese Welt nun in Szene, erhöht damit besonders in der Figurenrede ihre Greifbarkeit und nimmt ihr doch, durch die Abstraktion von jeglicher Körperlichkeit, durch das Gespenstische des entschwindenden Klangs, jede konkrete Verortung. Mag Kafka die technische Aufzeichnung der Stimme für bedrohlich gehalten haben, hier zeigt sie sich als Mittlerin des ästhetischen Genusses. CHRISTOPH SCHMAUS
FRANZ KAFKA: Der Verschollene. Gelesen von Peter Simonischek. Deutsche Grammophon, Berlin 2008. 8 CD, 10 Stunden 12 Min., 29,99 Euro.
FRANZ KAFKA: Der Prozess. Gelesen von Peter Matic. Deutsche Grammophon Berlin 2008. 7 CD, 8 Stunden 15 Min., 29,99 Euro.
FRANZ KAFKA: Das Schloss. Gelesen von Ulrich Matthes. Deutsche Grammophon, Berlin 2008. 10 CD, 13 Stunden 20 Min., 29,99 Euro.
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Lockende Zudringlichkeit
Franz Kafkas Romane in wunderbarer Lesung
Jemand musste einmal diese Idee haben, denn ohne dass es ein besonderes Wagnis wäre, dürfte dem Projekt der Erfolg sicher sein. Wenn die drei Romane Franz Kafkas zu gleicher Zeit als ungekürzte Lesungen erscheinen, liegen sie im Trend der aktuellen Hörbuchproduktion. Und dennoch spekulieren die Kafka-Produktionen des Rundfunks Berlin- Brandenburg nicht bloß auf Lese-Vermeidungsstrategien. Über einunddreißig Stunden Gesamtlaufzeit ergeben die Rezitationen von Peter Simonischek („Der Verschollene”), Peter Matic („Der Prozess”) und Ulrich Matthes („Das Schloss”), wenn man sie zusammennimmt. Und das sollte man tun, obwohl zwischen den Aufnahmen gut ein Dutzend Jahre liegen. Dass es sich bei den beiden erstgenannten um Aufzeichnungen aus den Jahren 1983 und 1995 handelt, und nur die Schloss-Lesung eine neue Produktion darstellt, ist marktstrategisch zwar geschickt im Kleingedruckten der CD-Beilage versteckt, aber unabhängig vom Aufnahmedatum ist allen drei Sprechern gemeinsam, dass sie die Anlagen der Romane zum mündlichen Vortrag auch umsetzen.
Das sind zunächst die vielfältigen rhetorischen Situationen, die Befragungen und Verhöre, die sich ebenso in der direkten Rede konstituieren wie ihre sprachlichen Gegenstücke, die Selbsterklärungen und sachlichen Darlegungen. Der junge Karl Roßmann, der Verschollene aus dem Amerika-Roman, stolpert von Rechtfertigung zu Rechtfertigung, die K.-Figuren aus den beiden anderen Romanen von Belehrung zu Belehrung über die krypto-bürokratischen Funktionsweisen von Gericht und Schloss-Administration. Kafkas Literatur entsteht zu einem großen Teil in den Sprech- und Hörszenen von Rede und Widerrede.
Zwar äußerte sich Kafka in einem Brief an Felice Bauer missbilligend über die Verbreitung der Grammophone, gegenüber der Teilzeitverlobten bezeichnete er deren bloße Existenz schon als Bedrohung. Das tut dem Interesse für die Koppelung von Technik und gesprochenem Wort aber keinen Abbruch. Es ist jedoch eine andere Gerätschaft, die vorrangig in den Texten auftaucht: Es wird viel telefoniert. Schon im Büro des Kapitäns, dessen Schiff Karl Roßmann nach Amerika bringt, dann im Hotel Occidental, wo er als Aufzugsjunge arbeitet, und selbstverständlich im Schloss-Roman.
Viel wird geflüstert
Die Frage des Verstehens oder Missverstehens entspringt den vielfältigen Möglichkeiten der Artikulation. Wie etwas gemeint ist, hängt auch davon ab, wie es gesagt wird. Viel ist über den Blick bei Kafka geschrieben worden, als Werkzeug der sozialen Kontrolle und Selbstkontrolle. Dieser Mechanismus wäre zu ergänzen um den des Hörens und Gehörtwerdens. Man achte einmal darauf, wie häufig gesellschaftliche Erwartungen oder der Vorwurf einer Verfehlung in der Rede mitschwingen. Auch, wie viel bei Kafka geflüstert wird, um niemanden zu stören. Wie zahlreich die Ausrufe der Verwunderung, die Worte der Empörung, die lockenden Sätze der Zudringlichkeit sind.
All dies ist in einer Hörfassung ungleich besser darzustellen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass Kafka die Tauglichkeit seiner Texte selbst im mündlichen Vortrag gegenüber der Schwester und dem Freund Max Brod getestet hat. Und übten auch Grammophon und Radio noch keine Wirkung auf die Präsentation der Literatur aus, so verdankt Kafka seinen ersten Bekanntheitsschub doch einem Tonträger. Er hieß Ludwig Hardt, war professioneller Rezitator und hatte zwar noch nicht die Romane, aber doch einige Erzählungen Kafkas im Programm.
Die Romanlesungen von Simonischek, Matic und Matthes berühren also wesentliche Momente in Kafkas Werk. Die Wirkkraft wird vielleicht durch die technische Aufzeichnung als Hörbuch noch verstärkt. Denn die Faszination der Romane speist sich aus einem internen Widerspruch: Nicht zuletzt im Kampf mit einer von unübersichtlichen Mechanismen durchdrungenen modernen Welt bietet sie vielfach die Möglichkeit zu Identifikationen. Andererseits ist diese Welt dem Alltag weit entrückt, beklemmend, wie im Dorf des Schloss-Romans, surreal, wie auf den gerichtlichen Dachböden des Prozess-Romans, von grotesken Gestalten bevölkert und gerade deshalb unheimlich reizvoll. Die Stimme des Hörbuchs setzt diese Welt nun in Szene, erhöht damit besonders in der Figurenrede ihre Greifbarkeit und nimmt ihr doch, durch die Abstraktion von jeglicher Körperlichkeit, durch das Gespenstische des entschwindenden Klangs, jede konkrete Verortung. Mag Kafka die technische Aufzeichnung der Stimme für bedrohlich gehalten haben, hier zeigt sie sich als Mittlerin des ästhetischen Genusses. CHRISTOPH SCHMAUS
FRANZ KAFKA: Der Verschollene. Gelesen von Peter Simonischek. Deutsche Grammophon, Berlin 2008. 8 CD, 10 Stunden 12 Min., 29,99 Euro.
FRANZ KAFKA: Der Prozess. Gelesen von Peter Matic. Deutsche Grammophon Berlin 2008. 7 CD, 8 Stunden 15 Min., 29,99 Euro.
FRANZ KAFKA: Das Schloss. Gelesen von Ulrich Matthes. Deutsche Grammophon, Berlin 2008. 10 CD, 13 Stunden 20 Min., 29,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2008Du wirst eben ungenau gelesen haben
Kafka, wie er schreibt und webt: Die Oxforder Oktavhefte pflegen einen hehren Textpurismus, wittern mitunter aber Tiefsinn unter den Graphitspuren.
Ich werde doch deinen ,Prozeß' auf eigene Faust zu Ende schneidern!", drohte Max Brod im August 1919 scherzhaft seinem Freund Franz Kafka. Nur seiner Entschlossenheit - das war oft zu hören in der letzten Zeit - ist es zu verdanken, dass Kafkas Nachlass überhaupt veröffentlicht wurde. Am 4. Juni 1924, einen Tag nach dessen Tod, kündigte Brod im "Prager Tagblatt" den Roman "Der Prozess" als sein nunmehr vollendetes, "größtes Werk" an und versprach das baldige Erscheinen. Im März 1925 wurde das Buch vom Berliner Verlag "Die Schmiede" ausgeliefert. Versehen war es mit Brods Nachwort, in dem er begründet, warum er dem Letzten Willen seines Freundes zur restlosen Vernichtung aller seiner Manuskripte nicht folgte. Willy Haas besprach umgehend dieses "letzte Werk" und feierte das vielleicht größte "Erzählgenie des jungen Europa". Dabei verschwieg er nicht den fragmentarischen Charakter, den Brod durch herausgeberisches Geschick und die Beschränkung auf die aus seiner Sicht "vollendeten" Kapitel kaschieren wollte.
Erst die seit 1982 erscheinende textkritische Edition im S. Fischer Verlag sowie die seit 1997 damit konkurrierende "Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte" (FKA) des Heidelberger Instituts für Textkritik haben die wohlmeinenden Eingriffe und Arrangements Brods sichtbar gemacht. Seine Ausgabe von "Der Prozess", die den Beginn von Kafkas Nachlassedition markiert, haben Roland Reuß und Peter Staengle jetzt als Supplement der FKA originalgetreu faksimiliert. Der noch immer schmucke grüne Leinenband mit gelbem Kopfschnitt und blau-rotem Titelschild, der seinerzeit 5,50 Mark kostete und heute antiquarisch ab 450 Euro gehandelt wird, ist jene Version, die den Roman weltberühmt machte. Damit erhält der Leser nicht nur ein bibliophiles Kleinod, sondern auch die Begründung für moderne Ausgaben.
Denn Misstrauen gegenüber älteren Editionen ist eine notwendige philologische Grundhaltung. Diese Überzeugung bestimmt die Arbeit von Reuß und Staengle im höchsten Maße. Seit Dietrich E. Sattlers Hölderlin-Ausgabe sind sie die Radikalsten der Zunft, und das im wörtlichen Sinne: Sie packen Texte grundsätzlich bei ihrer Wurzel, also der faksimilierten Handschrift oder Erstausgabe. Deren zeilengenaue Wiedergabe im Satz, die alle Streichungen und Verbesserungen nachvollziehbar dokumentiert, ist lediglich eine Serviceleistung und Hilfestellung für den Leser, der selbst immer wieder an den Ursprung verwiesen wird. Hier, und nur hier soll er Sinn suchen, indem er dem Autor gleichsam beim Schöpfen, Grübeln und Schreiben zusieht.
Wie berechtigt die Skepsis in blindes Textvertrauen gerade im Falle Kafkas ist, machen jetzt die beiden Oktavhefte 3 & 4 in der FKA deutlich. Es sind durchweg mit Bleistift beschriebene Kladden aus der Oxforder Bodleian Library, die wie die vorangehenden beiden Hefte (F.A.Z. vom 16. August 2007) in Originalgröße wiedergegeben sind und die Handschriften zusätzlich auf einer DVD zur Detailvergrößerung bereitstellen. Diese zwischen Ende Februar und dem 22. April 1917 entstandenen Aufzeichnungen enthalten neben kleineren Entwürfen, etwa zum "Jäger Gracchus", Erzählungen wie "Beim Bau der chinesischen Mauer", "Ein altes Blatt", "Eine kaiserliche Botschaft" oder "Ein Bericht für eine Akademie". Oft erscheinen die Abschnitte ohne Überschrift und sind nur durch Querstriche vom Voran- oder Nachstehenden getrennt. Brod hat diese Skandierungszeichen gelegentlich übersehen oder ignoriert, 1931 publizierte er etwa eine Passage unter dem Titel "Der Schlag ans Hoftor", dessen letzter Absatz gar nicht mehr zu diesem Text gehört.
Die Kritische Ausgabe von Malcolm Pasley im S. Fischer Verlag, die Reuß und Staengle gar nicht erst in die Diskussion einbeziehen, berücksichtigt zwar die längeren oder kürzeren Trennlinien, kann aber mit der fotografischen Akkuratheit der FKA nicht mithalten. Gleich auf der ersten Seite von Oktavheft 3, das bei Pasley mit "C" bezeichnet ist, verändert ein gegenüber der Handschrift willkürlich hinzugefügtes Komma gänzlich den Sinn. Geschrieben steht: "Das mag sein, antwortete ich mir selbst Du wirst eben ungenau gelesen haben." Indem Pasley nach "selbst" ein Satzzeichen einfügt, betont er das Selbstgespräch, während die Handschrift durch eine dem Zeilenwechsel noch hinzugefügte deutliche Lücke zwischen "mir" und "selbst" die Ungenauigkeit der Lektüre hervorhebt, die "sogar" der Sprecher sich selbst vorzuwerfen hat. Das mag pedantisch wirken, nur sind Kritische Ausgaben eben nicht zur Wiedergabe eines Plots, sondern für genau solche Details da, die entscheidend sein können.
Solche Fälle, von denen man etliche anführen könnte, lassen an dem Wert und Verdienst des Unternehmens keinen Zweifel. Wären da nicht die beigefügten "Kafka-Hefte", in denen die Herausgeber entgegen ihrer sonst so disziplinierten Selbstbeschränkung auf handwerkliche Gediegenheit und puristische Liebe zu den Textzeugen zu deuten beginnen. Die "Einführung" von Reuß lenkt den Blick auf interessante Problemfälle, neigt dann aber immer wieder zu ingeniös klügelnden Interpretationen. Hier ein Beispiel unter vielen. Als der Jäger Gracchus von seinem Jagdunfall im Schwarzwald erzählt, heißt es an einer dreizeiligen Stelle: "Frag nicht weiter. Hier bin / ich, tot, tot, tot. Weiss / nicht, warum ich hier bin." Reuß kommentiert: "In der mittleren Zeile steht das Ich extrem nicht nur dem Wissen, sondern auch dem Weiß (wie zu lesen ist: des zugrunde liegenden Papiers) gegenüber, so dass die graphische und durch ein Graphitgatter von sechs t-Buchstaben erzeugte Spannung eine Bedeutung hervorbringt, die nicht in der Hauptrichtung der Primärintention der Rede liegt, gleichwohl aber alles Interesse der Interpretation auf sich ziehen kann: Das Tot-Sein scheint gekoppelt zu sein an das Verschwinden der Graphit- und Graphikspur in der Oberfläche des Papiers - vor allem Schreiben oder nach dessen Auslöschung (Verbleichen/Rasur)." O je, denkt man da und hält sich lieber an die klar und schwungvoll beschriebenen Manuskripte Kafkas, der auf dem Schreibtisch seine Hände beobachtet: "Das Buch in dem ich gelesen hatte, klappten sie zu und schoben es bei Seite, damit es nicht störe."
ALEXANDER KOSENINA
Franz Kafka: "Oxforder Oktavheft 3 & 4". Faksimile-Edition. Zwei Bände, zusammen mit Franz-Kafka-Heft 6 und DVD. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main/ Basel 2008. 384 S., br. im Schuber. Beigelegt: Franz Kafka: "Der Prozess". Faksimile der Erstausgabe im Verlag Die Schmiede, Berlin 1925. geb. 412 + 14 S., zus. 128,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kafka, wie er schreibt und webt: Die Oxforder Oktavhefte pflegen einen hehren Textpurismus, wittern mitunter aber Tiefsinn unter den Graphitspuren.
Ich werde doch deinen ,Prozeß' auf eigene Faust zu Ende schneidern!", drohte Max Brod im August 1919 scherzhaft seinem Freund Franz Kafka. Nur seiner Entschlossenheit - das war oft zu hören in der letzten Zeit - ist es zu verdanken, dass Kafkas Nachlass überhaupt veröffentlicht wurde. Am 4. Juni 1924, einen Tag nach dessen Tod, kündigte Brod im "Prager Tagblatt" den Roman "Der Prozess" als sein nunmehr vollendetes, "größtes Werk" an und versprach das baldige Erscheinen. Im März 1925 wurde das Buch vom Berliner Verlag "Die Schmiede" ausgeliefert. Versehen war es mit Brods Nachwort, in dem er begründet, warum er dem Letzten Willen seines Freundes zur restlosen Vernichtung aller seiner Manuskripte nicht folgte. Willy Haas besprach umgehend dieses "letzte Werk" und feierte das vielleicht größte "Erzählgenie des jungen Europa". Dabei verschwieg er nicht den fragmentarischen Charakter, den Brod durch herausgeberisches Geschick und die Beschränkung auf die aus seiner Sicht "vollendeten" Kapitel kaschieren wollte.
Erst die seit 1982 erscheinende textkritische Edition im S. Fischer Verlag sowie die seit 1997 damit konkurrierende "Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte" (FKA) des Heidelberger Instituts für Textkritik haben die wohlmeinenden Eingriffe und Arrangements Brods sichtbar gemacht. Seine Ausgabe von "Der Prozess", die den Beginn von Kafkas Nachlassedition markiert, haben Roland Reuß und Peter Staengle jetzt als Supplement der FKA originalgetreu faksimiliert. Der noch immer schmucke grüne Leinenband mit gelbem Kopfschnitt und blau-rotem Titelschild, der seinerzeit 5,50 Mark kostete und heute antiquarisch ab 450 Euro gehandelt wird, ist jene Version, die den Roman weltberühmt machte. Damit erhält der Leser nicht nur ein bibliophiles Kleinod, sondern auch die Begründung für moderne Ausgaben.
Denn Misstrauen gegenüber älteren Editionen ist eine notwendige philologische Grundhaltung. Diese Überzeugung bestimmt die Arbeit von Reuß und Staengle im höchsten Maße. Seit Dietrich E. Sattlers Hölderlin-Ausgabe sind sie die Radikalsten der Zunft, und das im wörtlichen Sinne: Sie packen Texte grundsätzlich bei ihrer Wurzel, also der faksimilierten Handschrift oder Erstausgabe. Deren zeilengenaue Wiedergabe im Satz, die alle Streichungen und Verbesserungen nachvollziehbar dokumentiert, ist lediglich eine Serviceleistung und Hilfestellung für den Leser, der selbst immer wieder an den Ursprung verwiesen wird. Hier, und nur hier soll er Sinn suchen, indem er dem Autor gleichsam beim Schöpfen, Grübeln und Schreiben zusieht.
Wie berechtigt die Skepsis in blindes Textvertrauen gerade im Falle Kafkas ist, machen jetzt die beiden Oktavhefte 3 & 4 in der FKA deutlich. Es sind durchweg mit Bleistift beschriebene Kladden aus der Oxforder Bodleian Library, die wie die vorangehenden beiden Hefte (F.A.Z. vom 16. August 2007) in Originalgröße wiedergegeben sind und die Handschriften zusätzlich auf einer DVD zur Detailvergrößerung bereitstellen. Diese zwischen Ende Februar und dem 22. April 1917 entstandenen Aufzeichnungen enthalten neben kleineren Entwürfen, etwa zum "Jäger Gracchus", Erzählungen wie "Beim Bau der chinesischen Mauer", "Ein altes Blatt", "Eine kaiserliche Botschaft" oder "Ein Bericht für eine Akademie". Oft erscheinen die Abschnitte ohne Überschrift und sind nur durch Querstriche vom Voran- oder Nachstehenden getrennt. Brod hat diese Skandierungszeichen gelegentlich übersehen oder ignoriert, 1931 publizierte er etwa eine Passage unter dem Titel "Der Schlag ans Hoftor", dessen letzter Absatz gar nicht mehr zu diesem Text gehört.
Die Kritische Ausgabe von Malcolm Pasley im S. Fischer Verlag, die Reuß und Staengle gar nicht erst in die Diskussion einbeziehen, berücksichtigt zwar die längeren oder kürzeren Trennlinien, kann aber mit der fotografischen Akkuratheit der FKA nicht mithalten. Gleich auf der ersten Seite von Oktavheft 3, das bei Pasley mit "C" bezeichnet ist, verändert ein gegenüber der Handschrift willkürlich hinzugefügtes Komma gänzlich den Sinn. Geschrieben steht: "Das mag sein, antwortete ich mir selbst Du wirst eben ungenau gelesen haben." Indem Pasley nach "selbst" ein Satzzeichen einfügt, betont er das Selbstgespräch, während die Handschrift durch eine dem Zeilenwechsel noch hinzugefügte deutliche Lücke zwischen "mir" und "selbst" die Ungenauigkeit der Lektüre hervorhebt, die "sogar" der Sprecher sich selbst vorzuwerfen hat. Das mag pedantisch wirken, nur sind Kritische Ausgaben eben nicht zur Wiedergabe eines Plots, sondern für genau solche Details da, die entscheidend sein können.
Solche Fälle, von denen man etliche anführen könnte, lassen an dem Wert und Verdienst des Unternehmens keinen Zweifel. Wären da nicht die beigefügten "Kafka-Hefte", in denen die Herausgeber entgegen ihrer sonst so disziplinierten Selbstbeschränkung auf handwerkliche Gediegenheit und puristische Liebe zu den Textzeugen zu deuten beginnen. Die "Einführung" von Reuß lenkt den Blick auf interessante Problemfälle, neigt dann aber immer wieder zu ingeniös klügelnden Interpretationen. Hier ein Beispiel unter vielen. Als der Jäger Gracchus von seinem Jagdunfall im Schwarzwald erzählt, heißt es an einer dreizeiligen Stelle: "Frag nicht weiter. Hier bin / ich, tot, tot, tot. Weiss / nicht, warum ich hier bin." Reuß kommentiert: "In der mittleren Zeile steht das Ich extrem nicht nur dem Wissen, sondern auch dem Weiß (wie zu lesen ist: des zugrunde liegenden Papiers) gegenüber, so dass die graphische und durch ein Graphitgatter von sechs t-Buchstaben erzeugte Spannung eine Bedeutung hervorbringt, die nicht in der Hauptrichtung der Primärintention der Rede liegt, gleichwohl aber alles Interesse der Interpretation auf sich ziehen kann: Das Tot-Sein scheint gekoppelt zu sein an das Verschwinden der Graphit- und Graphikspur in der Oberfläche des Papiers - vor allem Schreiben oder nach dessen Auslöschung (Verbleichen/Rasur)." O je, denkt man da und hält sich lieber an die klar und schwungvoll beschriebenen Manuskripte Kafkas, der auf dem Schreibtisch seine Hände beobachtet: "Das Buch in dem ich gelesen hatte, klappten sie zu und schoben es bei Seite, damit es nicht störe."
ALEXANDER KOSENINA
Franz Kafka: "Oxforder Oktavheft 3 & 4". Faksimile-Edition. Zwei Bände, zusammen mit Franz-Kafka-Heft 6 und DVD. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main/ Basel 2008. 384 S., br. im Schuber. Beigelegt: Franz Kafka: "Der Prozess". Faksimile der Erstausgabe im Verlag Die Schmiede, Berlin 1925. geb. 412 + 14 S., zus. 128,- [Euro].
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