Alle vier Jahre tagt in Paris die Internationale Generalkonferenz für Maß und Gewicht. Doch für den spanischen Delegierten und namenlosen Erzähler diesesaußergewöhnlichen Romans nimmt die Konferenz eine unvorhersehbare Wendung: Den Standardkilostein als Eichmaß im Gepäck, wird er in einem Fastfood-Restaurant Zeuge davon, wie ein alter Mann ausgesetzt wird. Mehr oder weniger unfreiwillig nimmt er sich des Fremden an, auf dessen Unterarm eine geheimnisvolle Tätowierung in kyrillischen Buchstaben prangt. Als sich herausstellt, dass es sich bei dem Alten um den Atomphysiker Wassili Nesterenko handelt, dank dessen Intervention damals in Tschernobyl noch Schlimmeres verhindert werden konnte, verwischen sich die Grenzen zwischen Fiktion und Fakten vollends: Sebastián entführt uns aus Paris nach Prypjat, der Retortenstadt in unmittelbarer Nähe des Reaktors, und erzählt eindringlich die Schicksale seiner Bewohner. Sie verdanken Nesterenko - oder Wassja, wie der Radfahrer von Tschernobyl von ihnen liebevoll genannt wird - nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Zukunft: Unbeeindruckt von der staatlichen Repression tut Nesterenko alles dafür, den Opfern von Tschernobyl den Alltag nach der Katastrophe wenigstens ein bisschen zu erleichtern.
Javier Sebastián dringt in dem Roman "Der Radfahrer von Tschernobyl" in die verseuchte Sperrzone ein. Das Ergebnis ist ein beklemmender Mix aus Wahrheit und Fiktion.
Für eine eigenartige Mischung aus Grauen und Faszination sorgte der kanadische Fotograf Robert Polidori, als er sich 2001, in schwere Schutzkleidung gehüllt, mit seiner Kamera in die Sperrzone von Tschernobyl aufmachte, um zu porträtieren, was nach der Reaktorkatastrophe übrig blieb. Seine Bilder aus Prypjat, der dem Havariereaktor nächstgelegenen Stadt, ließen eine Art radioaktives Pompeji entdecken: Krankenhäuser, Schulen und Wohnungen, in denen alles geblieben war, wie es von den fliehenden Bewohnern zurückgelassen wurde: Fünfzehn Jahre lang in einer Momentaufnahme konserviert - nicht durch Lavaschichten, sondern durch die Angst vor der Strahlung.
In seinem Roman "Der Radfahrer von Tschernobyl" fügt Javier Sebastián dem Szenario einen weiteren Dreh des Schauderns hinzu: indem er die Geisterstadt mit Menschen bevölkert. Er schildert Rückkehrer nach Prypjat, die sich an den Milizposten vorbeigeschlichen haben, um sich freiwillig einem kurzen Leben in der tödlichen Strahlung auszusetzen. Gestrandete, Verfolgte, Enttäuschte, die in der vermeintlich bewohnbaren Welt ihren Platz nicht finden konnten. "Zum Sterben zurückgezogen" und deshalb von der Miliz geduldet, wie es in den vereinzelten journalistischen Artikeln dazu heißt. Samosjoly, "Selbstumsiedler", heißen die Marginalexistenzen offiziell.
Inzwischen ist das Katastrophengebiet längst ein vielfach dokumentiertes Abenteuergelände für den westlichen Massentourismus. So fungieren die Figuren im Roman zuweilen als Interviewgeber und Statisten. Und doch gelingt es Sebastián, diesen Menschen in der Sperrzone eine Stimme zu geben. Im Zentrum steht das Schicksal von Wasja, genannt der "Radfahrer von Tschernobyl". In seinem früheren Leben war er einmal einer der bedeutendsten Nuklearingenieure der Sowjetunion. Deshalb wurde er im April 1986 von der Regierung nach Tschernobyl zitiert, um die Kernschmelze im havarierten Reaktor zu verhindern. Das traumatische Erlebnis ließ ihn die Seiten wechseln: Er wurde zum Atomkraftgegner und gründete das unabhängige Institut Belrad, um den Strahlenopfern durch ein selbstentwickeltes Gerät zur Strahlenmessung im Körper das Überleben zu ermöglichen.
So viel Selbstlosigkeit schafft Feinde: Das postsowjetische Regime lässt ihn beschatten, verfolgen, schließlich wird er bedroht, bis er nur noch ein Fluchtziel weiß: die kontaminierte Geisterstadt Prypjat, wo die Häscher von ihm ablassen. Was als unmenschlichster aller Exilorte erscheinen mag, entpuppt sich als eine befremdlich idyllische Insel jenseits von Raum und Zeit. Wer sich hierhin zurückzieht, weiß, dass ihm die Welt draußen nichts mehr zu bieten hat. Das lässt unter den wenigen Bewohnern von Prypjat ein Gefühl der Selbstbehauptung entstehen: Sie alle, "Helden der ionisierenden Strahlung", stellen sich dem Tod entgegen, um einem lebensfeindlichen Raum eine ungeahnte Süße abzuringen: Kinos, Hotels, Theater, die besten Wohnungen stehen ihnen uneingeschränkt zur Verfügung. Mit heimlich importierten Geigerzählern lässt sich unverstrahlter Boden finden, wo man Gemüse anbauen kann. Auch das soziale Leben der Stadt ist durch den gemeinsamen Kampf gegen Plünderer und die Widrigkeiten des Alltags durch eine Solidarität geprägt, die jeder hier in der Außenwelt vergeblich gesucht hat. Auch eine Prostituierte ist zurückgekehrt, die sich an den durch die Strahlenkrankheit verursachten Körpergeruch ihrer Freier gewöhnt hat.
Dies feine Entwickeln einer eigentlich unmöglichen, zwischen Irrealität und Authentizität schwebenden Gegenwelt macht den Reiz von Sebastiáns Erzählen aus. Gleichzeitig wirft es die Frage auf, was davon der Wirklichkeit entspringt und was der Phantasie. Hier treibt der spanische Autor ein kalkuliertes, ambivalentes Spiel mit seinen Lesern. Eingebettet wird die Handlung in eine unverkennbar fiktive Rahmenhandlung um einen spanischen Funktionär der Kommission für Maße und Gewichte: dem Ich-Erzähler des Buchs. Irrtümlich wird ihm bei einer Konferenz in Paris unterstellt, seinen pflegebedürftigen Vater in einem Fast-Food-Restaurant ausgesetzt zu haben, und unter Androhung von Strafverfolgung wird er aufgefordert, sich seiner anzunehmen. Bald entpuppt sich der desorientierte Greis als der ins französische Exil geflohene weißrussische Kernphysiker Wasja.
Auf allzu verschlungenen Wegen verfolgt Sebastián die Spur seines Schützlings zwischen Minsk, Paris, Madrid und Prypjat. Ans Licht tritt dabei aber - gestützt auf Recherchen mit Referenzfußnoten und verweisenden Links - die keineswegs fiktive Vertuschungsmaschinerie des sowjetischen Regimes und ihres "nuklearen GuLag", die auch nach dem Zerfall der Sowjetunion weitergetrieben wird. Zudem ist der Umsiedler Wasja eine reale Symbolfigur des Kampfes gegen die Kernkraft. Schon auf der ersten Seite des Buchs ist vermerkt, dass der Roman in Teilen auf dem Leben des Kernphysikers Wassili B. Nesterenko basiert, der im August 2008 in Minsk verstorben ist. Belegbare Detailtreue wie die wörtlich zitierte Laudatio zur Verleihung des Bremer Friedenspreises 2006 an Nesterenko soll die Authentizität des Geschehens evozieren.
Dies doppelbödige Changieren zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem, einem Markenzeichen des in Spanien bereits seit längerem erfolgreichen Autors, ist literarisch faszinierend. Dennoch gibt es eine konzeptionelle Schwachstelle. Denn die erfundene Handlung um die Figur des Funktionärskarrieristen ist im Detail unstimmig. Dass in unserer kontrollwütigen europäischen Gegenwart ein illegal ins Schengen-Gebiet eingereister Weißrusse ungeklärter Identität und ohne Ausweise von Madrid nach Paris fliegen, sich in Hotels einquartieren und gar als spanischer Staatsbürger identifiziert werden kann, ist unwahrscheinlich.
Vor allem aber steht die Erzählstrategie dem offenkundigen politischen Anspruch entgegen, auf dem Weg eines poetischen wie spannenden Erzähltextes die realen Mechanismen der Atomlobby zu entlarven. Nachdem deren Wortführer Kritiken gern als Verschwörungstheorie abtun, arbeiten ihnen fehlerhafte Fiktionen zu: In letzter Instanz bleibt für den Leser nicht greifbar, in welchem Maße auch die Enthüllungen über das Vernichtungswerk der Atomkraft selbst bloß ein literarisch Spiel sein könnten. Immerhin gehört die Berufung auf wissenschaftliche Quellen zu den klassischen Beglaubigungsstrategien der phantastischen Literatur.
FLORIAN BORCHMEYER
Javier Sebastián: "Der Radfahrer von Tschernobyl". Roman.
Aus dem Spanischen von Anja Lutter. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Osteuropäische Apokalypse trifft behäbiges Kerneuropa", empfiehlt uns Jutta Person diesen Roman des Spaniers Javier Sebastian, der von dem Grüppchen verzweifelter Menschen erzählt, die heimlich in die weißrussische Geisterstadt Prypjat zurückkehrt sind. Fakten und Fiktion sieht die Rezensentin hier wundersam miteinander verbunden, den titelgebenden Radfahrer hat es aber auf jeden Fall gegeben, es handelt sich um den weißrussischen Atomphysiker Wassili Nesterenko, der für sein Engagement von den Behörden mit dem Tod bedroht wurde. Dankbar ist Person, dass der Autor mit diesem Roman an die große Katastrophe von Tschernobyl erinnert und attestiert ihm Feingefühl und Witz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Hier triumphieren lyrische Härte und eindringliches erzählerisches Geschick über das Unsagbare." Domingo Ródenas, El Periódico
"Ein Meisterwerk der unsentimentalen Vergegenwärtigung - einer Katastrophe, eines Schicksals, einer Lebenstragödie." Gregor Ziolkowski, Deutschlandradio