Rettenberger läuft Kilometer um Kilometer, aus der Stadt, über Felder. Hinter ihm wirbeln Blaulichter durch die Nacht, vor ihm dehnt sich die Landschaft. Da wird es leichter, er setzt nur noch die Fußspitzen auf, hebt gleichsam ab, fliegt seinen Verfolgern davon. »Ich laufe davon, unentwegt kam dieser kaum hörbare Satz wieder, bei jedem neuen Schritt. Und dieses Reden versorgte ihn spürbar besser mit Luft, durchdrang leichter die Enge im Hals, diese Barriere seiner stummen Angst, und überspielte selbst die Hast in seinem Atmen.« Als »Pumpgun-Ronnie« wurde der Bankräuber, der bei den meisten seiner Überfälle eine Reagan-Maske trug, Ende der achtziger Jahre berühmt. Fernsehen und Zeitungen berichteten in allen Ausgaben über seine Flucht, die er, der Marathon-läufer, vier Tage lang überwiegend zu Fuß bestritt.Martin Prinz, ebenfalls Läufer, hat ihn gekannt und zum Helden seines Romans gemacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2003Der Marathon-Hauptmann
Auf den Spuren einer Legende: Ein Romandebüt von Martin Prinz
Räuber pflegen von der Justiz gerichtet zu werden, nicht von der Literatur. Ja, für eine sublimierte Sensationslust ist der Graus offenbar ein Leseschmaus. Dem ungemein erfolgreichen "romantischen" Räuberroman von Goethes Schwager Christian August Vulpius "Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann" hatte schon Schillers Erstlingsdrama "Die Räuber" den Weg bereitet. Und so sehr gierte das Publikum nach Fortsetzungen, daß Vulpius seinen bereits gestorbenen Rinaldo Rinaldini wiederauferstehen und durch viele Bücher hindurch weiterräubern ließ.
Das "Romantische" der Geschichte steht einer Veredlung der Räubergestalt durch einen Schuß Selbstlosigkeit nicht im Weg, weder bei Schiller noch bei Vulpius. Das Motiv der Gerechtigkeit, der "Umverteilung" der Güter, wird schon dem mittelalterlichen Räuberhauptmann Englands, Robin Hood, zugeschrieben, aber auch dem Schinderhannes (Johann Bückler), dem rheinischen Volkshelden aus napoleonischer Zeit - dem Hingerichteten verhalf im zwanzigsten Jahrhundert Carl Zuckmayer mit seinem Schauspiel "Schinderhannes" (1927) zum Weiterleben auf der Bühne. Prompt antwortete Brecht im Jahr darauf in der "Dreigroschenoper" mit seinem Banditen Mackie Messer. In Hollywoods Kino rauchen die Pulverdämpfe der Räuberpistolen von Jesse James oder Bonnie und Clyde.
Der Debütroman des Österreichers Martin Prinz "Der Räuber" unterscheidet sich von allen diesen Räubermoritaten dadurch, daß der Autor das Vorbild des Titelhelden selbst kannte: jenen Bankräuber, der als "Pumpgun-Ronnie" (er trug bei seinen Überfällen meistens eine Reagan-Maske) Ende der achtziger Jahre die Journalisten in Atem hielt und die Bevölkerung in der Umgebung Wiens nicht zur Ruhe kommen ließ. Prinz schickt diesem "Pumpgun-Ronnie", der immerhin aus einem zweifelhaften Anlaß einen Mord begeht, keine Flüche nach. Solche Haltung rechtfertigt schon Schiller in der Einleitung zu seiner Erzählung "Der Verbrecher aus verlorener Ehre": Nicht moralisch zu urteilen habe der Kriminalberichterstatter, sondern dem Leser durch die Art seiner Darstellung Einblick in die Kausalität krimineller Handlungen zu geben.
"Pumpgun-Ronnie" war ein Bankräuber von unglaublicher Verwegenheit und Frechheit; einmal plünderte er an einem einzigen Tag drei Provinzbanken aus. Er führte, nach einer verbüßten ersten Haftstrafe und nach dem Wiedereinstieg in die kriminelle Laufbahn, die Polizei an der Nase herum. Prinz' Erzählung setzt damit ein, daß er den endlich gefaßten Johann Rettenberger bei einer Vernehmung aus dem Fenster springen und erneut entweichen läßt (November 1988). In ständigem Wechsel der Zeitebenen werden nun die Stationen der Flucht und die früheren Tathergänge vergegenwärtigt. So entsteht das Profil des Täters erst allmählich und schaltet der Fluchtbericht immer wieder Pausen ein. Das löst im Leser eine doppelte Spannung aus: die Erwartung des Gelingens oder Mißlingens der Flucht und die Neugier auf die ganze Person. Die Darstellung der Flucht und der Biographie sind in artistischer Weise assoziativ miteinander verknüpft.
Mit topographischer Genauigkeit wird die Flucht in die imaginäre Landkarte der Umgebung Wiens eingezeichnet. Daß der Erzähler der Fluchtspur des Bankräubers wie auf einer Generalstabskarte folgt, hat seinerseits etwas von ausgefeilter kriminalistischer Technik. Der Erzähler bleibt in Abstand zu der Figur, notiert aber minutiös ihre Wahrnehmungen und ihre Gründe für den Zickzackkurs der Flucht, für die Wahl der Route oder des Unterschlupfs. Daß die Polizei die Spur des Ausgebrochenen verliert, hat mit seinem außergewöhnlichen Laufvermögen zu tun.
Johann Rettenberger ist Marathonläufer, hat sogar beim "schwersten Berglauf Österreichs", dem "Kainacher Bergmarathon", gesiegt. Als Läufer trainiert hat aber auch der junge Autor Martin Prinz. So erklären sich die Spezialkenntnisse, mit denen Atem- und Lauftechnik, durch Höhenunterschiede geforderte Wechsel der Gangart - "schnelles Bergablaufen" rächt sich "in der Ebene" -, Körperreaktionen und Vorstellungsverknüpfungen während des Laufens geschildert werden. Ein paarmal gelingt es Rettenberger auch, mit gestohlenen Wagen zu fliehen. Im übrigen aber ist diese Flucht ein Marathonlauf. Wie sie endet, sei hier nicht verraten.
Der Roman ist in einer schlackenlosen, auf das Reißerische gar nicht angewiesenen Prosa geschrieben. Er bietet Erfahrungskunde der Fortbewegung in einer unendlich vielgliedrigen Landschaft. Der Autor sieht den "Räuber" weder mit den Augen eines Richters noch eines Verteidigers. Ein starkes Stück sachlicher und nirgendwo flacher Prosa.
WALTER HINCK
Martin Prinz: "Der Räuber". Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2003. 135 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf den Spuren einer Legende: Ein Romandebüt von Martin Prinz
Räuber pflegen von der Justiz gerichtet zu werden, nicht von der Literatur. Ja, für eine sublimierte Sensationslust ist der Graus offenbar ein Leseschmaus. Dem ungemein erfolgreichen "romantischen" Räuberroman von Goethes Schwager Christian August Vulpius "Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann" hatte schon Schillers Erstlingsdrama "Die Räuber" den Weg bereitet. Und so sehr gierte das Publikum nach Fortsetzungen, daß Vulpius seinen bereits gestorbenen Rinaldo Rinaldini wiederauferstehen und durch viele Bücher hindurch weiterräubern ließ.
Das "Romantische" der Geschichte steht einer Veredlung der Räubergestalt durch einen Schuß Selbstlosigkeit nicht im Weg, weder bei Schiller noch bei Vulpius. Das Motiv der Gerechtigkeit, der "Umverteilung" der Güter, wird schon dem mittelalterlichen Räuberhauptmann Englands, Robin Hood, zugeschrieben, aber auch dem Schinderhannes (Johann Bückler), dem rheinischen Volkshelden aus napoleonischer Zeit - dem Hingerichteten verhalf im zwanzigsten Jahrhundert Carl Zuckmayer mit seinem Schauspiel "Schinderhannes" (1927) zum Weiterleben auf der Bühne. Prompt antwortete Brecht im Jahr darauf in der "Dreigroschenoper" mit seinem Banditen Mackie Messer. In Hollywoods Kino rauchen die Pulverdämpfe der Räuberpistolen von Jesse James oder Bonnie und Clyde.
Der Debütroman des Österreichers Martin Prinz "Der Räuber" unterscheidet sich von allen diesen Räubermoritaten dadurch, daß der Autor das Vorbild des Titelhelden selbst kannte: jenen Bankräuber, der als "Pumpgun-Ronnie" (er trug bei seinen Überfällen meistens eine Reagan-Maske) Ende der achtziger Jahre die Journalisten in Atem hielt und die Bevölkerung in der Umgebung Wiens nicht zur Ruhe kommen ließ. Prinz schickt diesem "Pumpgun-Ronnie", der immerhin aus einem zweifelhaften Anlaß einen Mord begeht, keine Flüche nach. Solche Haltung rechtfertigt schon Schiller in der Einleitung zu seiner Erzählung "Der Verbrecher aus verlorener Ehre": Nicht moralisch zu urteilen habe der Kriminalberichterstatter, sondern dem Leser durch die Art seiner Darstellung Einblick in die Kausalität krimineller Handlungen zu geben.
"Pumpgun-Ronnie" war ein Bankräuber von unglaublicher Verwegenheit und Frechheit; einmal plünderte er an einem einzigen Tag drei Provinzbanken aus. Er führte, nach einer verbüßten ersten Haftstrafe und nach dem Wiedereinstieg in die kriminelle Laufbahn, die Polizei an der Nase herum. Prinz' Erzählung setzt damit ein, daß er den endlich gefaßten Johann Rettenberger bei einer Vernehmung aus dem Fenster springen und erneut entweichen läßt (November 1988). In ständigem Wechsel der Zeitebenen werden nun die Stationen der Flucht und die früheren Tathergänge vergegenwärtigt. So entsteht das Profil des Täters erst allmählich und schaltet der Fluchtbericht immer wieder Pausen ein. Das löst im Leser eine doppelte Spannung aus: die Erwartung des Gelingens oder Mißlingens der Flucht und die Neugier auf die ganze Person. Die Darstellung der Flucht und der Biographie sind in artistischer Weise assoziativ miteinander verknüpft.
Mit topographischer Genauigkeit wird die Flucht in die imaginäre Landkarte der Umgebung Wiens eingezeichnet. Daß der Erzähler der Fluchtspur des Bankräubers wie auf einer Generalstabskarte folgt, hat seinerseits etwas von ausgefeilter kriminalistischer Technik. Der Erzähler bleibt in Abstand zu der Figur, notiert aber minutiös ihre Wahrnehmungen und ihre Gründe für den Zickzackkurs der Flucht, für die Wahl der Route oder des Unterschlupfs. Daß die Polizei die Spur des Ausgebrochenen verliert, hat mit seinem außergewöhnlichen Laufvermögen zu tun.
Johann Rettenberger ist Marathonläufer, hat sogar beim "schwersten Berglauf Österreichs", dem "Kainacher Bergmarathon", gesiegt. Als Läufer trainiert hat aber auch der junge Autor Martin Prinz. So erklären sich die Spezialkenntnisse, mit denen Atem- und Lauftechnik, durch Höhenunterschiede geforderte Wechsel der Gangart - "schnelles Bergablaufen" rächt sich "in der Ebene" -, Körperreaktionen und Vorstellungsverknüpfungen während des Laufens geschildert werden. Ein paarmal gelingt es Rettenberger auch, mit gestohlenen Wagen zu fliehen. Im übrigen aber ist diese Flucht ein Marathonlauf. Wie sie endet, sei hier nicht verraten.
Der Roman ist in einer schlackenlosen, auf das Reißerische gar nicht angewiesenen Prosa geschrieben. Er bietet Erfahrungskunde der Fortbewegung in einer unendlich vielgliedrigen Landschaft. Der Autor sieht den "Räuber" weder mit den Augen eines Richters noch eines Verteidigers. Ein starkes Stück sachlicher und nirgendwo flacher Prosa.
WALTER HINCK
Martin Prinz: "Der Räuber". Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2003. 135 S., geb., 15,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Von Schillers "Die Räuber" zu Martin Prinz' "Der Räuber" - Walter Hinck lässt noch einmal die schweren Jungs Revue passieren, die von ihren literarischen Porträtisten meist mit romantischer Aura ausgestattet wurden, um schließlich bei "Pumpgun-Ronnie" anzukommen, der in den Achtzigern die Wiener mit seinen überaus verwegenen Banküberfällen in Aufregung versetzte. Martin Prinz hat ihn im Roman verewigt, mit Faszination, aber ohne ihn größer als seine Verbrechen zu machen. Er lässt, beschreibt Hinck, seinen Erzähler dem Flüchtigen "mit topografischer Genauigkeit" folgen und enthüllt nebenbei die Vorgeschichte seines diebischen Helden - ein Verfahren, das souverän doppelte Spannung erzeuge: Was hat es mit ihm auf sich? Und wird die Flucht gelingen? Sie gelang, weiß Hinck, im wirklichen Leben ziemlich oft, denn Johann Rettenberger -so hieß Pumpgun-Ronnie eigentlich - war Marathonläufer, ein ziemlich guter sogar, der seine Verfolger laufend abschüttelte. Der Roman sei deshalb auch eine "Erfahrungskunde der Fortbewegung", vor allem aber "ein starkes Stück sachlicher und nirgendwo flacher Prosa".
© Perlentaucher Medien GmbH
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