Fast alle seiner zahlreichen Bücher hat Iain Sinclair erwandert und dem Boden abgerungen. Dabei hat er zahlreiche Beobachtungen insbesondere von Stadtlandschaften gemacht und deren Veränderung dokumentiert. Zentrum seiner in England längst Klassiker gewordenen psychogeografischen Bücher ist London. Ein Buch aber bildet die Ausnahme: In Der Rand des Orizonts verlässt er die Stadt und macht sich gemeinsam mit seiner Frau auf, eine tief bewegende Wanderung zu unternehmen. Er durchmisst Flucht und Leid des Dichters John Clare, der sich mehr als 150 Jahre vor den beiden auf derselben Strecke von seiner Schwermut und der Sehnsucht nach seiner drei Jahre zuvor verstorbenen Ehefrau zu heilen versuchte, aus der Nervenheilanstalt ausbrach und in einem Gewaltmarsch in sein Heimatdorf zurückwanderte. Die physische Anstrengung Sinclairs, das Erleben der über die Zeiten veränderten Landschaft, die Lektüre Clares in Gedanken machen diese autobiografisch-biografische Recherche zu einem tief bewegenden Erlebnis.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2017Der ewige Fremdling
Diagnose "poetisches Posieren": John Clares "Reise aus Essex" konfrontiert den Leser mit einem so eigensinnigen wie tragischen Dichterleben.
Sollen wir uns diesen Mann als einen glücklichen Menschen vorstellen? In aller Frühe war er aufgebrochen, zu Fuß, allein, ohne Verpflegung und ohne ordentliche Schuhe, nur mit ein paar Büchern im Gepäck. Er war auf der Flucht. Hinter ihm lag die Anstalt, in die er wegen Irrsinns eingewiesen worden war, vor ihm die Hoffnung, nach vier Jahren endlich wieder in sein Heimatdorf Helpston zu kommen. Mehr noch als nach Frau und Kindern sehnt er sich nach einer Jugendliebe namens Mary; in unzähligen Gedichten hat er sie besungen und verklärt. In der ersten Fluchtnacht träumt er schon wieder von ihr: "mir dünckte ich hörte beim aufwachen jemanden sagen ,Mary' doch niemand war in der nähe". Zum Schlafen hat er sich gewissenhaft mit dem Kopf nach Norden hingelegt, um sich morgens gleich die Richtung für den weiteren Weg zu weisen. Hier verlässt sich jemand ganz auf sich und seine Selbstressourcen.
Vier Tage war John Clare im Juli 1841 unterwegs, lief mehr als hundert Meilen von Essex nach Northamptonshire, ernährte sich von Gras, das er so lange kaute, bis es ihm wie Brot vorkam, mied sämtliche Gesellschaft und gelangte schließlich, hungernd und zerschunden, an sein Ziel. Kaum zu Hause, war das Erste, was er tat, das Journal, das er stets bei sich führte, fortzusetzen und die Eindrücke von seiner Wanderung festzuhalten. So entstand die "Reise aus Essex", ein knapper, skizzenhafter Text, der zusammen mit den anderen autobiographischen Fragmenten, die von Clare überliefert sind, zu den eigentümlichsten und spannendsten Selbstzeugnissen zählt, die man je gelesen hat.
Das Schreiben war für diesen Autor nichts weniger als Existenzvergewisserung, ein Rettungsring, an den er sich mit unglaublicher Kraft und desto fester klammerte, je heftiger das Alltagsleben mit ihm umsprang. Und es gab viele Umschwünge und schicksalhafte Wendungen, die ihm zu schaffen machten. Mit Leidenschaft, fast manischer Besessenheit hat er versucht, sie allesamt in Sprache oder Versen zu fixieren und sich auf diese Art zugleich seine ganz eigene, bessere Welt zu erschreiben. So war für ihn das Dichten immer sowohl Rettungsversuch wie auch der Treibsatz neuen Wahns. Fünf Monate nach seiner Flucht wurde Clare erneut in eine Irrenanstalt eingewiesen; zur Frage nach der Vorgeschichte seiner Geisteskrankheit findet sich in den Akten der vielsagende Vermerk: "andauerndes poetisches Posieren". Offenkundig war der aufnehmende Arzt kein Lyrikfreund.
Zwei Jahrzehnte zuvor war John Clare noch die Sensation der Londoner Literatenszene: ein Bauernjunge ohne nennenswerte Schulbildung, ein Tagelöhner, Gärtner, Viehhirte und Fiedler, der berückende Naturgedichte schrieb, das Landleben in wunderbare Verse fasste und sogar formgerecht Sonette produzieren konnte - ganz der Geschmack der Zeit! Der romantischen Ästhetik, die das Naturgenie erfunden hatte und Dichtung für den Ausfluss volkstümlich-ungelehrter Inspiration hielt, gab dieser junge Mann das beste Lebendbeispiel solcher Kunst: ein edler Wilder aus der mittelenglischen Provinz. 1820 erschien die erste Sammlung seiner Verse im Druck, drei weitere folgten.
Doch diese Zeit des Ruhms - Clare war Mitte zwanzig - ging rasch zu Ende. Das literarische London mit seinen Matadoren und Rankünen, von denen er im Journal mit Verwunderung berichtet, blieb ihm vollständig fremd; dazu verstrickte er sich in Geschäfte, die ihn überforderten: "Wie der arme im fegefeuer gefangne der griechischen mythologie habe ich nunmehr neun jahre lang hofnungen auf diesen berg der verheisungen gerollt welche sich mir zu anfangs in freundlichen andeutungen boten & oftmals wollt es scheinen dass ich den gipfl endlich erreicht bis alle hofnungen doch wieder mitsamt allem anderen zu tale rolten", notiert er in seiner ganz eigenen Schreibweise; "& immer noch bin ich blos ein fremdling in einem fremden land".
Umso inbrünstiger entwirft er seine Vision eines idealen Landlebens, die von Erinnerungen ans verlorene Paradies der Kindheit zehrt. Wie alle großen Romantiker war Clare in erster Linie Selbstverteidiger. Eigentlich entdeckt wurde er im zwanzigsten Jahrhundert, seine überragende Bedeutung für die Literatur der Moderne ist unbestritten. Das kurze Gedicht aus der Anstalt beispielsweise (das den vorliegenden Band beschließt), wo er mehr als zwei Jahrzehnte in Gefangenschaft, wie er es empfand, verbringen musste, bis er 1864 starb, steht den größten dieser Art wie Oscar Wildes "Ballade vom Zuchthaus zu Reading" nicht nach. Knapp zehntausend Manuskriptseiten sind von ihm überliefert, erst zum Teil überhaupt entziffert und veröffentlicht. Jetzt erscheint erstmals eine Auswahl auf Deutsch.
Der Herausgeberin und Übersetzerin Esther Kinsky ist das Kunststück geglückt, uns diesen faszinierenden Sonderling auf eine Weise nahezubringen, die seiner Fremdheit nicht die Würde nimmt, ihn also nicht eilfertig vereinnahmt und doch plastisch vermittelt. Wie alle, die Clares Schriften für den Druck bearbeitet haben, steht sie vor der Grundsatzfrage, ob sie das Rauhe, Regionale oder schlichtweg Idiosynkratische seiner seltsamen Sprachgebung abschleifen oder erhalten und damit ausstellen soll. Hierbei hält sie wunderbar Balance in einer deutschen Kunstsprache, die das Eigentümliche sehr klar markiert, ohne zu exotisieren.
Dazu gibt es als Komplementärband eine weitere Entdeckung: Der britische Kulturschriftsteller Iain Sinclair (Jahrgang 1943, hier ebenfalls erstmals ins Deutsche übersetzt), der vor allem durch seine Erkundungen der Londoner Großstadtwirklichkeit bekannt wurde, begibt sich auf die Spurensuche von John Clare und bietet sich als Fremdenführer in der versunkenen Welt des romantischen Vorgängers an. Die Route von Clares Flucht aus Essex wandert Sinclair erneut ab und hält in seinem Buch die Eindrücke, Beobachtungen, Assoziationen, Lektüren und Gedanken fest, die aus dieser Unternehmung folgen. Was dabei herauskommt, ist eine durchaus einnehmende, aber auch ziemlich wirre Mischung aus Reisebericht, Literatur- und Landeskunde, Geschichtsreflexion sowie allfälliger Zivilisationskritik. Das Grundprinzip ist Abschweifung, und meistens folgt man ihm ganz gern. In den stärksten Passagen mag man sich an W. G. Sebalds Wallfahrt durch Ostengland in "Die Ringe des Saturn" erinnern.
Auf seiner Reise 160 Jahre früher fand John Clare nie das eigentlich ersehnte Ziel. Bei der Ankunft in Helpston sagte man ihm, was er erst nach langem Zögern glauben wollte: dass Mary schon seit Jahren tot war. "so also bin ich nun hier heimatlos in meinem heim & halb zufrieden zu empfinden dass ich an jedem orte glücklich sein könnte". So schließt der Bericht. Seither gilt uns das Glück als seinen Lesern.
TOBIAS DÖRING
John Clare: "Reise aus Essex und andere Selbstzeugnisse".
Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 172 S., geb., 22,- [Euro].
Iain Sinclair: "Der Rand des Orizonts". Auf den Spuren von John Clares ,Reise aus Essex'.
Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 272 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diagnose "poetisches Posieren": John Clares "Reise aus Essex" konfrontiert den Leser mit einem so eigensinnigen wie tragischen Dichterleben.
Sollen wir uns diesen Mann als einen glücklichen Menschen vorstellen? In aller Frühe war er aufgebrochen, zu Fuß, allein, ohne Verpflegung und ohne ordentliche Schuhe, nur mit ein paar Büchern im Gepäck. Er war auf der Flucht. Hinter ihm lag die Anstalt, in die er wegen Irrsinns eingewiesen worden war, vor ihm die Hoffnung, nach vier Jahren endlich wieder in sein Heimatdorf Helpston zu kommen. Mehr noch als nach Frau und Kindern sehnt er sich nach einer Jugendliebe namens Mary; in unzähligen Gedichten hat er sie besungen und verklärt. In der ersten Fluchtnacht träumt er schon wieder von ihr: "mir dünckte ich hörte beim aufwachen jemanden sagen ,Mary' doch niemand war in der nähe". Zum Schlafen hat er sich gewissenhaft mit dem Kopf nach Norden hingelegt, um sich morgens gleich die Richtung für den weiteren Weg zu weisen. Hier verlässt sich jemand ganz auf sich und seine Selbstressourcen.
Vier Tage war John Clare im Juli 1841 unterwegs, lief mehr als hundert Meilen von Essex nach Northamptonshire, ernährte sich von Gras, das er so lange kaute, bis es ihm wie Brot vorkam, mied sämtliche Gesellschaft und gelangte schließlich, hungernd und zerschunden, an sein Ziel. Kaum zu Hause, war das Erste, was er tat, das Journal, das er stets bei sich führte, fortzusetzen und die Eindrücke von seiner Wanderung festzuhalten. So entstand die "Reise aus Essex", ein knapper, skizzenhafter Text, der zusammen mit den anderen autobiographischen Fragmenten, die von Clare überliefert sind, zu den eigentümlichsten und spannendsten Selbstzeugnissen zählt, die man je gelesen hat.
Das Schreiben war für diesen Autor nichts weniger als Existenzvergewisserung, ein Rettungsring, an den er sich mit unglaublicher Kraft und desto fester klammerte, je heftiger das Alltagsleben mit ihm umsprang. Und es gab viele Umschwünge und schicksalhafte Wendungen, die ihm zu schaffen machten. Mit Leidenschaft, fast manischer Besessenheit hat er versucht, sie allesamt in Sprache oder Versen zu fixieren und sich auf diese Art zugleich seine ganz eigene, bessere Welt zu erschreiben. So war für ihn das Dichten immer sowohl Rettungsversuch wie auch der Treibsatz neuen Wahns. Fünf Monate nach seiner Flucht wurde Clare erneut in eine Irrenanstalt eingewiesen; zur Frage nach der Vorgeschichte seiner Geisteskrankheit findet sich in den Akten der vielsagende Vermerk: "andauerndes poetisches Posieren". Offenkundig war der aufnehmende Arzt kein Lyrikfreund.
Zwei Jahrzehnte zuvor war John Clare noch die Sensation der Londoner Literatenszene: ein Bauernjunge ohne nennenswerte Schulbildung, ein Tagelöhner, Gärtner, Viehhirte und Fiedler, der berückende Naturgedichte schrieb, das Landleben in wunderbare Verse fasste und sogar formgerecht Sonette produzieren konnte - ganz der Geschmack der Zeit! Der romantischen Ästhetik, die das Naturgenie erfunden hatte und Dichtung für den Ausfluss volkstümlich-ungelehrter Inspiration hielt, gab dieser junge Mann das beste Lebendbeispiel solcher Kunst: ein edler Wilder aus der mittelenglischen Provinz. 1820 erschien die erste Sammlung seiner Verse im Druck, drei weitere folgten.
Doch diese Zeit des Ruhms - Clare war Mitte zwanzig - ging rasch zu Ende. Das literarische London mit seinen Matadoren und Rankünen, von denen er im Journal mit Verwunderung berichtet, blieb ihm vollständig fremd; dazu verstrickte er sich in Geschäfte, die ihn überforderten: "Wie der arme im fegefeuer gefangne der griechischen mythologie habe ich nunmehr neun jahre lang hofnungen auf diesen berg der verheisungen gerollt welche sich mir zu anfangs in freundlichen andeutungen boten & oftmals wollt es scheinen dass ich den gipfl endlich erreicht bis alle hofnungen doch wieder mitsamt allem anderen zu tale rolten", notiert er in seiner ganz eigenen Schreibweise; "& immer noch bin ich blos ein fremdling in einem fremden land".
Umso inbrünstiger entwirft er seine Vision eines idealen Landlebens, die von Erinnerungen ans verlorene Paradies der Kindheit zehrt. Wie alle großen Romantiker war Clare in erster Linie Selbstverteidiger. Eigentlich entdeckt wurde er im zwanzigsten Jahrhundert, seine überragende Bedeutung für die Literatur der Moderne ist unbestritten. Das kurze Gedicht aus der Anstalt beispielsweise (das den vorliegenden Band beschließt), wo er mehr als zwei Jahrzehnte in Gefangenschaft, wie er es empfand, verbringen musste, bis er 1864 starb, steht den größten dieser Art wie Oscar Wildes "Ballade vom Zuchthaus zu Reading" nicht nach. Knapp zehntausend Manuskriptseiten sind von ihm überliefert, erst zum Teil überhaupt entziffert und veröffentlicht. Jetzt erscheint erstmals eine Auswahl auf Deutsch.
Der Herausgeberin und Übersetzerin Esther Kinsky ist das Kunststück geglückt, uns diesen faszinierenden Sonderling auf eine Weise nahezubringen, die seiner Fremdheit nicht die Würde nimmt, ihn also nicht eilfertig vereinnahmt und doch plastisch vermittelt. Wie alle, die Clares Schriften für den Druck bearbeitet haben, steht sie vor der Grundsatzfrage, ob sie das Rauhe, Regionale oder schlichtweg Idiosynkratische seiner seltsamen Sprachgebung abschleifen oder erhalten und damit ausstellen soll. Hierbei hält sie wunderbar Balance in einer deutschen Kunstsprache, die das Eigentümliche sehr klar markiert, ohne zu exotisieren.
Dazu gibt es als Komplementärband eine weitere Entdeckung: Der britische Kulturschriftsteller Iain Sinclair (Jahrgang 1943, hier ebenfalls erstmals ins Deutsche übersetzt), der vor allem durch seine Erkundungen der Londoner Großstadtwirklichkeit bekannt wurde, begibt sich auf die Spurensuche von John Clare und bietet sich als Fremdenführer in der versunkenen Welt des romantischen Vorgängers an. Die Route von Clares Flucht aus Essex wandert Sinclair erneut ab und hält in seinem Buch die Eindrücke, Beobachtungen, Assoziationen, Lektüren und Gedanken fest, die aus dieser Unternehmung folgen. Was dabei herauskommt, ist eine durchaus einnehmende, aber auch ziemlich wirre Mischung aus Reisebericht, Literatur- und Landeskunde, Geschichtsreflexion sowie allfälliger Zivilisationskritik. Das Grundprinzip ist Abschweifung, und meistens folgt man ihm ganz gern. In den stärksten Passagen mag man sich an W. G. Sebalds Wallfahrt durch Ostengland in "Die Ringe des Saturn" erinnern.
Auf seiner Reise 160 Jahre früher fand John Clare nie das eigentlich ersehnte Ziel. Bei der Ankunft in Helpston sagte man ihm, was er erst nach langem Zögern glauben wollte: dass Mary schon seit Jahren tot war. "so also bin ich nun hier heimatlos in meinem heim & halb zufrieden zu empfinden dass ich an jedem orte glücklich sein könnte". So schließt der Bericht. Seither gilt uns das Glück als seinen Lesern.
TOBIAS DÖRING
John Clare: "Reise aus Essex und andere Selbstzeugnisse".
Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 172 S., geb., 22,- [Euro].
Iain Sinclair: "Der Rand des Orizonts". Auf den Spuren von John Clares ,Reise aus Essex'.
Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 272 S., geb., 26,- [Euro].
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