Diese transepochale Zusammenschau von Homer bis in die römische Kaiserzeit unternimmt den Versuch, die griechische Politik mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Genialität und Selbstzerstörung vor allem aus der griechischen Vorstellungswelt heraus zu begreifen, aus ihrem geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Vorstellung der Griechen von der Verbindung zwischen den einzelnen Staatsformen und den Lebensidealen der Bürger - ein Thema, das heute aktueller ist als je zuvor. Dabei erscheint u. a. das Wesen der athenischen Demokratie in neuem Licht.Rainer Bernhardt zeichnet eine Geschichte der griechischen Mentalität und ihres Verhältnisses zur praktischen Politik, eine Geschichte der ethischen Werte, der Moral, des Lebensgefühls und der Lebensformen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2024Es rollt der Stein
Rainer Bernhardt auf der Spur der Griechen
Historische Bildung besteht für Rainer Bernhardt aus drei Elementen: einem soliden Fundament an Fakten, Kenntnis von aussagekräftigen Quellentexten sowie Einsicht in zentrale Strukturen, Ideen und Mentalitäten. Ersteres macht es in der Tat schwerer, sich die Dinge nach Wunsch zurechtzumachen; die authentischen Stimmen gestehen den historischen Akteuren ihre Eigenart und Würde zu - sonst wären sie nur Pappkameraden für präsentistisches Verurteilen. Die übergreifenden, teils anthropologischen Beobachtungen schließlich oszillieren zwischen der Einzigartigkeit des Vergangenen und der Kraft von Geschichte für die Orientierung der Gegenwart.
Diese drei Elemente zu vermitteln ist bei einem Gegenstand wie den antiken Griechen nicht einfach. Überdies ist der Rostocker Emeritus für Alte Geschichte sein Vorhaben ziemlich altmodisch angegangen. Das Streben nach dem Idealen und Ultimativen sei ein wesentliches Merkmal der griechischen Kultur gewesen. In dieser Tradition fungieren Wertkonzepte und Maximen wie Ruhm, "tryphé" (Übermaß, Luxus), "pleonexía" (Streben nach mehr Reichtum oder Macht) und die entgegengesetzte Mäßigung als das Handeln maßgeblich bestimmende Kräfte.
Das Buch ist so dick ausgefallen, da es im Sinne der genannten Elemente eigentlich drei Bücher vereint: eine detaillierte, eher trockene Darstellung, eine Sammlung eingestreuter antiker Textpassagen sowie den Versuch, "den Griechen" nach dem freilich unerreichbaren Vorbild Jacob Burckhardts phänomenologisch auf die Spur zu kommen, wie ihn in jüngerer Zeit Edith Hall überzeugend unternommen hat (F.A.Z. vom 13. 4. 2017). Bernhardt stellt dabei seine eigenen früheren Forschungsfelder in den Vordergrund: antike Aufwandsbeschränkungen und Luxuskritik sowie das konfliktreiche Hineinwachsen der griechischen Welt in die römische Herrschaft.
Bereits in den homerischen Epen erkennt der Autor eine Disposition der Griechen zur Utopie. Während zumal in der "Ilias" das "urmenschliche Problem der destruktiven individuellen Emotionalität" den Kern bildet, manifestierte sich in der Dichtung Hesiods ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit - beide unvermindert aktuell. Im Sisyphos des Buchtitels erkennt Bernhardt ein Gleichnis für das ebenso stete wie vergebliche Bemühen um innere und äußere Stabilität, den Wechsel von Scheitern und Neubeginn, in der nie versiegenden Hoffnung, beim nächsten Anlauf den Stein stabil oben zu halten. So kreuzten einander in der späten Archaik eine oft destruktive aristokratische "Spaßkultur" und Bemühungen, die Lizenzen der hohen Herren einzuhegen. Ehrgeiziger waren staatstheoretische Entwürfe, die allen Bürgern durch eine mehr oder minder rigide Ordnung "eine immerwährende Eudaimonie garantieren" sollten. Doch dies blieben Gedankengebäude, und spätere Philosophen wie Epikur sahen jenen glückseligen Zustand allenfalls im einzelnen Menschen und jenseits der Politik als erreichbar an.
Nützlich sind die kompakten Zusammenfassungen literarischer Werke und philosophischer Lehren. Öfter stechen aus dem Wust des ausgebreiteten Bildungsguts treffende Beobachtungen heraus. So findet sich in der griechischen Kriegsdichtung in der Tat kaum je Hass auf den Feind, dafür viel Verachtung für den Besiegten. Die im Buch aufgegriffene Rede vom griechischen Pessimismus haben Nietzsche und Burckhardt keineswegs erfunden; aus Befindlichkeiten unserer eigenen Zeit dürfte die Ansicht erwachsen sein, der griechischen Mentalität sei von Grund auf ein Gefühl der Unsicherheit eigen gewesen. Als tragisch kennzeichnet Bernhardt die Dialektik zwischen der Kreativität der Griechen und ihrer Unfähigkeit, eine stabile politische Sphäre hervorzubringen. So hätten sie sich in den Jahrzehnten nach dem Peloponnesischen Krieg "selbst zerlegt", und selbst der Blick auf die Leistung eines Timoleon, der die notorisch labilen Verhältnisse in Syrakus zu stabilisieren vermochte, ist kritisch: Die geschaffene Ordnung hielt gerade einmal zwanzig Jahre, dann "rollte der Stein des Sisyphos wieder bergab".
Welcher Gattung ist das Buch zuzuordnen, an wen richtet es sich? Sein Inhalt lässt an ein Kompendium der Ereignis- und Kulturgeschichte denken, dem leider Personen- und Ortsregister, ein Glossar sowie eine Feingliederung fehlen. Ohne Notiz von gewandelten Ansprüchen und Lesegewohnheiten zu nehmen, präsentiert es die historische Bildung, die sich der Autor in Jahrzehnten erarbeitet hat und nun weitergeben möchte. Das verdient Respekt. UWE WALTER
Rainer Bernhardt: "Der rastlose Sisyphos". Mentalität, Lebensideale und Politik bei den Griechen der Antike.
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2023. 709 S., Abb., br., 52,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rainer Bernhardt auf der Spur der Griechen
Historische Bildung besteht für Rainer Bernhardt aus drei Elementen: einem soliden Fundament an Fakten, Kenntnis von aussagekräftigen Quellentexten sowie Einsicht in zentrale Strukturen, Ideen und Mentalitäten. Ersteres macht es in der Tat schwerer, sich die Dinge nach Wunsch zurechtzumachen; die authentischen Stimmen gestehen den historischen Akteuren ihre Eigenart und Würde zu - sonst wären sie nur Pappkameraden für präsentistisches Verurteilen. Die übergreifenden, teils anthropologischen Beobachtungen schließlich oszillieren zwischen der Einzigartigkeit des Vergangenen und der Kraft von Geschichte für die Orientierung der Gegenwart.
Diese drei Elemente zu vermitteln ist bei einem Gegenstand wie den antiken Griechen nicht einfach. Überdies ist der Rostocker Emeritus für Alte Geschichte sein Vorhaben ziemlich altmodisch angegangen. Das Streben nach dem Idealen und Ultimativen sei ein wesentliches Merkmal der griechischen Kultur gewesen. In dieser Tradition fungieren Wertkonzepte und Maximen wie Ruhm, "tryphé" (Übermaß, Luxus), "pleonexía" (Streben nach mehr Reichtum oder Macht) und die entgegengesetzte Mäßigung als das Handeln maßgeblich bestimmende Kräfte.
Das Buch ist so dick ausgefallen, da es im Sinne der genannten Elemente eigentlich drei Bücher vereint: eine detaillierte, eher trockene Darstellung, eine Sammlung eingestreuter antiker Textpassagen sowie den Versuch, "den Griechen" nach dem freilich unerreichbaren Vorbild Jacob Burckhardts phänomenologisch auf die Spur zu kommen, wie ihn in jüngerer Zeit Edith Hall überzeugend unternommen hat (F.A.Z. vom 13. 4. 2017). Bernhardt stellt dabei seine eigenen früheren Forschungsfelder in den Vordergrund: antike Aufwandsbeschränkungen und Luxuskritik sowie das konfliktreiche Hineinwachsen der griechischen Welt in die römische Herrschaft.
Bereits in den homerischen Epen erkennt der Autor eine Disposition der Griechen zur Utopie. Während zumal in der "Ilias" das "urmenschliche Problem der destruktiven individuellen Emotionalität" den Kern bildet, manifestierte sich in der Dichtung Hesiods ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit - beide unvermindert aktuell. Im Sisyphos des Buchtitels erkennt Bernhardt ein Gleichnis für das ebenso stete wie vergebliche Bemühen um innere und äußere Stabilität, den Wechsel von Scheitern und Neubeginn, in der nie versiegenden Hoffnung, beim nächsten Anlauf den Stein stabil oben zu halten. So kreuzten einander in der späten Archaik eine oft destruktive aristokratische "Spaßkultur" und Bemühungen, die Lizenzen der hohen Herren einzuhegen. Ehrgeiziger waren staatstheoretische Entwürfe, die allen Bürgern durch eine mehr oder minder rigide Ordnung "eine immerwährende Eudaimonie garantieren" sollten. Doch dies blieben Gedankengebäude, und spätere Philosophen wie Epikur sahen jenen glückseligen Zustand allenfalls im einzelnen Menschen und jenseits der Politik als erreichbar an.
Nützlich sind die kompakten Zusammenfassungen literarischer Werke und philosophischer Lehren. Öfter stechen aus dem Wust des ausgebreiteten Bildungsguts treffende Beobachtungen heraus. So findet sich in der griechischen Kriegsdichtung in der Tat kaum je Hass auf den Feind, dafür viel Verachtung für den Besiegten. Die im Buch aufgegriffene Rede vom griechischen Pessimismus haben Nietzsche und Burckhardt keineswegs erfunden; aus Befindlichkeiten unserer eigenen Zeit dürfte die Ansicht erwachsen sein, der griechischen Mentalität sei von Grund auf ein Gefühl der Unsicherheit eigen gewesen. Als tragisch kennzeichnet Bernhardt die Dialektik zwischen der Kreativität der Griechen und ihrer Unfähigkeit, eine stabile politische Sphäre hervorzubringen. So hätten sie sich in den Jahrzehnten nach dem Peloponnesischen Krieg "selbst zerlegt", und selbst der Blick auf die Leistung eines Timoleon, der die notorisch labilen Verhältnisse in Syrakus zu stabilisieren vermochte, ist kritisch: Die geschaffene Ordnung hielt gerade einmal zwanzig Jahre, dann "rollte der Stein des Sisyphos wieder bergab".
Welcher Gattung ist das Buch zuzuordnen, an wen richtet es sich? Sein Inhalt lässt an ein Kompendium der Ereignis- und Kulturgeschichte denken, dem leider Personen- und Ortsregister, ein Glossar sowie eine Feingliederung fehlen. Ohne Notiz von gewandelten Ansprüchen und Lesegewohnheiten zu nehmen, präsentiert es die historische Bildung, die sich der Autor in Jahrzehnten erarbeitet hat und nun weitergeben möchte. Das verdient Respekt. UWE WALTER
Rainer Bernhardt: "Der rastlose Sisyphos". Mentalität, Lebensideale und Politik bei den Griechen der Antike.
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2023. 709 S., Abb., br., 52,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main