Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Das Toben der Heiden
Rilkes Jugenderzählungen / Von Christoph König
Rilke hat seine Jugendarbeiten nie verleugnet, "aber es scheint mir", schreibt er im Jahre 1907 an Stefan Zweig, "als ob ich so sehr Eines und immer wieder diese Eine zu sagen hätte, daß sie später einfach ersetzt worden sind durch den besseren und erwachseneren Ausdruck und überhaupt nur etwas wie überlebende Provisorien darstellen, dem Definitiven gegenüber". Die Grenze dessen, was er gelten ließ, hat er später immer weiter nach vorn verlegt. Die jetzt zum ersten Mal veröffentlichte Erzählung "Der Rath Horn" gehört zu den zwanzig Prosaskizzen, die der Gymnasiast Rene Rilke zwischen 1891 und 1896 schrieb; zu der geplanten Sammlung "Was toben die Heiden?" kam es nicht.
Rath Horn ist ein alter Dichter, dem im Moment des Todes das große, verloren geglaubte Jugendwerk noch einmal ins Bewußtsein tritt. Aufschreiben kann er es nicht mehr. Nur nachlässig verbirgt Rilke, daß er an den jungen "Rath" Goethe denkt. Seine Erzählung ist leichte Kost, und ihre Machart, Geschichten ineinanderzuschachteln und auf diesem Weg weit zurück in die Vergangenheit zu gelangen, rasch erkannt. Die Frage indes, der sie sich stellt, hat es in sich: Was kann und was möchte der Dichter von alten Dichtungen wissen? Die Erzähltechnik sagt, was zu wissen wäre.
Paul, der erste Erzähler, ist sechzehn Jahre alt, wie Rilke im Jahr 1891; er sitzt gern beim Großonkel, der "wunderlich" zu erzählen weiß. Paul hört am liebsten die Geschichte von Kaspar Horn, den der Großonkel kannte, als er selbst sechzehn war und Horn zwei Generationen älter als er. Horn erzählt dem Bub von sich als jungem Mann. Promoviert und in guter Stellung, findet er als Dichter Anerkennung. Der frühe Tod seiner Frau öffnet den Abgrund und treibt ihn beinahe in den Wahnsinn. Einsam im Gebirge findet er nach der Katastrophe Ruhe und beschließt, seiner Toten zu Ehre ein monumentales Werk zu schreiben. Der Dichter als Bürger ist Titan, Heros, Prophet, ja Christus geworden: "Ich hab's vollbracht", heißt es nach sieben Jahren. Die Ruhe, die nun folgt, ist kurz - nach einem zufriedenen Spaziergang kehrt er zurück und sieht die Hütte samt dem Werk in Flammen aufgehen. Die jahrelangen Versuche, das Werk zu rekonstruieren, scheitern. Rilke folgt der modernen Psychologie: der Schock hat die Erinnerung gelöscht.
Paul wird nun Zeuge einer dritten, letzten Form des Dichtens: im Sterben richtet Horn sich auf, "Ich weiß es", jubelt er, stürzt zum Schreibtisch, ergreift die Feder, setzt an - und ist tot. Nur ein angerissener Buchstabe repräsentiert den Gehalt der Geschichte im Nu. Diese Augenblicksmystik übersteigt das herkömmliche Erzählen. Rilke verfügt über wenig mehr, aber er weiß es. Später versucht er, der Namenslosigkeit der Traditionen, die er vorerst nur schildern kann, eine poetische Realität zu geben.
Man betrachte die Möbel in der Erzählung. Wenn Paul in des Großonkels "hohen, wohlgescheuerten Stube" sitzt, "wo die steifbeinigen Rundstühle so gemütlich um den großen glattgebohnerten Tisch standen und mächtige Bücherreihen so ernst von den Wänden niederschauten" und dessen Geschichten zuhört, dann sind die Stühle, der Tisch und die Bücher nur blindes, bürgerliches Inventar. Sie müssen nichts von früher erinnern, aus den Zeiten, von denen der Großonkel erzählt. Schleicht sich indes Skepsis ein und mißtrauen die Autoren dem Erzählen, so halten sie sich an die "Dinge" selbst und suchen deren Wissen hervorzuholen. So Rilke 1903 in dem Prosastück "Die Letzten": "Aber die Dämmerung begreift alles. Sie weiß, daß das Vergangenheit ist, was da in Stühlen und Schränken und Bildern sich erhält."
Rilkes ästhetischen Ernst erkennt man daran, daß er angesichts seiner dürftigen Mittel verbirgt, was ihm wichtig ist: den jungen Goethe. Das ist der Sinn der Erzählung. Das macht die Zeitsprünge von Paul zum Großonkel und dann zum jungen Horn bedeutungsvoll. Rilke beginnt in seiner eigenen Gegenwart und führt - über zwei Generationen - zum Goethe von 1831/32, dessen Frühwerk zwei weitere Generationen zurück liegt. Im "Malte Laurids Brigge" wirft er Goethe die Herzlosigkeit gegenüber Bettina von Brentano vor - viel früher schon, daß Goethe dem Tasso den Antonio beigegeben hat. 1896 reimt er für die Baronesse Laska von Oesteren: "Und wie ein Tasso geh' ich fort und träume, / Was in Velaslavin mir doppelt frommt, / Weil, mich zu tadeln, kein Antonio kommt, / Wenn ich vor lauter Jubel überschäume."
Das in der Erzählung verbrannte Manuskript enthält ein Werk des entgrenzenden Goethe. Den "Werther" etwa, den Rilke 1892 in Prag liest, oder die frühe Hymne "Der Wanderer", der er 1897 eine begeisterte Besprechung widmet. Rilke widerspricht Goethes Ästhetik der Selbstkontrolle. Der beruhigte Dichter weiß nichts von seiner Dichtung: Rilke bewahrt den "Werther" vor Goethes Sprache, von der seine Erzählung zehrt.
Rainer Maria Rilke: "Der Rath Horn". "Was toben die Heiden?" Zwei Erzählungen aus dem Nachlaß. Mit einem Nachwort von Moira Paleari. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2000. 64 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rilkes Jugenderzählungen / Von Christoph König
Rilke hat seine Jugendarbeiten nie verleugnet, "aber es scheint mir", schreibt er im Jahre 1907 an Stefan Zweig, "als ob ich so sehr Eines und immer wieder diese Eine zu sagen hätte, daß sie später einfach ersetzt worden sind durch den besseren und erwachseneren Ausdruck und überhaupt nur etwas wie überlebende Provisorien darstellen, dem Definitiven gegenüber". Die Grenze dessen, was er gelten ließ, hat er später immer weiter nach vorn verlegt. Die jetzt zum ersten Mal veröffentlichte Erzählung "Der Rath Horn" gehört zu den zwanzig Prosaskizzen, die der Gymnasiast Rene Rilke zwischen 1891 und 1896 schrieb; zu der geplanten Sammlung "Was toben die Heiden?" kam es nicht.
Rath Horn ist ein alter Dichter, dem im Moment des Todes das große, verloren geglaubte Jugendwerk noch einmal ins Bewußtsein tritt. Aufschreiben kann er es nicht mehr. Nur nachlässig verbirgt Rilke, daß er an den jungen "Rath" Goethe denkt. Seine Erzählung ist leichte Kost, und ihre Machart, Geschichten ineinanderzuschachteln und auf diesem Weg weit zurück in die Vergangenheit zu gelangen, rasch erkannt. Die Frage indes, der sie sich stellt, hat es in sich: Was kann und was möchte der Dichter von alten Dichtungen wissen? Die Erzähltechnik sagt, was zu wissen wäre.
Paul, der erste Erzähler, ist sechzehn Jahre alt, wie Rilke im Jahr 1891; er sitzt gern beim Großonkel, der "wunderlich" zu erzählen weiß. Paul hört am liebsten die Geschichte von Kaspar Horn, den der Großonkel kannte, als er selbst sechzehn war und Horn zwei Generationen älter als er. Horn erzählt dem Bub von sich als jungem Mann. Promoviert und in guter Stellung, findet er als Dichter Anerkennung. Der frühe Tod seiner Frau öffnet den Abgrund und treibt ihn beinahe in den Wahnsinn. Einsam im Gebirge findet er nach der Katastrophe Ruhe und beschließt, seiner Toten zu Ehre ein monumentales Werk zu schreiben. Der Dichter als Bürger ist Titan, Heros, Prophet, ja Christus geworden: "Ich hab's vollbracht", heißt es nach sieben Jahren. Die Ruhe, die nun folgt, ist kurz - nach einem zufriedenen Spaziergang kehrt er zurück und sieht die Hütte samt dem Werk in Flammen aufgehen. Die jahrelangen Versuche, das Werk zu rekonstruieren, scheitern. Rilke folgt der modernen Psychologie: der Schock hat die Erinnerung gelöscht.
Paul wird nun Zeuge einer dritten, letzten Form des Dichtens: im Sterben richtet Horn sich auf, "Ich weiß es", jubelt er, stürzt zum Schreibtisch, ergreift die Feder, setzt an - und ist tot. Nur ein angerissener Buchstabe repräsentiert den Gehalt der Geschichte im Nu. Diese Augenblicksmystik übersteigt das herkömmliche Erzählen. Rilke verfügt über wenig mehr, aber er weiß es. Später versucht er, der Namenslosigkeit der Traditionen, die er vorerst nur schildern kann, eine poetische Realität zu geben.
Man betrachte die Möbel in der Erzählung. Wenn Paul in des Großonkels "hohen, wohlgescheuerten Stube" sitzt, "wo die steifbeinigen Rundstühle so gemütlich um den großen glattgebohnerten Tisch standen und mächtige Bücherreihen so ernst von den Wänden niederschauten" und dessen Geschichten zuhört, dann sind die Stühle, der Tisch und die Bücher nur blindes, bürgerliches Inventar. Sie müssen nichts von früher erinnern, aus den Zeiten, von denen der Großonkel erzählt. Schleicht sich indes Skepsis ein und mißtrauen die Autoren dem Erzählen, so halten sie sich an die "Dinge" selbst und suchen deren Wissen hervorzuholen. So Rilke 1903 in dem Prosastück "Die Letzten": "Aber die Dämmerung begreift alles. Sie weiß, daß das Vergangenheit ist, was da in Stühlen und Schränken und Bildern sich erhält."
Rilkes ästhetischen Ernst erkennt man daran, daß er angesichts seiner dürftigen Mittel verbirgt, was ihm wichtig ist: den jungen Goethe. Das ist der Sinn der Erzählung. Das macht die Zeitsprünge von Paul zum Großonkel und dann zum jungen Horn bedeutungsvoll. Rilke beginnt in seiner eigenen Gegenwart und führt - über zwei Generationen - zum Goethe von 1831/32, dessen Frühwerk zwei weitere Generationen zurück liegt. Im "Malte Laurids Brigge" wirft er Goethe die Herzlosigkeit gegenüber Bettina von Brentano vor - viel früher schon, daß Goethe dem Tasso den Antonio beigegeben hat. 1896 reimt er für die Baronesse Laska von Oesteren: "Und wie ein Tasso geh' ich fort und träume, / Was in Velaslavin mir doppelt frommt, / Weil, mich zu tadeln, kein Antonio kommt, / Wenn ich vor lauter Jubel überschäume."
Das in der Erzählung verbrannte Manuskript enthält ein Werk des entgrenzenden Goethe. Den "Werther" etwa, den Rilke 1892 in Prag liest, oder die frühe Hymne "Der Wanderer", der er 1897 eine begeisterte Besprechung widmet. Rilke widerspricht Goethes Ästhetik der Selbstkontrolle. Der beruhigte Dichter weiß nichts von seiner Dichtung: Rilke bewahrt den "Werther" vor Goethes Sprache, von der seine Erzählung zehrt.
Rainer Maria Rilke: "Der Rath Horn". "Was toben die Heiden?" Zwei Erzählungen aus dem Nachlaß. Mit einem Nachwort von Moira Paleari. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2000. 64 S., geb., 36,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die beiden hier zum ersten Mal veröffentlichten Erzählungen des jungen Rilke, lesen wir in Christoph Königs Rezension, gehören zu einer Sammlung von zwanzig Prosaskizzen, die der zwanzigjährige Gymnasiast Rilke verfasste hat, als er noch René mit Vornamen hieß. Zur Veröffentlichung sei es nie gekommen, da Rilke die Grenze dessen, was er gelten ließ, später immer weiter nach vorne verlegt habe. Auch König setzt den Wert der Erzählungen nicht allzu hoch an: es sei leichte Kost, ihre Machart rasch erkannt. Das Urteil bezieht sich aber eigentlich nur auf "Rath Horn", hinter dem sich, laut König, der junge Goethe verbirgt. Beziehungsweise das Bild des jungen Rilke vom jungen Autor des Werther. Über die zweite Erzählung erfährt man vom Kritiker nämlich gar nichts, dessen Besprechung insgesamt raunend und ziemlich unkonkret bleibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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