Paris, 2. Dezember 1851: Louis Napoleon, Neffe des großen Napoleon Bonaparte, putscht sich an die Macht. Mit ihm wird Frankreich zum Zentrum der Welt. Es ist die Zeit der Gegensätze: Dekadenz und Reichtum auf der einen Seite, Unterdrückung und unmenschliche Arbeitsverhältnisse auf der anderen. Inmitten dieser turbulenten Zeiten kämpfen die Brüder Goncourt mit der Zensur, Victor Hugo muss das Land verlassen, Flaubert treibt sich im Bordell herum und Baudelaire raucht Haschisch. George Sand macht sich Sorgen um das Klima. Neben wegweisender Kunst und Literatur der Moderne entstehen im Zweiten Kaiserreich auch ein gigantisches Eisenbahnnetz, Frachthäfen, Fabriken und Bergwerke, Boulevardpresse und Spekulationsblasen. Haussmann walzt das verwinkelte Paris nieder und durchzieht die Stadt mit großen Boulevards. Der Krimkrieg ist der erste nach modernen Maßstäben geführte Krieg, der Suezkanal verändert den Welthandel nachhaltig. Kurz: Alles ändert sich rasend schnell. Bis Napoleon III. sich 1870 von der »Emser Depesche« provozieren lässt ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2020No-go-Areas rund um den Louvre
Große Zeiten, kleine Herrscher: Die Romanistin Walburga Hülk entfaltet ein Panorama des modernen Paris im Seconde Empire
Dass das Bouquet der künstlerischen Moderne weitgehend im Paris der vorletzten Jahrhundertmitte gesteckt wurde, ist bekannt. Zur Verwandlung der verwinkelten Gassen und abgelebten Faubourgs durch den Präfekten Haussmann in elegante Boulevards, zu dem bei Baudelaire erstmals zur Sprache gekommenen Großstadtspleen, der raumzersetzenden Farbkräuselung in den Landschaften Monets und Renoirs, der aufkommenden Faszination zwischen Bourgeois und Bohème oder der Leuchtspur des geistreichen Wortwechsels zwischen Theaterloge, Brasserie und Bordell ist das meiste gesagt. Man kann das Spektrum des Neuen aber immer wieder neu sortieren und aus anderen Blickwinkeln betrachten. Das passiert auf reizvolle Weise in Walburga Hülks Buch „Der Rausch der Jahre“. Die Autorin hatte die gute Idee, ihr unüberschaubares Material mit den Eckdaten eines Regimes zu umgrenzen. Die 18 Jahre, die als Second Empire in die Geschichte eingingen, werden nacheinander in kultur- und geistesgeschichtlichen Tiefenbohrungen sondiert
Als am 2. Dezember 1851 Napoléons Neffe Louis Bonaparte mit einem Staatsstreich die Zweite Französische Republik aus den Angeln hob, reagierten die Literaten und Künstler sehr unterschiedlich. Die Brüder Edmond und Jules de Goncourt imaginierten an jenem Tag mit ihrem ersten Eintrag ins berühmte, gemeinsam geführte Tagebuch ein Jüngstes Gericht, bei dem sie vor Gottvater kleinmütig bekennen müssen, Zeitzeugen jenes schäbigen Staatsstreichs gewesen zu sein. Gustave Flaubert hingegen quälte sich damals mit „Madame Bovary“. In seinem späteren Roman „Lehrjahre des Gefühls“ blendete er durch eine lange Reise seines Helden das Zweite Kaiserreich einfach aus.
George Sand wiederum machte sich noch eifriger ans Briefeschreiben und beschwor den neuen Herrscher, gegenüber ihren rebellischen Angehörigen und Freunden Nachsicht walten zu lassen. Victor Hugo schließlich begab sich auf den Weg in ein langes Exil und verfasste auf der ersten Station Brüssel sein Pamphlet „Napoleon der Kleine“. Diesen und anderen Künstlerreaktionen folgt die Romanistin Walburga Hülk durch die Jahre, um aus den Fakten Funken der Zeitstimmung zu schlagen.
Gegenüber dem, was sich unter seinem Regime abspielte, wirkte die Figur Napoléons III. trotz des aufgebauschten Herrschaftsornats schon für Zeitgenossen seltsam hausbacken, visionslos, eben klein. Die Autorin ist klug genug, dieses Erscheinungsbild nicht durch ein umständlich aus den Quellen geschöpftes Gegenbild ersetzen zu wollen. Sie begnügt sich – recht überzeugend – damit, Louis Napoléon als einen Meister zumindest der Machtinszenierung und als begabten Nutzer der aufkommenden Massenmedien zu präsentieren. Im Fluchtpunkt der Überlagerung dieses Herrschers, seines Regimes und seiner Epoche zeigt sich so das Paradox einer seltsamen Fusion, in welcher Fortschrittstaumel und Retro-Chic einander umspielen. Unter einem Zeremonienmeister aus der Vergangenheit gingen die Herolde des ganz Neuen in Position.
Bei der ersten Weltausstellung, die Paris 1855 ausrichtete, wollte man im Wettlauf gegen die vier Jahre zuvor in London veranstaltete Great Exhibition nicht einfach noch gewaltigere Dampfmaschinen, Turbinen und Zahnradmonster auffahren. Paris verlagerte den Akzent bei der Schau mehr auf die Mode, das Savoir-vivre und die schönen Künste. Persönlichkeiten wie Ingres und Delacroix waren neben dem Hofmaler Franz Xaver Winterhalter mit zahlreichen Bildern präsent. Der abgewiesene Gustave Courbet veranstaltete im „Pavillon des Realismus“ trotzig eine Gegenausstellung. Die Kunstkritik mutierte von der Liebhaberei zum Metier, bei dem es auch um Stiltendenzen und Marktgesetze ging. Baudelaire widmete der Exposition Universelle 1855 drei bedeutende Artikel und führte das Genre der Kunstkritik auf einen Höhepunkt.
Die Umgestaltung von Paris durch 150 Architekten und 60 000 Bauarbeiter zur Modellstadt des 19. Jahrhunderts ragt im Bildpanorama dieses Buchs verständlicherweise besonders heraus. Baudelaire trauerte in seinem Gedicht „Der Schwan“ dem „vieux Paris“ nach, Georges Sand jubelte über die breiten Trottoirs, auf denen man ungestört mit den Händen in der Tasche flanieren könne. Neu war in jenen Jahren aber auch die gestärkte politische Position Frankreichs nach dem Krimkrieg, das ambivalente Spiel mit den italienischen Befreiungsbewegungen, das von Algerien aus wachsende Kolonialreich oder das hinter dem Glanz der Lichterstadt Paris sich zusammenbrauende Sozialelend quer durchs Land. Etwas breitere Erwähnung hätte das im Schatten des spektakulär Neuen sich entwickelnde Bildungswesen oder das Entstehen einer öffentlichen Meinung durch die Massenmedien verdient.
Im Auffächern der tausend Facetten und Anekdoten beweist die Autorin ihr ganzes Talent. Nach langen Forschungen konnte sie offensichtlich aus dem Vollen schöpfen. So erfährt man im Detail, wie die schiffsförmige Prachtwiege geschmückt war, in welcher der kaiserliche Sprössling Loulou 1856 im Thronsaal des Pariser Rathauses den 25 000 Besuchern präsentiert wurde. Man begreift, dass die Landschaftsmalerei im Freien erst durch die massenhafte Herstellung von Farbtuben aus Blei durch das englische Unternehmen Winston & Winston möglich wurde, vernimmt vom Ursprung des blau-weiß geringelten Matrosen-Shirts, wird daran erinnert, dass das vor vier Jahren durch den Terroranschlag weltberühmt gewordene Pariser Variété-Theater Bataclan seinen Namen der gleichnamigen Operette von Jacques Offenbach verdankt.
Zwischen den entlegensten Einzelheiten konstruiert die Autorin verwegene Eselsbrücken, wenn sie etwa von Napoléons Zugeständnis ans Volk, in den französischen Wäldern zum Heizen Totholz sammeln zu dürfen, zur Maria-Erscheinung der nach Brennholz suchenden Bernadette 1858 in Lourdes übergeht und weiter zu der im selben Jahr erstmals fotografierten Himmelserscheinung eines Kometen, benannt nach dem Astronomen Giambattista Donati. Mitunter könnte einem schwindlig werden im Wechselbad zwischen Kuriosität und Gelehrsamkeit. Welchen Zusammenhang gab es denn zwischen dem Massentod der Büffel um 1870 in Amerika und dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs? Europa brauchte Leder für Treibriemen und Armeeschuhe.
Eher als eine kompakte Theorie der Moderne bietet das Buch ein Puzzle. Der Zeitrahmen des Second Empire erweist sich dafür als nützlich, keinesfalls als zwingend, und die Figur Louis Bonapartes steht mehr als Gespenst denn als Akteur hinter jenen Aufbruchsjahren der Moderne. Geschichtsflaneuren bringt die Studie mit ihren manchmal etwas forciert trendigen Ausdrücken – Haussmanns „Gentrifizierung“, die „No-go-Areas“ damals um den Louvre, Edmond und Jules Goncourts Hauszeitung Le Parisien als „Start-up-Unternehmen“ – zahllose Überraschungen. Literaturinteressierten verschafft sie Einblicke in vergessene Briefstellen und verborgene Tagebuchnotizen.
JOSEPH HANIMANN
Diese Ansicht von Paris widmete Edouard Willmann Napoléon III.
Foto: public domain
Walburga Hülk: Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2019.
415 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Große Zeiten, kleine Herrscher: Die Romanistin Walburga Hülk entfaltet ein Panorama des modernen Paris im Seconde Empire
Dass das Bouquet der künstlerischen Moderne weitgehend im Paris der vorletzten Jahrhundertmitte gesteckt wurde, ist bekannt. Zur Verwandlung der verwinkelten Gassen und abgelebten Faubourgs durch den Präfekten Haussmann in elegante Boulevards, zu dem bei Baudelaire erstmals zur Sprache gekommenen Großstadtspleen, der raumzersetzenden Farbkräuselung in den Landschaften Monets und Renoirs, der aufkommenden Faszination zwischen Bourgeois und Bohème oder der Leuchtspur des geistreichen Wortwechsels zwischen Theaterloge, Brasserie und Bordell ist das meiste gesagt. Man kann das Spektrum des Neuen aber immer wieder neu sortieren und aus anderen Blickwinkeln betrachten. Das passiert auf reizvolle Weise in Walburga Hülks Buch „Der Rausch der Jahre“. Die Autorin hatte die gute Idee, ihr unüberschaubares Material mit den Eckdaten eines Regimes zu umgrenzen. Die 18 Jahre, die als Second Empire in die Geschichte eingingen, werden nacheinander in kultur- und geistesgeschichtlichen Tiefenbohrungen sondiert
Als am 2. Dezember 1851 Napoléons Neffe Louis Bonaparte mit einem Staatsstreich die Zweite Französische Republik aus den Angeln hob, reagierten die Literaten und Künstler sehr unterschiedlich. Die Brüder Edmond und Jules de Goncourt imaginierten an jenem Tag mit ihrem ersten Eintrag ins berühmte, gemeinsam geführte Tagebuch ein Jüngstes Gericht, bei dem sie vor Gottvater kleinmütig bekennen müssen, Zeitzeugen jenes schäbigen Staatsstreichs gewesen zu sein. Gustave Flaubert hingegen quälte sich damals mit „Madame Bovary“. In seinem späteren Roman „Lehrjahre des Gefühls“ blendete er durch eine lange Reise seines Helden das Zweite Kaiserreich einfach aus.
George Sand wiederum machte sich noch eifriger ans Briefeschreiben und beschwor den neuen Herrscher, gegenüber ihren rebellischen Angehörigen und Freunden Nachsicht walten zu lassen. Victor Hugo schließlich begab sich auf den Weg in ein langes Exil und verfasste auf der ersten Station Brüssel sein Pamphlet „Napoleon der Kleine“. Diesen und anderen Künstlerreaktionen folgt die Romanistin Walburga Hülk durch die Jahre, um aus den Fakten Funken der Zeitstimmung zu schlagen.
Gegenüber dem, was sich unter seinem Regime abspielte, wirkte die Figur Napoléons III. trotz des aufgebauschten Herrschaftsornats schon für Zeitgenossen seltsam hausbacken, visionslos, eben klein. Die Autorin ist klug genug, dieses Erscheinungsbild nicht durch ein umständlich aus den Quellen geschöpftes Gegenbild ersetzen zu wollen. Sie begnügt sich – recht überzeugend – damit, Louis Napoléon als einen Meister zumindest der Machtinszenierung und als begabten Nutzer der aufkommenden Massenmedien zu präsentieren. Im Fluchtpunkt der Überlagerung dieses Herrschers, seines Regimes und seiner Epoche zeigt sich so das Paradox einer seltsamen Fusion, in welcher Fortschrittstaumel und Retro-Chic einander umspielen. Unter einem Zeremonienmeister aus der Vergangenheit gingen die Herolde des ganz Neuen in Position.
Bei der ersten Weltausstellung, die Paris 1855 ausrichtete, wollte man im Wettlauf gegen die vier Jahre zuvor in London veranstaltete Great Exhibition nicht einfach noch gewaltigere Dampfmaschinen, Turbinen und Zahnradmonster auffahren. Paris verlagerte den Akzent bei der Schau mehr auf die Mode, das Savoir-vivre und die schönen Künste. Persönlichkeiten wie Ingres und Delacroix waren neben dem Hofmaler Franz Xaver Winterhalter mit zahlreichen Bildern präsent. Der abgewiesene Gustave Courbet veranstaltete im „Pavillon des Realismus“ trotzig eine Gegenausstellung. Die Kunstkritik mutierte von der Liebhaberei zum Metier, bei dem es auch um Stiltendenzen und Marktgesetze ging. Baudelaire widmete der Exposition Universelle 1855 drei bedeutende Artikel und führte das Genre der Kunstkritik auf einen Höhepunkt.
Die Umgestaltung von Paris durch 150 Architekten und 60 000 Bauarbeiter zur Modellstadt des 19. Jahrhunderts ragt im Bildpanorama dieses Buchs verständlicherweise besonders heraus. Baudelaire trauerte in seinem Gedicht „Der Schwan“ dem „vieux Paris“ nach, Georges Sand jubelte über die breiten Trottoirs, auf denen man ungestört mit den Händen in der Tasche flanieren könne. Neu war in jenen Jahren aber auch die gestärkte politische Position Frankreichs nach dem Krimkrieg, das ambivalente Spiel mit den italienischen Befreiungsbewegungen, das von Algerien aus wachsende Kolonialreich oder das hinter dem Glanz der Lichterstadt Paris sich zusammenbrauende Sozialelend quer durchs Land. Etwas breitere Erwähnung hätte das im Schatten des spektakulär Neuen sich entwickelnde Bildungswesen oder das Entstehen einer öffentlichen Meinung durch die Massenmedien verdient.
Im Auffächern der tausend Facetten und Anekdoten beweist die Autorin ihr ganzes Talent. Nach langen Forschungen konnte sie offensichtlich aus dem Vollen schöpfen. So erfährt man im Detail, wie die schiffsförmige Prachtwiege geschmückt war, in welcher der kaiserliche Sprössling Loulou 1856 im Thronsaal des Pariser Rathauses den 25 000 Besuchern präsentiert wurde. Man begreift, dass die Landschaftsmalerei im Freien erst durch die massenhafte Herstellung von Farbtuben aus Blei durch das englische Unternehmen Winston & Winston möglich wurde, vernimmt vom Ursprung des blau-weiß geringelten Matrosen-Shirts, wird daran erinnert, dass das vor vier Jahren durch den Terroranschlag weltberühmt gewordene Pariser Variété-Theater Bataclan seinen Namen der gleichnamigen Operette von Jacques Offenbach verdankt.
Zwischen den entlegensten Einzelheiten konstruiert die Autorin verwegene Eselsbrücken, wenn sie etwa von Napoléons Zugeständnis ans Volk, in den französischen Wäldern zum Heizen Totholz sammeln zu dürfen, zur Maria-Erscheinung der nach Brennholz suchenden Bernadette 1858 in Lourdes übergeht und weiter zu der im selben Jahr erstmals fotografierten Himmelserscheinung eines Kometen, benannt nach dem Astronomen Giambattista Donati. Mitunter könnte einem schwindlig werden im Wechselbad zwischen Kuriosität und Gelehrsamkeit. Welchen Zusammenhang gab es denn zwischen dem Massentod der Büffel um 1870 in Amerika und dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs? Europa brauchte Leder für Treibriemen und Armeeschuhe.
Eher als eine kompakte Theorie der Moderne bietet das Buch ein Puzzle. Der Zeitrahmen des Second Empire erweist sich dafür als nützlich, keinesfalls als zwingend, und die Figur Louis Bonapartes steht mehr als Gespenst denn als Akteur hinter jenen Aufbruchsjahren der Moderne. Geschichtsflaneuren bringt die Studie mit ihren manchmal etwas forciert trendigen Ausdrücken – Haussmanns „Gentrifizierung“, die „No-go-Areas“ damals um den Louvre, Edmond und Jules Goncourts Hauszeitung Le Parisien als „Start-up-Unternehmen“ – zahllose Überraschungen. Literaturinteressierten verschafft sie Einblicke in vergessene Briefstellen und verborgene Tagebuchnotizen.
JOSEPH HANIMANN
Diese Ansicht von Paris widmete Edouard Willmann Napoléon III.
Foto: public domain
Walburga Hülk: Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2019.
415 Seiten, 26 Euro.
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»Ein umwerfend temperamentvolles Epochenporträt.« Katharina Teutsch Deutschlandfunk Kultur 20190815