Produktdetails
- Verlag: Unionsverlag
- Originaltitel: Al-Shahhad
- Seitenzahl: 190
- Deutsch
- Abmessung: 195mm
- Gewicht: 275g
- ISBN-13: 9783293003187
- ISBN-10: 3293003184
- Artikelnr.: 11916512
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Ägyptens Krise: Ein Roman von Nagib Machfus aus den Sechzigern
Zunächst scheint der Roman tatsächlich nur das zu sein, was der Klappentext verheißt: die ägyptische Version einer Midlifecrisis, wie wir sie aus westlichen Industriegesellschaften kennen. Ein Mann, Mitte Vierzig, erfolgreicher Anwalt, verheiratet, zwei Kinder, wird plötzlich von einem seltsamen Unbehagen heimgesucht. Er fühlt sich müde und lustlos, nichts interessiert ihn mehr, nichts freut ihn. Er ist alles leid, was sein Leben ausmacht - seine Arbeit, seine Frau und am allermeisten sich selbst. "Ich will nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, mich nicht mehr bewegen. Alles zerfällt, stirbt ab", sagt er, als er dem Arzt zu beschreiben versucht, was mit ihm los ist.
Die Symptome sind bekannt. Man kann Vitamine dagegen verschreiben oder Antidepressiva; das ändert jedoch nichts an dem quälenden Gefühl, das Leben verpaßt und das Ziel aus den Augen verloren zu haben. Das muß auch Omar al-Hamzawi erfahren, der Protagonist in Nagib Machfus' Roman "Der Rausch". Er hat eine Familie gegründet, Kinder gezeugt, er ist zu Ansehen und Wohlstand gekommen, es fehlt ihm äußerlich an nichts. Bloß, er weiß auf einmal nicht mehr, wozu das alles gut sein soll. Die Frage nach dem Sinn eines Lebens, dessen einzige Gewißheit in seiner Endlichkeit besteht, ist über ihn gekommen wie eine Krankheit. Seither ist er auf der Suche nach Heilung, auf der Suche nach jenem rauschhaften Zustand reiner Gegenwart, wie man ihn vielleicht im Liebesakt, in der Begegnung mit der Natur oder in der Gewißheit des nahen Todes zu erfahren vermag. Für Omar al-Hamzawi wird diese Suche zur Obsession.
Er wirft sein ganzes bisheriges Leben über Bord, verläßt Familie und Kanzlei und macht sich in den Kairoer Bars und Clubs auf die Suche nach der Frau, der einen und einzigen, von der er sich das, was er den "Rausch" nennt, verspricht. Als er sie schließlich findet - oder gefunden zu haben glaubt -, ist er zwar bis über beide Ohren verliebt, die großen Gefühle, das Glück der reinen Gegenwart, der Rausch jedoch lassen weiterhin auf sich warten.
Bis dahin geht der Roman des ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Machfus kaum über die Schilderung jener Phänomene hinaus, wie sie erfolgreiche Mittvierziger auch in anderen Ländern der modernen Welt kennen. Doch je länger die Erzählung fortschreitet, desto deutlicher wird, daß sich hinter der privaten Lebenskrise des Anwalts Omar al-Hamzawi noch etwas anderes, etwas Bedrohlicheres verbirgt. Anzeichen dafür gibt es von allem Anfang an; doch werden sie so beiläufig angeführt, daß sie sich erst nach und nach zu einem lesbaren Muster fügen. Die Originalausgabe des Buches ist im Jahr 1965 erschienen: mitten in jener Zeit also, da Nasser das Land mit eiserner Hand auf sozialistischen Kurs und in sowjetische Abhängigkeit zu bringen versuchte. Doch der Sozialismus, wie er jetzt in Ägypten angesagt ist, hat nicht mehr viel mit den Idealen derer zu tun, die einst den Regimewechsel mitgetragen hatten. Auch Omar hatte in seiner Jugend zu einem kleinen Kreis von Leuten gehört, die Gedichte schrieben, von einer besseren Welt träumten und für soziale Gerechtigkeit kämpften. Als dann aber einer von ihnen, Osman Chalil, verhaftet wird, ist es mit dem revolutionären Impetus nicht mehr weit her. Die Gefährten tauchen ab, sie passen sich an und arrangieren sich, die Ideale von einst geraten in Vergessenheit. Nur wenn von Zeit zu Zeit der Name des Inhaftierten fällt, brechen die Erinnerungen auf, und wie eine längst vernarbte Wunde schmerzt das Wissen um den Verrat.
Diese "mumifizierten Erinnerungen", wie Omar sie nennt, sind vermutlich der wahre Grund für die Krise, die ihn aus der Bahn geworfen hat. Man könnte es auch Scham nennen: Scham darüber, daß man den Freund im Stich gelassen und klein beigegeben hat. Scham aber auch darüber, daß man seine Überzeugungen von einst materiellen Gütern und häuslichem Glück geopfert hat - auch dies Erfahrungen, die hierzulande nicht ganz unbekannt sein dürften. Im Kairo der frühen sechziger Jahre jedoch kommt ein weiteres Moment hinzu: Angst, die ganz reale Angst, mit dem Inhaftierten in Verbindung gebracht zu werden und selbst in den Strudel von Diffamierung und Verfolgung hineinzugeraten. Genau dies geschieht denn auch, als Osman Chalil aus dem Gefängnis zurückkommt und die Freunde mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.
Vor allem für Omar ist die Begegnung mit dem Kampfgefährten von einst ein Schock. Nun erst realisiert er das volle Ausmaß seines Versagens und die Vergeblichkeit seiner Suche nach Glück. Nun erst - und das gehört wohl zu den Paradoxien des Lebens, wie Machfus es sieht - erlebt er aber auch, in der kalten Klarheit einer Wüstennacht, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte: den Rausch, Offenbarung des Seins und Augenblick reinster Glückseligkeit zugleich. Die Konsequenz, die er aus alledem zieht, ist logisch und furchtbar in einem: Omar zieht sich aus der Welt zurück, läßt alle im Stich, die ihn lieben und brauchen - auch die Frau, die ihm noch einmal ein Kind geschenkt, auch den Freund, der, von der Polizei gejagt, bei ihm Zuflucht gesucht hat.
Der letzte Satz des Romans - "Wenn du mich wahrhaftig liebst, warum hast du mich verlassen?" - liest sich als das bittere Fazit eines verfehlten Lebens, aber auch als vernichtende Kritik an einer ganzen Generation, die, unter dem Druck der Verhältnisse, ihre politischen Ideale und letztlich sich selbst verraten hat.
Zwei Jahre nach Erscheinen von Machfus' Roman hat der israelische Sieg im Sechstagekrieg Ägypten eine seiner schlimmsten Niederlagen bereitet. Ein Scheitern auf geistiger Ebene kündigt sich in diesem schmalen, sprachlich und thematisch wie verdichteten Buch bereits an: eine schwierige Lektüre und doch ein Text, der durch den Bedeutungsreichtum seiner Bilder und die Schärfe der gesellschaftlichen Analyse besticht.
KLARA OBERMÜLLER.
Nagib Machfus: "Der Rausch". Aus dem Arabischen übersetzt von Doris Kilias. Unionsverlag, Zürich 2003. 187 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Rezensentin Klara Obermüller lobt an diesem schmalen, sprachlich und thematisch verdichteten Buch besonders den Bedeutungsreichtum seiner Bilder und die Schärfe seiner gesellschaftlichen Analyse. Dieses 1965 zuerst im Original erschienene Buch deutet sie nicht nur als bitteres Fazit des späteren ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Machfus, sondern auch als vernichtende Kritik an einer ganzen Generation. Auf den ersten Blick kann sie an der Geschichte nicht mehr finden, als vom Klappentext angekündigt: die ägyptische Version einer Midlife-Crisis. Doch je länger sie die Erzählung fortschreiten sieht, desto deutlicher wird für sie, dass sich hinter der privaten Krise des Protagonisten etwas Bedrohlicheres verbirgt: der Verrat, den eine Generation unter dem Druck der Verhältnisse an sich und ihren Idealen verübte.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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