Die Edition dokumentiert den gesamten überlieferten Briefwechsel der Redaktion der "Hallischen Jahrbücher für deutsche Kunst und Wissenschaft", der "Deutschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst" und der "Deutsch-Französischen Jahrbücher" – vorwiegend Briefe von und an Arnold Ruge. Sie enthält in kritischer, kommentierter Edition 1.222 Briefe, die chronologisch von der ersten Erwähnung der "Hallischen Jahrbücher" im August 1837 bis zum endgültigen Ende der "Deutsch-Französischen Jahrbücher" im März 1844 reichen. Als ertragreichste zitierfähige Quelle für wissenschaftliche Arbeiten zum Junghegelianismus und seinem Umfeld gilt bisher der Teil der Korrespondenz Ruges, den Paul Nerrlich 1886 (Reprint 1985) veröffentlichte. Diese neue Edition wird die 120 Jahre alte Ausgabe ersetzen. Mehr als die Hälfte der Texte wird hier erstmals, ein weiterer großer Teil erstmals vollständig veröffentlicht. Damit wird eine bisher höchst unvollständig zugängliche Quelle zur Geschichte des Junghegelianismus erschlossen, welche die Entwicklung der Philosophie im 19. Jahrhundert in einem neuen Licht erscheinen lässt. Die Texte der Briefe werden in zwei Bänden veröffentlicht, ein Begleitband vervollständigt die Ausgabe durch ein Verzeichnis der anonymen oder pseudonymen Artikel der Zeitschrift mit Entschlüsselung der Autoren, ein biographisch annotiertes Verzeichnis der Korrespondenten bzw. der Autoren der Jahrbücher, diversen Registern sowie einer Studie des Herausgebers zur Überlieferungsgeschichte der Briefe und zu Problemen der junghegelianischen Bewegung. Das Werk ist eine Quellenedition zur Geschichte der Philosophie, der Theologie, der Literatur, des Pressewesens und der sozialen Bewegungen – entstanden in mehr als zehnjähriger Forschungsarbeit des erfahrenen Herausgebers in den Archiven und Bibliotheken in Berlin, Bonn, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt/M., Hamburg, Leipzig, Marburg, Moskau, München, Stuttgart und Weimar.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.07.2010Hier triumphiert die radikale Kritik des Bestehenden
Diese jungen Hegelianer haben den Diskurs der Moderne dauerhaft etabliert: Endlich wurde der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen Jahrbücher ediert
Der Deutschen liebste Reflexionsebene, soweit sie über den Staat und gesellschaftliche Alternativen nachdenken, ist der „Vormärz“ und die Revolution von 1848 samt ihrer Folgen. In diesen nicht einmal zwei Jahrzehnten wurden alle denkbaren Modelle nationaler Souveränität des späten 19. Jahrhunderts entworfen. Der Streit darum, welcher Weg einzuschlagen ist, um der Vision einer freien und gerechten Gesellschaft nahezukommen, hat Generationen von Historikern, Sozialwissenschaftlern und nicht zuletzt Politiker bewegt.
Ein Erbe in der großen emanzipatorischen Erzählung ist jedoch zu kurz gekommen: das der Junghegelianer. In Lexika wird das Stichwort meist nur summarisch unter „Hegelianismus“ abgehandelt, so als sei die Philosophie nach Hegels Tod gleichgewichtig in Alt-(Rechts-) und Jung-(Links-)hegelianer aufgespalten worden. Über letztere gibt es zwar einige interessante Teilstudien, etliche Biographien über Galionsfiguren (etwa Arnold Ruge, David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer), aber es fehlen umfassende Darstellungen. Ein Grund für die Vernachlässigung der Junghegelianer ist der kurze Zeitraum ihres historischen Wirkens. Was mit einem Paukenschlag, David Friedrich Strauß’ aufrührerischer Schrift „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“, 1835 begann, endete im Staats-„Terrorismus, vor welchem wir alle wie die Birkhühner vor einem Habicht auseinandergeflogen sind“, so Michail Bakunin im Januar 1843 an Arnold Ruge.
Bestrebungen, die im Widerstreit mit der herrschenden Kultur stehen, sind von jeher in der akademischen Rezeption stiefmütterlich behandelt worden. Das hat Folgen für die Wertung, wenngleich die Leuchtkraft realer, an die Bedürfnisse der Menschen anknüpfender Optionen nie ganz erlischt. Und so pendelt das derzeitige Urteil über diese Phase deutscher Ideengeschichte zwischen zwei Polen. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts sei, „jedenfalls nach Hegels Tod, eine vergleichsweise marginale, unmächtige Sache“, meinte Golo Mann in seiner „Propyläen Weltgeschichte“ (1960). Demgegenüber Jürgen Habermas: Wir sind alle „Zeitgenossen der Junghegelianer geblieben“. Hegel habe den „Diskurs der Moderne eröffnet; erst die Junghegelianer haben ihn dauerhaft etabliert“.
Zudem stockte die Erschließung der Quellen, weil sich die Geschichtsschreiber meist auf herausragende „Werke“ konzentrierten. Die junghegelianische Bewegung wurde aber vornehmlich durch ein publizistisches Organ zusammengehalten: die „Hallischen“, später „Deutschen Jahrbücher“ und ab 1844 die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“. Somit erweist sich die Redaktionskorrespondenz als das eigentliche, das authentische Zeugnis des Junghegelianismus. In jahrelanger Kärrnerarbeit ist es dem Berliner Historiker Martin Hundt gelungen, den gesamten überlieferten Briefwechsel, 1222 Schreiben, zu rekonstruieren, in zwei fulminanten Bänden und einer sehr umsichtigen Studie samt Apparat im dritten Band.
Die Redaktion wolle die klassische Philosophie „beleben“, heißt es im Prospekt zu den „Hallischen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst“, 1838 mit der ersten Nummer versandt. Man müsse von der bloßen Kritik in Büchern weiter gehen „zu dem geistigen Verbande durch die Persönlichkeiten, die sie produzieren“. Im Zentrum dieser Sammelbewegung standen der wegen seiner burschenschaftlichen Verbindungen zu mehrjähriger Haft verurteilte Philosoph und Platon-Ästhetiker Arnold Ruge und der Literaturhistoriker Theodor Echtermeyer.
Obwohl in vielen Passagen persönlich gehalten, sind die Briefe keine Privatkorrespondenzen, sondern eine Art lebhaftes Redaktionstagebuch. Diese Mischung wird schon in Ruges Post sinnfällig, die er während einer Werbereise Ende 1837 nach Süddeutschland an seine Gesinnungsgenossen schickt. Er sucht Autoren zu gewinnen, für literarische, philosophische, auch naturwissenschaftliche Themen.
Amüsant die vielen Porträtminiaturen damaliger Geistesgrößen, die Ruge in die Berichte einflicht. Er hofft auf die Mitarbeit der schwäbischen Dichter. Eine Episode ist des öfteren kolportiert worden. Als Ruge mit Ludwig Uhland nach Gomaringen zu Gustav Schwab fuhr, brach eine Achse der Postkutsche und die Reisenden stürzten ins Lehmwasser des Straßengrabens. Der „heitersten und freundlichsten Unterhaltung“ im Pfarrhaus über Mörike, Hölderlin, Heine habe der Schreck keinen Abbruch getan, schreibt Ruge. Uhland sagt zu, Gervinus kritisch zu besprechen, scheitert aber daran; Schwab liefert Artikel.
Als ertragreichste Quelle für wissenschaftliche Arbeiten zum Junghegelianismus galt bisher der Teil der Korrespondenz, den Paul Nerrlich 1886 in der Ruge-Werkausgabe veröffentlicht hat. Es muss Martin Hundt zugute gehalten werden, dass er alle bereits bekannten Briefe neu entziffert, von Fehldeutungen befreit und vollständig wiedergegeben hat. Das betrifft auch den Feuerbach-Briefwechsel, eine der tiefsinnigsten Korrenspondenzen jener Jahre. Von den jetzt eruierten um die „Jahrbücher“ geschriebenen Briefen wurde bisher weit weniger als die Hälfte gedruckt, und dies unerhört verstreut. Im zweiten Band („Deutsche“ und „Deutsch-Französische Jahrbücher“) ist der Anteil der Erstveröffentlichungen besonders hoch. Es handelt sich um Bestände der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek, der Klassik Stiftung Weimar sowie um Archivalien aus ehemals geschlossenen Parteiarchiven der DDR und Russlands, die Martin Hundt erstmals der Forschung und einer breiten Leserschaft zur Kenntnis gibt.
Die junghegelianische Bewegung, insbesondere die Redaktionsarbeit, wurde von Anfang an von der Metternichschen Polizei überwacht; viele Briefe fanden sich in Spitzeldossiers wieder. Der Kampf mit der Zensur verschärfte sich noch nach den „Kölner kirchlichen Wirren“, in denen Preußen und der katholische Klerus über die Erziehung der Kinder in konfessionell gemischten Ehen aneinandergerieten. Der Hallenser Historiker Heinrich Leo schoss aus allen Rohren gegen die „Hegelinge“, die das kompromisslose Verhalten des Klerus wie des Staates anprangerten. Woraufhin Ludwig Feuerbach „Der wahre Gesichtspunkt, aus welchem der ‚Leo-Hegel-Streit‘ beurteilt werden muß“ für die Jahrbücher schrieb. Darin belegt er die Unvereinbarkeit von Philosophie und Christentum, Aufklärung und katholischer Romantik: „Ungeachtet aller Vermittlungsversuche ist die Differenz zwischen Religion und Philosophie eine unaustilgbare, denn sie beruhen beide auf entgegengesetzten Geistestätigkeiten.“ Philosophie sei „eine selbständige Wissenschaft“. Nach diesen Sätzen wurde der weitere Druck der Artikelserie untersagt.
Im selben Jahr (1839) verbot die Berliner Regierung den Verkauf der „Hallischen Jahrbücher“ in Preußen. Ruge wich nach Dresden aus, nannte die Publikation „Deutsche Jahrbücher“ und verschärfte die politische Kritik. Aber die Krakenarme des preußischen Staates reichten auch in sächsische Kanzleien. Im Januar 1843 besetzte die Polizei die Druckerei, zerstörte die Druckstöcke und die Ständeversammlung beschloss die Suspension der Zeitschrift. Nun blieb nur noch die Flucht ins Ausland, nach Paris. Die Bekanntschaft Ruges mit Karl Marx ermöglichte es, die um vieles grundsätzlicheren „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ herauszugeben – bis zum Bruch der beiden Chefredakteure im März 1843; das war das Ende der publizistischen Organisationsform der Junghegelianer. Die Resonanz der Zeitschrift war erheblich. Dazu hat auch die dem Terminus „Jahrbücher“ widersprechende Verbreitungsweise beigetragen. Sie erschien für Abonnenten in täglichen Ausgaben, die en gros wochen-, manchmal monatsweise ausgeliefert wurden.
Die Redaktionskorrespondenz legt nahe, dass der Linkshegelianismus weiter zu fassen ist als bisher reflektiert. Martin Hundt weist auch zurecht auf die Schar der Leser und Sympathisanten hin, die nicht unmittelbar zum Autorenkreis gehörten, aber die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde auf ihre Weise verbreiteten. Bettina Arnim gehörte dazu, Fürst Pückler-Muskau, Heinrich Laube, Hoffmann von Fallersleben. Hundt setzt auch den Beginn der junghegelianischen Kritik früher an, nämlich bei Johann Heinrich Voß, bei Eduard Gans und vor allem bei Heinrich Heine. Ob dessen Schrift „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ tatsächlich die „früheste (und beste) Grundlegung des Junghegelianismus“ gewesen ist, erscheint zumindest aus der Sicht Ruges fraglich, der auf den „mehr als unsittlichen“ Dichter nicht gut gestimmt war.
Nichts entsteht aus sich selbst, und so hat natürlich die radikalliberale „Kritik des Bestehenden“ tief denkende Vorläufer gehabt. Und Nachgänger. Denn dass der Junghegelianismus nicht nur die Philosophie revolutionierte, sondern ein treibendes Element der Demokratiebwegung war, die in die Märzrevolution 1848 mündete und im Paulskirchenparlament ihre erste Repräsentanz fand, steht außer Zweifel. JENS GRANDT
MARTIN HUNDT (Hrsg.): Der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen, Deutschen und Deutsch-Französischen Jahrbücher (1837 – 1844). Akademie Verlag, Berlin 2010. 3 Bände, 1370 Seiten, 298 Euro.
Die 1222 Schreiben sind eine
Mischung aus Privatkorrespondenz
und Redaktionstagebuch
Die Differenz zwischen
Religion und Philosophie
ist und bleibt eine unaustilgbare
Sie revolutionierten nicht nur
die Philosophie, sondern stärkten
auch die Demokratiebewegung
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Diese jungen Hegelianer haben den Diskurs der Moderne dauerhaft etabliert: Endlich wurde der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen Jahrbücher ediert
Der Deutschen liebste Reflexionsebene, soweit sie über den Staat und gesellschaftliche Alternativen nachdenken, ist der „Vormärz“ und die Revolution von 1848 samt ihrer Folgen. In diesen nicht einmal zwei Jahrzehnten wurden alle denkbaren Modelle nationaler Souveränität des späten 19. Jahrhunderts entworfen. Der Streit darum, welcher Weg einzuschlagen ist, um der Vision einer freien und gerechten Gesellschaft nahezukommen, hat Generationen von Historikern, Sozialwissenschaftlern und nicht zuletzt Politiker bewegt.
Ein Erbe in der großen emanzipatorischen Erzählung ist jedoch zu kurz gekommen: das der Junghegelianer. In Lexika wird das Stichwort meist nur summarisch unter „Hegelianismus“ abgehandelt, so als sei die Philosophie nach Hegels Tod gleichgewichtig in Alt-(Rechts-) und Jung-(Links-)hegelianer aufgespalten worden. Über letztere gibt es zwar einige interessante Teilstudien, etliche Biographien über Galionsfiguren (etwa Arnold Ruge, David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer), aber es fehlen umfassende Darstellungen. Ein Grund für die Vernachlässigung der Junghegelianer ist der kurze Zeitraum ihres historischen Wirkens. Was mit einem Paukenschlag, David Friedrich Strauß’ aufrührerischer Schrift „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“, 1835 begann, endete im Staats-„Terrorismus, vor welchem wir alle wie die Birkhühner vor einem Habicht auseinandergeflogen sind“, so Michail Bakunin im Januar 1843 an Arnold Ruge.
Bestrebungen, die im Widerstreit mit der herrschenden Kultur stehen, sind von jeher in der akademischen Rezeption stiefmütterlich behandelt worden. Das hat Folgen für die Wertung, wenngleich die Leuchtkraft realer, an die Bedürfnisse der Menschen anknüpfender Optionen nie ganz erlischt. Und so pendelt das derzeitige Urteil über diese Phase deutscher Ideengeschichte zwischen zwei Polen. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts sei, „jedenfalls nach Hegels Tod, eine vergleichsweise marginale, unmächtige Sache“, meinte Golo Mann in seiner „Propyläen Weltgeschichte“ (1960). Demgegenüber Jürgen Habermas: Wir sind alle „Zeitgenossen der Junghegelianer geblieben“. Hegel habe den „Diskurs der Moderne eröffnet; erst die Junghegelianer haben ihn dauerhaft etabliert“.
Zudem stockte die Erschließung der Quellen, weil sich die Geschichtsschreiber meist auf herausragende „Werke“ konzentrierten. Die junghegelianische Bewegung wurde aber vornehmlich durch ein publizistisches Organ zusammengehalten: die „Hallischen“, später „Deutschen Jahrbücher“ und ab 1844 die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“. Somit erweist sich die Redaktionskorrespondenz als das eigentliche, das authentische Zeugnis des Junghegelianismus. In jahrelanger Kärrnerarbeit ist es dem Berliner Historiker Martin Hundt gelungen, den gesamten überlieferten Briefwechsel, 1222 Schreiben, zu rekonstruieren, in zwei fulminanten Bänden und einer sehr umsichtigen Studie samt Apparat im dritten Band.
Die Redaktion wolle die klassische Philosophie „beleben“, heißt es im Prospekt zu den „Hallischen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst“, 1838 mit der ersten Nummer versandt. Man müsse von der bloßen Kritik in Büchern weiter gehen „zu dem geistigen Verbande durch die Persönlichkeiten, die sie produzieren“. Im Zentrum dieser Sammelbewegung standen der wegen seiner burschenschaftlichen Verbindungen zu mehrjähriger Haft verurteilte Philosoph und Platon-Ästhetiker Arnold Ruge und der Literaturhistoriker Theodor Echtermeyer.
Obwohl in vielen Passagen persönlich gehalten, sind die Briefe keine Privatkorrespondenzen, sondern eine Art lebhaftes Redaktionstagebuch. Diese Mischung wird schon in Ruges Post sinnfällig, die er während einer Werbereise Ende 1837 nach Süddeutschland an seine Gesinnungsgenossen schickt. Er sucht Autoren zu gewinnen, für literarische, philosophische, auch naturwissenschaftliche Themen.
Amüsant die vielen Porträtminiaturen damaliger Geistesgrößen, die Ruge in die Berichte einflicht. Er hofft auf die Mitarbeit der schwäbischen Dichter. Eine Episode ist des öfteren kolportiert worden. Als Ruge mit Ludwig Uhland nach Gomaringen zu Gustav Schwab fuhr, brach eine Achse der Postkutsche und die Reisenden stürzten ins Lehmwasser des Straßengrabens. Der „heitersten und freundlichsten Unterhaltung“ im Pfarrhaus über Mörike, Hölderlin, Heine habe der Schreck keinen Abbruch getan, schreibt Ruge. Uhland sagt zu, Gervinus kritisch zu besprechen, scheitert aber daran; Schwab liefert Artikel.
Als ertragreichste Quelle für wissenschaftliche Arbeiten zum Junghegelianismus galt bisher der Teil der Korrespondenz, den Paul Nerrlich 1886 in der Ruge-Werkausgabe veröffentlicht hat. Es muss Martin Hundt zugute gehalten werden, dass er alle bereits bekannten Briefe neu entziffert, von Fehldeutungen befreit und vollständig wiedergegeben hat. Das betrifft auch den Feuerbach-Briefwechsel, eine der tiefsinnigsten Korrenspondenzen jener Jahre. Von den jetzt eruierten um die „Jahrbücher“ geschriebenen Briefen wurde bisher weit weniger als die Hälfte gedruckt, und dies unerhört verstreut. Im zweiten Band („Deutsche“ und „Deutsch-Französische Jahrbücher“) ist der Anteil der Erstveröffentlichungen besonders hoch. Es handelt sich um Bestände der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek, der Klassik Stiftung Weimar sowie um Archivalien aus ehemals geschlossenen Parteiarchiven der DDR und Russlands, die Martin Hundt erstmals der Forschung und einer breiten Leserschaft zur Kenntnis gibt.
Die junghegelianische Bewegung, insbesondere die Redaktionsarbeit, wurde von Anfang an von der Metternichschen Polizei überwacht; viele Briefe fanden sich in Spitzeldossiers wieder. Der Kampf mit der Zensur verschärfte sich noch nach den „Kölner kirchlichen Wirren“, in denen Preußen und der katholische Klerus über die Erziehung der Kinder in konfessionell gemischten Ehen aneinandergerieten. Der Hallenser Historiker Heinrich Leo schoss aus allen Rohren gegen die „Hegelinge“, die das kompromisslose Verhalten des Klerus wie des Staates anprangerten. Woraufhin Ludwig Feuerbach „Der wahre Gesichtspunkt, aus welchem der ‚Leo-Hegel-Streit‘ beurteilt werden muß“ für die Jahrbücher schrieb. Darin belegt er die Unvereinbarkeit von Philosophie und Christentum, Aufklärung und katholischer Romantik: „Ungeachtet aller Vermittlungsversuche ist die Differenz zwischen Religion und Philosophie eine unaustilgbare, denn sie beruhen beide auf entgegengesetzten Geistestätigkeiten.“ Philosophie sei „eine selbständige Wissenschaft“. Nach diesen Sätzen wurde der weitere Druck der Artikelserie untersagt.
Im selben Jahr (1839) verbot die Berliner Regierung den Verkauf der „Hallischen Jahrbücher“ in Preußen. Ruge wich nach Dresden aus, nannte die Publikation „Deutsche Jahrbücher“ und verschärfte die politische Kritik. Aber die Krakenarme des preußischen Staates reichten auch in sächsische Kanzleien. Im Januar 1843 besetzte die Polizei die Druckerei, zerstörte die Druckstöcke und die Ständeversammlung beschloss die Suspension der Zeitschrift. Nun blieb nur noch die Flucht ins Ausland, nach Paris. Die Bekanntschaft Ruges mit Karl Marx ermöglichte es, die um vieles grundsätzlicheren „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ herauszugeben – bis zum Bruch der beiden Chefredakteure im März 1843; das war das Ende der publizistischen Organisationsform der Junghegelianer. Die Resonanz der Zeitschrift war erheblich. Dazu hat auch die dem Terminus „Jahrbücher“ widersprechende Verbreitungsweise beigetragen. Sie erschien für Abonnenten in täglichen Ausgaben, die en gros wochen-, manchmal monatsweise ausgeliefert wurden.
Die Redaktionskorrespondenz legt nahe, dass der Linkshegelianismus weiter zu fassen ist als bisher reflektiert. Martin Hundt weist auch zurecht auf die Schar der Leser und Sympathisanten hin, die nicht unmittelbar zum Autorenkreis gehörten, aber die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde auf ihre Weise verbreiteten. Bettina Arnim gehörte dazu, Fürst Pückler-Muskau, Heinrich Laube, Hoffmann von Fallersleben. Hundt setzt auch den Beginn der junghegelianischen Kritik früher an, nämlich bei Johann Heinrich Voß, bei Eduard Gans und vor allem bei Heinrich Heine. Ob dessen Schrift „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ tatsächlich die „früheste (und beste) Grundlegung des Junghegelianismus“ gewesen ist, erscheint zumindest aus der Sicht Ruges fraglich, der auf den „mehr als unsittlichen“ Dichter nicht gut gestimmt war.
Nichts entsteht aus sich selbst, und so hat natürlich die radikalliberale „Kritik des Bestehenden“ tief denkende Vorläufer gehabt. Und Nachgänger. Denn dass der Junghegelianismus nicht nur die Philosophie revolutionierte, sondern ein treibendes Element der Demokratiebwegung war, die in die Märzrevolution 1848 mündete und im Paulskirchenparlament ihre erste Repräsentanz fand, steht außer Zweifel. JENS GRANDT
MARTIN HUNDT (Hrsg.): Der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen, Deutschen und Deutsch-Französischen Jahrbücher (1837 – 1844). Akademie Verlag, Berlin 2010. 3 Bände, 1370 Seiten, 298 Euro.
Die 1222 Schreiben sind eine
Mischung aus Privatkorrespondenz
und Redaktionstagebuch
Die Differenz zwischen
Religion und Philosophie
ist und bleibt eine unaustilgbare
Sie revolutionierten nicht nur
die Philosophie, sondern stärkten
auch die Demokratiebewegung
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Endlich, freut sich Rezensent Jens Grandt, liegt der komplette Redaktionsbriefwechsel der Hallischen Tagebücher in einer Gesamtausgabe vor: 1222 Schreiben, von dem Historiker Martin Hundt "neu entziffert" und kommentiert in "zwei fulminanten Bänden". Immerhin waren die Junghegelianer ein wichtiges Element der deutschen Demokratiebewegung. Grandt erzählt die lebhafte Geschichte der Jahrbücher, die - erst von der Metternich'schen Polizei überwacht, dann in Preußen verboten und aus Sachsen vertrieben - 1843 zum letzen Mal in Paris erscheinen konnten. Anders als der Name sagt, erschienen sie nicht jährlich, sondern täglich, mit Artikeln und Schriften von Philosophen wie Ludwig Feuerbach aber auch Dichtern wie Bettina von Arnim und Hoffmann von Fallersleben. Die beiden Bände sollten wissenschaftlichen Arbeiten über den Junghegelianismus neuen Stoff geben, denn sie enthalten auch Briefe, so der Rezensent, die Martin Hundt "erstmals der Forschung und einer breiteren Leserschaft" zugänglich macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Die [...] Vielfalt und Vermischung von Themen und Stimmen macht den besonderen Reiz der Lektüre aus. Aber natürlich ist auch der Erkenntnisnutzen beträchtlich, der weit über den engen Bereich von Detailfragen und Spezialaspekten zu den 'Jahrbüchern' oder des Junghegelianismus [...] hinaus geht. Diese so gründlich edierte und vorbildlich präsentierte Korrespondenz ist eine bedeutsame Quelle für sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen [...] des Vormärz." Christian Liedtke in: Heine-Jahrbuch, 2010, S. 265-267 "Was hier ... vor allem geboten wird, ist eine in vieler Hinsicht neue, weil differenziertere, umfassendere, ausgewogenere, vor allem positivere Sicht auf den historischen Standort der junghegelianischen Bewegung ..." Walter Schmidt in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 59 (2011) 5, S. 474-475 "[Diese Edition wird] ihren Platz als wichtiges Arbeitsmittel in der Forschung behaupten und bedeutend für das Quellenstudium auf dem Gebiet der gesamten Vormärz und speziell der Junghegelianischen Philosophie sein." Hendrik Stein in: Jahrbuch Forum Vormärz Forschung, 16. (2010), S. 319-324 "Wer sich mit den geistigen Entwicklungen im deutschen Sprachraum während des Vormärz auseinandersetzen will, muss diese Edition lesen." Dieter Langewiesche in: Historische Zeitschrift, 292 (2011) 1 "Der mit dem 'Vormärz' bestens vertraute Historiker Martin Hundt hat jetzt im Akademie Verlag den gesamten Redaktionsbriefwechsel vorgelegt, unter anderem eine außerordentliche Vielzahl von Erstdrucken bisher wenig bekannter oder unbekannter Autoren. Er dokumentiert damit nicht nur, dass das eigentliche publizistische Zentrum des Junghegelianismus eben diese Jahrbücher waren, sondern auch dass Ruge als eins selbstständiger Denker anzusehen ist [...]." Gert Lange in: Neues Deutschland, 26. August 2010 "[E]rst mit dieser Edition wird die bisher weitgehend theoretische Neubewertung des Junghegelianismus auf ein solides Quellenfundament gestellt." Hans Jörg Sandkühler in: Das Argument, 288 (2010) 4-5 "Ein wirkliches Spezifikum der Hundtschen Betrachtungsweise ist die Einbeziehung der Fortsetzung der Jahrbücher-Konzeption bis hin zur Herausgabe der 'Deutsch-Französischen Jahrbücher' von Ruge und Karl Marx [...], die Beiträge von Marx und Friedrich Engels enthielten und das politsch-theoretische Paradigma einer 'links' hegelianischen Entwicklung bis heute hin überhaupt erst diskutierbar machten." Lars Lambrecht in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 21 (2010) 84 "Hier triumphiert die radikale Kritik des Bestehenden. Diese jungen Hegelianer haben den Diskurs der Moderne dauerhaft etabliert: Endlich wurde der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen Jahrbücher ediert." Jens Grandt in: Süddeutsche Zeitung