Deutschland im November 1938. Otto Silbermanns Verwandte und Freunde sind verhaftet oder verschwunden. Er selbst versucht, unsichtbar zu bleiben, nimmt Zug um Zug, reist quer durchs Land. Inmitten des Ausnahmezustands. Er beobachtet die Gleichgültigkeit der Masse, das Mitleid einiger Weniger. Und auch die eigene Angst.
»Ein wirklich bewegender, aber auch instruktiver Text. Ein großer Gewinn! Für einen Dreiundzwanzigjährigen ein ganz erstaunliches Werk.«
Brigitte Kronauer
Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. Noch nie hat man die Atmosphäre im Deutschland dieser Zeit auf so unmittelbare Weise nachempfinden können. Denn in den Gesprächen, die Silbermann führt und mithört, spiegelt sich eindrücklich die schreckenerregende Lebenswirklichkeit jener Tage.
»Ein wirklich bewegender, aber auch instruktiver Text. Ein großer Gewinn! Für einen Dreiundzwanzigjährigen ein ganz erstaunliches Werk.«
Brigitte Kronauer
Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. Noch nie hat man die Atmosphäre im Deutschland dieser Zeit auf so unmittelbare Weise nachempfinden können. Denn in den Gesprächen, die Silbermann führt und mithört, spiegelt sich eindrücklich die schreckenerregende Lebenswirklichkeit jener Tage.
»Man erstarrt als Leser ob der Authenzität, der Empathie und auch der eigenen Trauer, die sich einstellt, sitzt man mit dem 'Reisenden' als Beifahrer bei seiner rasenden Reise durch Deutschland.« Lothar Schelenz, Hermannstädter Zeitung, 12. November 2021 Lothar Schelenz Hermannstädter Zeitung 20211112
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2018Die Höllenfahrt des Otto Silbermann
Verspätete Entdeckung der Emigrationsliteratur von einem Autor mit eisernem Willen: Ulrich Alexander Boschwitz publizierte "Der Reisende" erstmals 1939. Jetzt ist der Roman endlich auf Deutsch zu lesen.
Am 29. Oktober 1942 ertrank Ulrich Alexander Boschwitz in einer mondhellen Nacht im Atlantik nordwestlich der Azoren. Das britische Schiff "Abosso", auf dem er zusammen mit 391 weiteren Passagieren und Besatzungsmitgliedern reiste, war von dem deutschen U-Boot U 575 torpediert worden. Nur dreißig Menschen überlebten die Versenkung, darunter nur einer der 44 Internierten, die sich wie Boschwitz auf dem Rücktransport aus einem australischen Lager für "enemy aliens" nach England befanden, wo sie als Freiwillige in den Kriegsdienst für ihr Gastland eintreten wollten.
Boschwitz war 27 Jahre alt. Als er starb, trug er das Manuskript eines Romans bei sich, den er im Internierungslager bei Melbourne geschrieben hatte. Es war sein dritter; der erste, "Menschen neben dem Leben", war 1937 in Schweden, der zweite, "Der Reisende", 1939 in englischer Übersetzung in London und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten erschienen. In seinem letzten Brief an seine Mutter auf der Isle of Man, der auf der Website des Leo Baeck Instituts nachzulesen ist, kündigt Boschwitz eine korrigierte Neufassung des "Reisenden" an, die ein Bekannter für ihn nach England bringen will. Er glaube, schreibt er, dass etwas an dem Buch sei, das es "zu einem Erfolg machen" könne, besonders nach dem Krieg. Die Korrekturfassung hat die Mutter nie erreicht.
Das ist, in Kurzform, die Vorgeschichte des Romans "Der Reisende", der jetzt, 76 Jahre nach dem Tod seines Verfassers, zum ersten Mal in der Sprache erscheint, in der er geschrieben wurde. Es ist eine Geschichte von Emigration und Deportation, von Neubeginn und gescheiterten Hoffnungen, eine von vielen Tragödien des Exils. Und es ist die Geschichte eines Talents im Werden. Der Nachlass von Boschwitz im Leo Baeck Institut enthält zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte, darunter Erzählungen, Verse, ein Kinderbuch, ein Dramolett über Paul von Hindenburg und Entwürfe für Zeitungsartikel. Sie sind, wie etwa die Spottgedichte über das "Dritte Reich" - "Lumpen haben keinen Dunst, / pfui, pfui, pfui / von echter, wahrer deutscher Kunst! / Heil, Heil, Heil!" -, von durchaus unterschiedlicher Qualität, aber aus jedem spricht die eiserne Entschlossenheit des Autors Boschwitz, ein Leben als Schriftsteller zu beginnen. Und sein Zorn, seine Empörung darüber, dass es ihm versagt bleibt, dieses Leben in Deutschland zu führen.
Denn Boschwitz war Jude, Halbjude in der Terminologie der Nazis. Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, war kurz vor seiner Geburt 1915 gestorben, seine Mutter, die nach der Verkündung der Nürnberger Rassengesetze mit Ulrich Alexander und seiner Schwester nach Schweden und später nach England ging, entstammte einer Lübecker Senatorenfamilie. Dass Boschwitz den Vater vermisst, dass seine literarische Phantasie den Toten umkreist hat, ist aus den erhaltenen privaten Aufzeichnungen und den Fotos, die eine Kindheit im Matrosenanzug und einen blonden Jüngling mit Krawatte und weichen, offenen Gesichtszügen zeigen, nicht zu ersehen. Es gibt nur ein Indiz dafür, aber das ist schlagend - ebender Roman, der jetzt vorliegt.
"Der Reisende" spielt im November 1938, am Tag nach der "Reichspogromnacht" und in den Wochen danach. Otto Silbermann, die Hauptfigur, ist ein jüdischer Geschäftsmann, der sich bis zu diesem Zeitpunkt in Hitlers Reich zwar unwohl, aber sicher gefühlt hat. Jetzt öffnen ihm die staatlich geplanten Gewaltexzesse die Augen über seine wahre Lage: "Mir ist der Krieg erklärt worden, mir persönlich." Er verliert seine Hoffnungen: Der Teilhaber, von dessen Nazi-Kontakten er sich Schutz und Profit erhofft hat, drängt ihn aus seiner eigenen Firma, ein Fluchtversuch nach Belgien scheitert kläglich, und der Schwager, bei dem Silbermanns Frau untergeschlüpft ist, will nichts mehr von ihm wissen. "Ich lebe mit Verlust", erkennt der Reisende. Durch eine schöne Frau, der er auf einer seiner Fahrten begegnet, dringt noch einmal ein Lichtstrahl in sein Dasein. Doch zum Rendezvous im Café erscheint sie nicht, und beim nächsten ziellosen Ausflug wird Silbermanns Aktentasche mit dem Erlös seiner Firmenanteile gestohlen. Wie ein Ausbrecher versteckt er sich in seiner eigenen Wohnung. Am nächsten Tag, auf dem Polizeirevier, auf dem er den Diebstahl des Geldes anzeigen will, wird er verhaftet.
Manches spricht dafür, dass Boschwitz seinen Helden nach dem Vorbild seines Vaters modelliert hat, etwa die Tatsache, das Silbermanns Sohn in Paris weilt, wo auch Boschwitz im Jahr 1938 einige Monate an der Sorbonne studierte. Doch der Großbürger mit dem "J" im Reisepass, der als rechtloser Nomade durch sein Heimatland irrt, ist mehr als ein individuelles Porträt: Er ist ein Phänotyp, wie ihn Boschwitz bei seinen Aufenthalten in Frankreich, Belgien und Luxemburg vielfach getroffen haben muss. Auch die Menschen, denen Silbermann auf Bahnsteigen und in Zugabteilen begegnet, sind Charaktermasken ihrer Epoche: der bräsige Gestapomann, der reizbare, weil "jüdisch" aussehende Parteigenosse, das Mädchen, dessen Verlobter im Konzentrationslager war, die pedantische Zimmerwirtin, die mitleidige Anwaltsgattin und andere mehr.
In einem breiter angelegten Roman würde man von einem Zeitpanorama sprechen. Aber diesen Roman gibt es nicht - nicht über das Jahr 1938, nicht über die Reichspogromnacht (auch wenn Viktor Klemperers Tagebücher dazu reiches Anschauungsmaterial bieten) und nicht über den Überlebenskampf der jüdisch-deutschen Mittelschicht. Es gibt Irmgard Keuns "Nach Mitternacht", der die Stimmung im Deutschen Reich des Jahres 1936 festhält, und dann die großen Werke des literarischen Exils, vom "Siebten Kreuz" bis zum "Doktor Faustus". Dazwischen klafft eine Lücke. "Der Reisende" schließt sie. Sein Autor holt das dokumentierte, massenhafte Leid in den Freiraum der Fiktion, er verbindet das historische Polaroid mit der langen Belichtungszeit des Romanciers.
Es gibt Passagen in diesem Buch, bei denen man an Filme von Hitchcock denken muss, an den "Fremden im Zug" oder an James Stewart auf der Flucht vor seinen Verfolgern in "Der unsichtbare Dritte". Dann wieder steht man unvermittelt vor den Trümmern des deutschen Geisteslebens. "Europäische Mission. Solche Fremdwörter sind auszumerzen." Das sagt ein völkischer Schriftsteller im Schnellzug nach Aachen zu seinem Assistenten. Auch das Wort "Kultur" will der Mann durch ein braunes Synonym ersetzen. Angeekelt verlässt Silbermann das Abteil, bevor sein Gegenüber sich zwischen "Volksförderung" und "Gemeinschaftsgeist" entschieden hat.
Auf den ersten Etappen seiner Irrfahrt ist der Geschäftsmann aus Berlin ein sympathischer, aber unauffälliger Charakter. Tragische Größe bekommt er, als er mit seiner Identität zu hadern beginnt. "Es sind zu viele Juden im Zug, dachte Silbermann." Ohne seine Leidensgenossen, überlegt er, würde er in Frieden gelassen. "Weil ihr aber seid, falle ich in eure Unglücksgemeinschaft! Weil ihr existiert, werde ich mit ausgerottet." Es ist Silbermanns moralischer Höllensturz. Von da an rast er wie ein Meteorit auf seinen Untergang zu. Man könnte darin eine Rache des Autors an seiner Figur sehen, wenn Silbermanns Verhalten nicht so herzzerreißend alltäglich und nachvollziehbar wäre, so traurig und so wahr.
Ulrich Alexander Boschwitz konnte 1938 noch nicht wissen, was im Lauf des Krieges, der ein Jahr später ausbrach, mit den europäischen Juden unter Hitlers Herrschaft geschehen würde. Aber er sah die Zeichen der Zeit und las darin den kommenden Genozid. "Heutzutage mordet man wirtschaftlich", sagt Silbermann einmal. Angstvoll malt er sich aus, wie die jüdischen Opfer erst sorgsam entkleidet werden, bevor man sie totschlägt, damit kein Blut auf ihre Banknoten tropft. Man muss an die Kleiderberge von Auschwitz denken, wenn man das liest, auch wenn Boschwitz nie von den Todesfabriken erfahren hat.
"Wie im Fieberrausch" habe Boschwitz seinen Roman in nur vier Wochen vollendet, schreibt Peter Graf, der den "Reisenden" wiederentdeckt und herausgegeben hat, im Nachwort. Graf hat auch die Nachkriegsgeschichte des Manuskripts recherchiert. Der Fischer Verlag, dem es in den fünfziger Jahren angeboten wurde, lehnte eine Publikation ab. 1963 empfahl Heinrich Böll den Roman seinem Hausverlag Middelhauve, doch "Der Reisende" blieb liegen. Jetzt erreicht er den deutschen Buchmarkt wie ein Paket, das von der Post achtzig Jahre lang vergessen wurde. Man öffnet die Verpackung; aus dem Inneren strömt ungefiltert die bittere Wahrheit der Geschichte.
ANDREAS KILB
Ulrich Alexander Boschwitz: "Der Reisende". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 303 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verspätete Entdeckung der Emigrationsliteratur von einem Autor mit eisernem Willen: Ulrich Alexander Boschwitz publizierte "Der Reisende" erstmals 1939. Jetzt ist der Roman endlich auf Deutsch zu lesen.
Am 29. Oktober 1942 ertrank Ulrich Alexander Boschwitz in einer mondhellen Nacht im Atlantik nordwestlich der Azoren. Das britische Schiff "Abosso", auf dem er zusammen mit 391 weiteren Passagieren und Besatzungsmitgliedern reiste, war von dem deutschen U-Boot U 575 torpediert worden. Nur dreißig Menschen überlebten die Versenkung, darunter nur einer der 44 Internierten, die sich wie Boschwitz auf dem Rücktransport aus einem australischen Lager für "enemy aliens" nach England befanden, wo sie als Freiwillige in den Kriegsdienst für ihr Gastland eintreten wollten.
Boschwitz war 27 Jahre alt. Als er starb, trug er das Manuskript eines Romans bei sich, den er im Internierungslager bei Melbourne geschrieben hatte. Es war sein dritter; der erste, "Menschen neben dem Leben", war 1937 in Schweden, der zweite, "Der Reisende", 1939 in englischer Übersetzung in London und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten erschienen. In seinem letzten Brief an seine Mutter auf der Isle of Man, der auf der Website des Leo Baeck Instituts nachzulesen ist, kündigt Boschwitz eine korrigierte Neufassung des "Reisenden" an, die ein Bekannter für ihn nach England bringen will. Er glaube, schreibt er, dass etwas an dem Buch sei, das es "zu einem Erfolg machen" könne, besonders nach dem Krieg. Die Korrekturfassung hat die Mutter nie erreicht.
Das ist, in Kurzform, die Vorgeschichte des Romans "Der Reisende", der jetzt, 76 Jahre nach dem Tod seines Verfassers, zum ersten Mal in der Sprache erscheint, in der er geschrieben wurde. Es ist eine Geschichte von Emigration und Deportation, von Neubeginn und gescheiterten Hoffnungen, eine von vielen Tragödien des Exils. Und es ist die Geschichte eines Talents im Werden. Der Nachlass von Boschwitz im Leo Baeck Institut enthält zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte, darunter Erzählungen, Verse, ein Kinderbuch, ein Dramolett über Paul von Hindenburg und Entwürfe für Zeitungsartikel. Sie sind, wie etwa die Spottgedichte über das "Dritte Reich" - "Lumpen haben keinen Dunst, / pfui, pfui, pfui / von echter, wahrer deutscher Kunst! / Heil, Heil, Heil!" -, von durchaus unterschiedlicher Qualität, aber aus jedem spricht die eiserne Entschlossenheit des Autors Boschwitz, ein Leben als Schriftsteller zu beginnen. Und sein Zorn, seine Empörung darüber, dass es ihm versagt bleibt, dieses Leben in Deutschland zu führen.
Denn Boschwitz war Jude, Halbjude in der Terminologie der Nazis. Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, war kurz vor seiner Geburt 1915 gestorben, seine Mutter, die nach der Verkündung der Nürnberger Rassengesetze mit Ulrich Alexander und seiner Schwester nach Schweden und später nach England ging, entstammte einer Lübecker Senatorenfamilie. Dass Boschwitz den Vater vermisst, dass seine literarische Phantasie den Toten umkreist hat, ist aus den erhaltenen privaten Aufzeichnungen und den Fotos, die eine Kindheit im Matrosenanzug und einen blonden Jüngling mit Krawatte und weichen, offenen Gesichtszügen zeigen, nicht zu ersehen. Es gibt nur ein Indiz dafür, aber das ist schlagend - ebender Roman, der jetzt vorliegt.
"Der Reisende" spielt im November 1938, am Tag nach der "Reichspogromnacht" und in den Wochen danach. Otto Silbermann, die Hauptfigur, ist ein jüdischer Geschäftsmann, der sich bis zu diesem Zeitpunkt in Hitlers Reich zwar unwohl, aber sicher gefühlt hat. Jetzt öffnen ihm die staatlich geplanten Gewaltexzesse die Augen über seine wahre Lage: "Mir ist der Krieg erklärt worden, mir persönlich." Er verliert seine Hoffnungen: Der Teilhaber, von dessen Nazi-Kontakten er sich Schutz und Profit erhofft hat, drängt ihn aus seiner eigenen Firma, ein Fluchtversuch nach Belgien scheitert kläglich, und der Schwager, bei dem Silbermanns Frau untergeschlüpft ist, will nichts mehr von ihm wissen. "Ich lebe mit Verlust", erkennt der Reisende. Durch eine schöne Frau, der er auf einer seiner Fahrten begegnet, dringt noch einmal ein Lichtstrahl in sein Dasein. Doch zum Rendezvous im Café erscheint sie nicht, und beim nächsten ziellosen Ausflug wird Silbermanns Aktentasche mit dem Erlös seiner Firmenanteile gestohlen. Wie ein Ausbrecher versteckt er sich in seiner eigenen Wohnung. Am nächsten Tag, auf dem Polizeirevier, auf dem er den Diebstahl des Geldes anzeigen will, wird er verhaftet.
Manches spricht dafür, dass Boschwitz seinen Helden nach dem Vorbild seines Vaters modelliert hat, etwa die Tatsache, das Silbermanns Sohn in Paris weilt, wo auch Boschwitz im Jahr 1938 einige Monate an der Sorbonne studierte. Doch der Großbürger mit dem "J" im Reisepass, der als rechtloser Nomade durch sein Heimatland irrt, ist mehr als ein individuelles Porträt: Er ist ein Phänotyp, wie ihn Boschwitz bei seinen Aufenthalten in Frankreich, Belgien und Luxemburg vielfach getroffen haben muss. Auch die Menschen, denen Silbermann auf Bahnsteigen und in Zugabteilen begegnet, sind Charaktermasken ihrer Epoche: der bräsige Gestapomann, der reizbare, weil "jüdisch" aussehende Parteigenosse, das Mädchen, dessen Verlobter im Konzentrationslager war, die pedantische Zimmerwirtin, die mitleidige Anwaltsgattin und andere mehr.
In einem breiter angelegten Roman würde man von einem Zeitpanorama sprechen. Aber diesen Roman gibt es nicht - nicht über das Jahr 1938, nicht über die Reichspogromnacht (auch wenn Viktor Klemperers Tagebücher dazu reiches Anschauungsmaterial bieten) und nicht über den Überlebenskampf der jüdisch-deutschen Mittelschicht. Es gibt Irmgard Keuns "Nach Mitternacht", der die Stimmung im Deutschen Reich des Jahres 1936 festhält, und dann die großen Werke des literarischen Exils, vom "Siebten Kreuz" bis zum "Doktor Faustus". Dazwischen klafft eine Lücke. "Der Reisende" schließt sie. Sein Autor holt das dokumentierte, massenhafte Leid in den Freiraum der Fiktion, er verbindet das historische Polaroid mit der langen Belichtungszeit des Romanciers.
Es gibt Passagen in diesem Buch, bei denen man an Filme von Hitchcock denken muss, an den "Fremden im Zug" oder an James Stewart auf der Flucht vor seinen Verfolgern in "Der unsichtbare Dritte". Dann wieder steht man unvermittelt vor den Trümmern des deutschen Geisteslebens. "Europäische Mission. Solche Fremdwörter sind auszumerzen." Das sagt ein völkischer Schriftsteller im Schnellzug nach Aachen zu seinem Assistenten. Auch das Wort "Kultur" will der Mann durch ein braunes Synonym ersetzen. Angeekelt verlässt Silbermann das Abteil, bevor sein Gegenüber sich zwischen "Volksförderung" und "Gemeinschaftsgeist" entschieden hat.
Auf den ersten Etappen seiner Irrfahrt ist der Geschäftsmann aus Berlin ein sympathischer, aber unauffälliger Charakter. Tragische Größe bekommt er, als er mit seiner Identität zu hadern beginnt. "Es sind zu viele Juden im Zug, dachte Silbermann." Ohne seine Leidensgenossen, überlegt er, würde er in Frieden gelassen. "Weil ihr aber seid, falle ich in eure Unglücksgemeinschaft! Weil ihr existiert, werde ich mit ausgerottet." Es ist Silbermanns moralischer Höllensturz. Von da an rast er wie ein Meteorit auf seinen Untergang zu. Man könnte darin eine Rache des Autors an seiner Figur sehen, wenn Silbermanns Verhalten nicht so herzzerreißend alltäglich und nachvollziehbar wäre, so traurig und so wahr.
Ulrich Alexander Boschwitz konnte 1938 noch nicht wissen, was im Lauf des Krieges, der ein Jahr später ausbrach, mit den europäischen Juden unter Hitlers Herrschaft geschehen würde. Aber er sah die Zeichen der Zeit und las darin den kommenden Genozid. "Heutzutage mordet man wirtschaftlich", sagt Silbermann einmal. Angstvoll malt er sich aus, wie die jüdischen Opfer erst sorgsam entkleidet werden, bevor man sie totschlägt, damit kein Blut auf ihre Banknoten tropft. Man muss an die Kleiderberge von Auschwitz denken, wenn man das liest, auch wenn Boschwitz nie von den Todesfabriken erfahren hat.
"Wie im Fieberrausch" habe Boschwitz seinen Roman in nur vier Wochen vollendet, schreibt Peter Graf, der den "Reisenden" wiederentdeckt und herausgegeben hat, im Nachwort. Graf hat auch die Nachkriegsgeschichte des Manuskripts recherchiert. Der Fischer Verlag, dem es in den fünfziger Jahren angeboten wurde, lehnte eine Publikation ab. 1963 empfahl Heinrich Böll den Roman seinem Hausverlag Middelhauve, doch "Der Reisende" blieb liegen. Jetzt erreicht er den deutschen Buchmarkt wie ein Paket, das von der Post achtzig Jahre lang vergessen wurde. Man öffnet die Verpackung; aus dem Inneren strömt ungefiltert die bittere Wahrheit der Geschichte.
ANDREAS KILB
Ulrich Alexander Boschwitz: "Der Reisende". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 303 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2018Es gibt so viele Züge
Die Wiederentdeckung eines großen Exilromans: Ulrich Alexander Boschwitz
erzählt in „Der Reisende“ von Deutschland nach den Novemberpogromen 1938
VON ALEX RÜHLE
Mehrere Wochen lang war alles gutgegangen, die Überfahrt der M. V. Abosso von Australien nach England hätte nur noch wenige Tage gedauert, Ulrich Alexander Boschwitz konnte die Ankunft in London kaum erwarten, er wollte, sobald er zurück war, seinen Roman „Der Reisende“ überarbeiten. Vor der Abfahrt aus Sydney hatte er seiner Mutter geschrieben, er glaube fest daran, dass in diesem Buch etwas stecke, „was es zu einem Erfolg machen könnte“. Diese zweite Fassung konnte aber leider nie erscheinen, die M. V. Abosso wurde am 29. Oktober 1942 von einem deutschen U-Boot torpediert und versenkt. 362 Passagiere ertranken, unter ihnen Ulrich Alexander Boschwitz, der gerade mal 27 Jahre alt war und bald vergessen wurde, so wie sein schmales Werk.
Nur eine Nichte in Israel wusste noch, dass „Der Reisende“ als Typoskript überlebt haben musste. Dieser Frau, Reuella Shachaf, ist es mit zu verdanken, dass dieser Roman nun erstmals auf Deutsch erscheint. Shachaf wies den Berliner Verleger und leidenschaftlichen Texthunter Peter Graf darauf hin, was da für ein vergessener Schatz im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt schlummert. Graf hat ihn geborgen und vorsichtig lektoriert. Man kann hoffen, dass der von Boschwitz ersehnte Erfolg dem Buch nun, 76 Jahre später, doch noch beschieden wird, schließt „Der Reisende“ doch, ganz nüchtern gesprochen, eine literaturgeschichtliche Lücke: Es gab bislang keinen Roman, der in der Zeit direkt nach den Novemberpogromen von 1938 angesiedelt ist.
Der Text, der nur wenige Tage umfasst und zu großen Teilen in Zügen spielt, wurde in einem Zug geschrieben, in knapp vier Wochen, und diese schöpferische Hast fällt zusammen mit dem Thema der Hetze, das diesem Buch ein derart gnadenloses Tempo verleiht, dass man beim Lesen seelisches Seitenstechen bekommt. Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann wird von der ersten Seite an gejagt. Nicht als Person, ach woher denn, Sie sind ja anders, Sie gehören zu uns, solche Sätze kriegt er immer wieder zu hören.
Silbermanns tragischer Fehler war es, das bis zu diesem Moment selbst geglaubt zu haben. Er hat im Ersten Weltkrieg als Soldat gekämpft, wurde mit dem Eisernen Kreuz dekoriert, mit seiner Frau gehörte er zum Berliner Bürgertum. Was soll ihm da passieren? Auf der ersten Seite des Romans aber klopft die SA-Meute an seiner Tür und er weiß instinktiv, dass er fliehen muss. Der Rest ist Odyssee und Untergang.
„Der Reisende“ ist in mehrerlei Hinsicht ein Wunder. Wie kann man nur in derart rasendem Tempo einen derart dichten Roman schreiben? Und wie kann man nur aus der Ferne des Exils so genau wissen, wie diabolisch genau diese Pogrome von der NS-Regierung in Szene gesetzt und als Bereicherungsexzess instrumentalisiert wurden? Direkt im Anschluss, am 12. November, fand in Berlin die „Besprechung über die Judenfrage“ statt, bei der der endgültige Ausschluss der Juden aus dem beruflichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben beschlossen wurde. Als „Buße“ für die entstandenen Sachschäden hatten die Juden eine Milliarde Reichsmark zu zahlen, durften aber keine Staatsanleihen mehr verkaufen, sondern waren gezwungen, diese „Sühneleistung“ durch den Verkauf von Immobilien, Schmuck oder Sparguthaben aufzubringen. Nach der systematischen Entrechtung begann so die systematische Enteignung und Verfolgung.
All das steht in den Geschichtsbüchern. Ulrich Alexander Boschwitz zeigt all dies an einem einzelnen Menschen, seinem gehetzten Protagonisten, der gleich merkt, dass es ab sofort keinen Ort mehr gibt, an dem er sich sicher fühlen könnte. Wenn die Regierung Wohnungen mit Hilfe lange vorher erstellter Listen zerstören lässt und das Plündern, Brandschatzen, Morden gutheißt – wo soll man sich dann noch verstecken. Als er fürs Erste in einem Hotel absteigen will, begleitet ihn statt des Portiers ein Kellner auf sein Zimmer. „,Haben Sie Ihren Portier abgeschafft‘, erkundigte sich Silbermann im Aufwärtsgleiten. ,Der ist heute Nachmittag verhaftet worden. Der war doch ein Jude.‘“ Der war doch ein Jude – mehr braucht es ab sofort nicht mehr, um spurlos zu verschwinden. Silbermann, gerade erst angekommen, verlässt das Hotel sofort wieder und begibt sich auf eine Kreuz- und Querfahrt durchs Reich, halb in der Hoffnung, doch noch einen rettenden Ort zu finden, halb in dem Wissen, dass man in Bewegung weniger leicht zu orten ist. Boschwitz lässt Silbermann dabei schon recht früh einen grausam prophetischen Satz sagen: „Für einen Juden ist eben das ganze Reich zu einem Konzentrationslager geworden.“
Man vermutet bei einem derart schnell entstandenen Text schablonenhafte Figuren, gute Juden, schlimme Arier. Stattdessen ist der Roman bevölkert von ambivalenten Charakteren, hier wie dort. Silbermann selbst ist immer wieder arrogant und ungehalten. Sein Geschäftsfreund Fritz Stein sagt ihm einmal, er sehe „so arisch aus. Vor Ihnen haben die Leute keine Angst, vor mir schon. Man meidet mich wie einen Pestkranken.“ Nicht genug, dass Stein sich selbst unter rassischen Gesichtspunkten beschreibt, Silbermann wird in diesem Moment auch zum Verräter, schüttelt er Stein doch möglichst schnell ab, um keine Probleme zu bekommen.
Eine der gemeinsten Figuren ist Gustav Becker, einst Silbermanns Prokurist. Der hat ihn zum Sozius gemacht, um so der Enteignung zuvorzukommen und einen Teil seines Geldes zu retten. Jetzt nutzt Becker seine Machtposition aus, speist Silbermann mit einem lächerlich geringen Betrag ab und verkleidet diesen Raub als Gnadenakt, schließlich habe man 1915 ja gemeinsam an der Front gekämpft. Besser wurde die jovial-biedere Bosheit eines Profiteurs selten skizziert. Durch diesen triefend klebrigen Becker ahnt man zum einen, warum die Nazis Kitsch, die rührselige Version von Kunst, so gerne hatten. Vor allem aber ist Becker eine Allegorie auf den diabolischen Pakt, den die NS-Regierung mit der deutschen Bevölkerung einging: Wir organisieren die Vernichtung, ihr profitiert davon, wer sollte sich da beschweren?
Nach den Pogromen blieb den Juden nur noch die Flucht ins Ausland, was wiederum zur Folge hatte, dass die Nachbarländer die Grenzen dichtmachten. Silbermann versucht am Ende seiner panischen Reise, nach Belgien zu entkommen, wird aber in einem Wald von zwei Grenzern erwischt. „Es können ja nicht alle zu uns kommen“, erklären sie ihm neutral und schicken ihn zurück.
Als letzte Hoffnung bleibt nur ein Sohn, der in Paris sitzt und dort versucht, Papiere für die Eltern zu bekommen. Man bekommt dessen Bemühungen nicht mit, sondern nur die ungehaltene Wut des Vaters, der glaubt, sein Sohn kümmere sich einfach nicht richtig. Durch den Telefonhörer aber erahnt man, welche Hilfslosigkeitsqualen dieser Sohn durchleidet.
Ulrich Alexander Boschwitz hat 1938 selbst vergeblich versucht, von Paris aus Verwandte aus Deutschland herauszuholen. Als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, der 1915 an der Front gefallen war, ist er zusammen mit seiner Mutter, die einer Lübecker Senatorenfamilie entstammte, nach der Verkündung der Nürnberger Rassegesetze, die ihn zu einem Paria machten, nach London emigriert. 1937 veröffentlichte er einen ersten Roman, der sich so gut verkaufte, dass er von den Einnahmen nach Paris gehen konnte, um an der Sorbonne zu studieren. Direkt nach den Novemberpogromen setzte er sich hin und begann die Niederschrift von „Der Reisende“. Zu Kriegsbeginn floh er nach England, wurde als Deutscher interniert und für drei Jahre nach Australien deportiert.
„Der Reisende“ endet mit der Festnahme Silbermanns. In der Schlussszene sieht man ihn in einer Gefängniszelle, die er sich mit einem Mann teilen muss, der auf seine Zwangssterilisierung wartet und gegen Juden hetzt. Silbermann, endgültig zur Strecke gebracht, legt sich auf seine Pritsche und zieht den Wahnsinn wie eine schützende Decke über sich: „Um sieben Uhr geht ein Zug nach Aachen, um acht einer nach Hamburg, um zehn einer nach Dresden ...“. Seine letzten beiden Halbsätze – „Es gibt so viel Züge ... so unendlich viel Züge.“ – haben für den heutigen Leser eine abgründige Konnotation, schwingt in der letzten Rettungshoffnung des Todgeweihten doch der wenig später beginnende Holocaust mit.
Besser wurde die
jovial-biedere Bosheit eines
Profiteurs selten skizziert
Ulrich Alexander Boschwitz.
Foto: Leo Baeck Institute, New York
„Für einen Juden ist eben das ganze Reich zu einem Konzentrationslager geworden.“ Berliner Straßenszene nach den Pogromen 1938.
Foto: SZ Photo
Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende. Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
304 Seiten, 20 Euro.
E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Wiederentdeckung eines großen Exilromans: Ulrich Alexander Boschwitz
erzählt in „Der Reisende“ von Deutschland nach den Novemberpogromen 1938
VON ALEX RÜHLE
Mehrere Wochen lang war alles gutgegangen, die Überfahrt der M. V. Abosso von Australien nach England hätte nur noch wenige Tage gedauert, Ulrich Alexander Boschwitz konnte die Ankunft in London kaum erwarten, er wollte, sobald er zurück war, seinen Roman „Der Reisende“ überarbeiten. Vor der Abfahrt aus Sydney hatte er seiner Mutter geschrieben, er glaube fest daran, dass in diesem Buch etwas stecke, „was es zu einem Erfolg machen könnte“. Diese zweite Fassung konnte aber leider nie erscheinen, die M. V. Abosso wurde am 29. Oktober 1942 von einem deutschen U-Boot torpediert und versenkt. 362 Passagiere ertranken, unter ihnen Ulrich Alexander Boschwitz, der gerade mal 27 Jahre alt war und bald vergessen wurde, so wie sein schmales Werk.
Nur eine Nichte in Israel wusste noch, dass „Der Reisende“ als Typoskript überlebt haben musste. Dieser Frau, Reuella Shachaf, ist es mit zu verdanken, dass dieser Roman nun erstmals auf Deutsch erscheint. Shachaf wies den Berliner Verleger und leidenschaftlichen Texthunter Peter Graf darauf hin, was da für ein vergessener Schatz im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt schlummert. Graf hat ihn geborgen und vorsichtig lektoriert. Man kann hoffen, dass der von Boschwitz ersehnte Erfolg dem Buch nun, 76 Jahre später, doch noch beschieden wird, schließt „Der Reisende“ doch, ganz nüchtern gesprochen, eine literaturgeschichtliche Lücke: Es gab bislang keinen Roman, der in der Zeit direkt nach den Novemberpogromen von 1938 angesiedelt ist.
Der Text, der nur wenige Tage umfasst und zu großen Teilen in Zügen spielt, wurde in einem Zug geschrieben, in knapp vier Wochen, und diese schöpferische Hast fällt zusammen mit dem Thema der Hetze, das diesem Buch ein derart gnadenloses Tempo verleiht, dass man beim Lesen seelisches Seitenstechen bekommt. Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann wird von der ersten Seite an gejagt. Nicht als Person, ach woher denn, Sie sind ja anders, Sie gehören zu uns, solche Sätze kriegt er immer wieder zu hören.
Silbermanns tragischer Fehler war es, das bis zu diesem Moment selbst geglaubt zu haben. Er hat im Ersten Weltkrieg als Soldat gekämpft, wurde mit dem Eisernen Kreuz dekoriert, mit seiner Frau gehörte er zum Berliner Bürgertum. Was soll ihm da passieren? Auf der ersten Seite des Romans aber klopft die SA-Meute an seiner Tür und er weiß instinktiv, dass er fliehen muss. Der Rest ist Odyssee und Untergang.
„Der Reisende“ ist in mehrerlei Hinsicht ein Wunder. Wie kann man nur in derart rasendem Tempo einen derart dichten Roman schreiben? Und wie kann man nur aus der Ferne des Exils so genau wissen, wie diabolisch genau diese Pogrome von der NS-Regierung in Szene gesetzt und als Bereicherungsexzess instrumentalisiert wurden? Direkt im Anschluss, am 12. November, fand in Berlin die „Besprechung über die Judenfrage“ statt, bei der der endgültige Ausschluss der Juden aus dem beruflichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben beschlossen wurde. Als „Buße“ für die entstandenen Sachschäden hatten die Juden eine Milliarde Reichsmark zu zahlen, durften aber keine Staatsanleihen mehr verkaufen, sondern waren gezwungen, diese „Sühneleistung“ durch den Verkauf von Immobilien, Schmuck oder Sparguthaben aufzubringen. Nach der systematischen Entrechtung begann so die systematische Enteignung und Verfolgung.
All das steht in den Geschichtsbüchern. Ulrich Alexander Boschwitz zeigt all dies an einem einzelnen Menschen, seinem gehetzten Protagonisten, der gleich merkt, dass es ab sofort keinen Ort mehr gibt, an dem er sich sicher fühlen könnte. Wenn die Regierung Wohnungen mit Hilfe lange vorher erstellter Listen zerstören lässt und das Plündern, Brandschatzen, Morden gutheißt – wo soll man sich dann noch verstecken. Als er fürs Erste in einem Hotel absteigen will, begleitet ihn statt des Portiers ein Kellner auf sein Zimmer. „,Haben Sie Ihren Portier abgeschafft‘, erkundigte sich Silbermann im Aufwärtsgleiten. ,Der ist heute Nachmittag verhaftet worden. Der war doch ein Jude.‘“ Der war doch ein Jude – mehr braucht es ab sofort nicht mehr, um spurlos zu verschwinden. Silbermann, gerade erst angekommen, verlässt das Hotel sofort wieder und begibt sich auf eine Kreuz- und Querfahrt durchs Reich, halb in der Hoffnung, doch noch einen rettenden Ort zu finden, halb in dem Wissen, dass man in Bewegung weniger leicht zu orten ist. Boschwitz lässt Silbermann dabei schon recht früh einen grausam prophetischen Satz sagen: „Für einen Juden ist eben das ganze Reich zu einem Konzentrationslager geworden.“
Man vermutet bei einem derart schnell entstandenen Text schablonenhafte Figuren, gute Juden, schlimme Arier. Stattdessen ist der Roman bevölkert von ambivalenten Charakteren, hier wie dort. Silbermann selbst ist immer wieder arrogant und ungehalten. Sein Geschäftsfreund Fritz Stein sagt ihm einmal, er sehe „so arisch aus. Vor Ihnen haben die Leute keine Angst, vor mir schon. Man meidet mich wie einen Pestkranken.“ Nicht genug, dass Stein sich selbst unter rassischen Gesichtspunkten beschreibt, Silbermann wird in diesem Moment auch zum Verräter, schüttelt er Stein doch möglichst schnell ab, um keine Probleme zu bekommen.
Eine der gemeinsten Figuren ist Gustav Becker, einst Silbermanns Prokurist. Der hat ihn zum Sozius gemacht, um so der Enteignung zuvorzukommen und einen Teil seines Geldes zu retten. Jetzt nutzt Becker seine Machtposition aus, speist Silbermann mit einem lächerlich geringen Betrag ab und verkleidet diesen Raub als Gnadenakt, schließlich habe man 1915 ja gemeinsam an der Front gekämpft. Besser wurde die jovial-biedere Bosheit eines Profiteurs selten skizziert. Durch diesen triefend klebrigen Becker ahnt man zum einen, warum die Nazis Kitsch, die rührselige Version von Kunst, so gerne hatten. Vor allem aber ist Becker eine Allegorie auf den diabolischen Pakt, den die NS-Regierung mit der deutschen Bevölkerung einging: Wir organisieren die Vernichtung, ihr profitiert davon, wer sollte sich da beschweren?
Nach den Pogromen blieb den Juden nur noch die Flucht ins Ausland, was wiederum zur Folge hatte, dass die Nachbarländer die Grenzen dichtmachten. Silbermann versucht am Ende seiner panischen Reise, nach Belgien zu entkommen, wird aber in einem Wald von zwei Grenzern erwischt. „Es können ja nicht alle zu uns kommen“, erklären sie ihm neutral und schicken ihn zurück.
Als letzte Hoffnung bleibt nur ein Sohn, der in Paris sitzt und dort versucht, Papiere für die Eltern zu bekommen. Man bekommt dessen Bemühungen nicht mit, sondern nur die ungehaltene Wut des Vaters, der glaubt, sein Sohn kümmere sich einfach nicht richtig. Durch den Telefonhörer aber erahnt man, welche Hilfslosigkeitsqualen dieser Sohn durchleidet.
Ulrich Alexander Boschwitz hat 1938 selbst vergeblich versucht, von Paris aus Verwandte aus Deutschland herauszuholen. Als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, der 1915 an der Front gefallen war, ist er zusammen mit seiner Mutter, die einer Lübecker Senatorenfamilie entstammte, nach der Verkündung der Nürnberger Rassegesetze, die ihn zu einem Paria machten, nach London emigriert. 1937 veröffentlichte er einen ersten Roman, der sich so gut verkaufte, dass er von den Einnahmen nach Paris gehen konnte, um an der Sorbonne zu studieren. Direkt nach den Novemberpogromen setzte er sich hin und begann die Niederschrift von „Der Reisende“. Zu Kriegsbeginn floh er nach England, wurde als Deutscher interniert und für drei Jahre nach Australien deportiert.
„Der Reisende“ endet mit der Festnahme Silbermanns. In der Schlussszene sieht man ihn in einer Gefängniszelle, die er sich mit einem Mann teilen muss, der auf seine Zwangssterilisierung wartet und gegen Juden hetzt. Silbermann, endgültig zur Strecke gebracht, legt sich auf seine Pritsche und zieht den Wahnsinn wie eine schützende Decke über sich: „Um sieben Uhr geht ein Zug nach Aachen, um acht einer nach Hamburg, um zehn einer nach Dresden ...“. Seine letzten beiden Halbsätze – „Es gibt so viel Züge ... so unendlich viel Züge.“ – haben für den heutigen Leser eine abgründige Konnotation, schwingt in der letzten Rettungshoffnung des Todgeweihten doch der wenig später beginnende Holocaust mit.
Besser wurde die
jovial-biedere Bosheit eines
Profiteurs selten skizziert
Ulrich Alexander Boschwitz.
Foto: Leo Baeck Institute, New York
„Für einen Juden ist eben das ganze Reich zu einem Konzentrationslager geworden.“ Berliner Straßenszene nach den Pogromen 1938.
Foto: SZ Photo
Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende. Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
304 Seiten, 20 Euro.
E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Mit seinem Roman über die Novemberrevolution von 1938 lässt Ulrich Alexander Boschwitz selbst Anna Seghers oder Arnold Zweig weit hinter sich, findet Rezensent Tilman Krause, der selten ein derart eindringliches Dokument über die Lebenswirklichkeit eines verfolgten Juden gelesen hat. Höchste Zeit also, den 1939 in London und nun erstmals auf Deutsch erschienenen Roman zu lesen, fährt der Kritiker fort, der hier dem Schicksal von Otto Silbermann folgt, einem jüdischen Geschäftsmann, der erst seine soziale Existenz und schließlich den Verstand verliert. Der Autor kennt die Psychoanalyse, beherrscht die Neue Sachlichkeit und hat Sinn für das Absurde, lobt Krause. Vor allem aber staunt er, wie hier Hoffnung, Verzweiflung, herzzerreißende Momente und "makabrer Zynismus" Hand in Hand gehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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