»Der eine gab als Samenkorn, aus dem alles hervorschießen und hervorblühen sollte, den Sturz eines Dachdeckers vom Turme herab an, der den Hals bricht. In demselben Augenblick gebärt seine Frau vor Schreck drei Knaben. Das Schicksal dieser Drillinge, sich in Wuchs, Stellung, Gesicht u.s.w. völlig gleich, sollte im Roman verhandelt werden.« E.T.A. Hoffmann Der »Roman des Freiherrn von Vieren« ist das Gemeinschaftswerk einer Dichtergruppe um E.T.A. Hoffmann, Adelbert von Chamisso, Karl Wilhelm Salice-Contessa und Friedrich de la Motte Fouqué. 1815 begonnen und Fragment geblieben, erzählt dieses amüsant-romantische Experiment die Geschichte des Malers Georg Haberland, der wie seine beiden Doppelgänger auf der Suche nach der idealen Mädchengestalt ist. Ein paar Jahre später veröffentlichte E.T.A. Hoffmann das von ihm zurückgezogene fünfte Kapitel des Viererromans als umgearbeitete eigenständige Erzählung »Die Doppeltgänger« und Karl Wilhelm Salice-Contessa seine Erzählung »Das Bild der Mutter«, die beide hier in ihrer ursprünglichen Fassung mit abgedruckt werden. Das Buch versammelt damit die Zeugnisse des Seraphinenordens, der nach seiner Neugründung 1818 als Serapions-Brüderschaft weltberühmt wurde. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Markus Bernauer.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2017Ein Raubmord war das jedenfalls nicht
Wenn der eine Autor die Figur des anderen ersticht: Vier Romantiker schreiben einen gemeinsamen Roman
Eben noch hatte der alte Herr den jungen Fremden beiseite genommen und angekündigt, demnächst ein großes Geheimnis lüften zu wollen. Nun liegt der Greis "lang und starr unverändert" und völlig angezogen am Boden, den Kopf am Fenster, "die Füße gegen die Tür gekehrt. Seine rechte Hand lag flach auf seiner linken Brust angedrückt."
Die herbeigeeilten Diener, die Verwandten des Toten und der junge Fremde sind zwar schockiert, nehmen aber sofort die Ermittlungen auf: "Bei schärferer Beobachtung zeigten sich unter dieser Hand sieben Wunden, die ein dünner dreischneidiger Dolch sechs Zoll tief sicher durch das Herz gebohrt hatte. Das Werkzeug der Tat fand sich nicht vor. Nichts war im Zimmer angerührt. Eduard fand die Summe des frei auf dem Tische aufgezählten Goldes unangetastet, die goldene Uhr lag dabei und am Finger des Toten funkelte sein Brillantenring."
Ein Raubmord scheidet also aus, die sieben so sicher ausgeführten Stiche deuten dagegen auf einen professionellen Killer hin. Dann kommt der Arzt hinzu, der die exakte Todesursache untersucht. Und die genretypischen Worte spricht: "Jeder einzelne Stoß hätte hingereicht, ihn zu töten."
Das klingt wie ein solider Kriminalroman, und zieht man die Entstehungszeit des Textes hinzu, das Jahr 1815, dann meint man sogar, einen wahren Pionier dieser Gattung vor sich zu haben. Da sind zwar zum einen die zeittypischen Zutaten, allen voran die fast schon parodistisch eingesetzten geraubten und vertauschten Kinder, der gern aufflackernde Wahnsinn einzelner Gestalten oder auch das Dekor zwischen altem Gemäuer und der Bühne eines Wandertheaters. Zum anderen aber ist da der ermittelnde Zugriff, an dem der Leser ebenso beteiligt ist wie der junge Georg, der unvermutet an einem Junisonntag des Jahres 1812 in all das hineingerät und sich redlich müht, den Nebel zu lichten.
Der Mord am alten Amadeus Schwendy aber ist bis heute nicht aufgeklärt, und so kann auch von Sühne keine Rede sein. Das liegt an der Entstehungsgeschichte des Manuskripts: Es ist das Gemeinschaftswerk einiger Berliner Autoren, die im Herbst 1814 in der Wohnung E. T. A. Hoffmanns den "Seraphinen-Orden" gründeten (lose verbunden, aber nicht zu verwechseln mit den Serapionsbrüdern) und im Januar des Folgejahres beschlossen, zu viert einen Roman zu schreiben. Außer Hoffmann waren das der "Peter Schlemihl"-Dichter und Botaniker Adelbert von Chamisso, Hoffmanns Verleger Julius Eduard Hitzig und Karl Wilhelm Salice-Contessa, ein Bewunderer und Nacheiferer Hoffmanns.
Hitzig schied bald aus, an seine Stelle trat Friedrich de la Motte Fouqué, der 1811 das Kunstmärchen "Undine" veröffentlicht hatte. Im Frühjahr 1815 müssen bereits einige Kapitel fertig gewesen sein, die offenbar von den einzelnen Autoren dem Manuskript hinzugefügt und dann zum nächsten Beiträger weitergereicht wurden. Contessa machte den Anfang und blieb bis zum Schluss der fleißigste unter den Autoren, während das einzige Kapitel E. T. A. Hoffmanns heute im Manuskript fehlt. Chamisso aber brach im Sommer 1815 zu seiner Weltreise auf und fiel so als Autor des Gemeinschaftswerks aus. Die drei übrigen muss dann irgendwann im Herbst die Lust verlassen haben, zu einer Auflösung der Handlung ist es nie gekommen.
Im Rückblick seines Romans "Die Serapionsbrüder" lässt Hoffmann eine Figur die Schwierigkeiten resümieren, die mit dem Projekt verbunden waren und klar aus dem Eigensinn der Beteiligten resultieren. Es habe zwar einen groben Plan für die Handlung um eine Theatertruppe gegeben sowie eine Exposition, aus der alles kommende zwingend hervorgehen sollte - eigentlich: "Hieran mussten sich alle halten. Stattdessen erschlug der erste im zweiten Kapitel die wichtigste Person, die der zweite eingeführt, so dass sie wirkungslos ausschied" - bei dem Mörder handelt es sich offenbar um Chamisso, bei dem Opfer um den alten Amadeus -, "der dritte schickte die Schauspieler-Gesellschaft nach Polen und der vierte ließ eine wahnsinnige Hexe mit einem weissagenden Raben auftreten und erregte Grauen ohne Not, ohne Beziehung. Das Ganze blieb liegen."
Erst 1926, mehr als hundert Jahre nach der Entstehung des Manuskripts, wurde es von Helmuth Rogge unter dem Titel "Der Doppelroman der Berliner Romantik" publiziert - gemeinsam mit einem 1808 entstandenen, ganz ähnlichen Gemeinschaftswerk von allerdings viel geringerem literarischen Reiz. Nun, weitere neunzig Jahre später, legt der Berliner Literaturwissenschaftler Markus Bernauer eine weitere Edition des Textes vor, ergänzt um zwei später entstandene Novellen aus dem Kreis der Autoren: Contessas "Das Bild der Mutter" und Hoffmanns "Der Doppeltgänger", diejenigen Texte also, die auf die Beiträge der Autoren für das Sammelwerk zurückgehen - mag sein, dass sich Contessas Elan vom gemeinsamen Roman ab- und dem eigenen Werk zuwandte, bei dessen Abfassung er nicht auf saumselige Beiträger warten musste.
Außerdem enthält die Neuedition ein vorzügliches Nachwort, das die verworrene Genese ebenso nachzeichnet wie es auf die Lücken hinweist, die dadurch im Text entstanden sind. Denn während Contessa die Handschrift nutzte, um sein "Bild der Mutter" zu schreiben, sie aber intakt ließ, entnahm Hoffmann sein Kapitel, um eilig den "Doppeltgänger" zu schreiben, und gab es nicht zurück.
Immerhin: Einen Wohnungsbrand in Chamissos Unterkunft überstand das Konvolut nachweislich und nur leicht versehrt, es muss also, unvollendet wie es war, zu dem Weltreisenden gelangt sein, als er nach Europa zurückgekehrt und in Berlin wieder heimisch geworden war. Und so ist es ein ebenso schöner wie müßiger Gedanke: Was, wenn Chamisso den Faden damals wieder aufgenommen hätte?
TILMAN SPRECKELSEN.
Adelbert v. Chamisso, E. T. A. Hoffmann, Friedrich de la Motte Fouqué, Karl Salice-Contessa: "Der Roman des Freiherrn von Vieren."
Hrsg. v. Markus Bernauer.
Ripperberger & Kremers, Berlin 2016. 224 S., br., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn der eine Autor die Figur des anderen ersticht: Vier Romantiker schreiben einen gemeinsamen Roman
Eben noch hatte der alte Herr den jungen Fremden beiseite genommen und angekündigt, demnächst ein großes Geheimnis lüften zu wollen. Nun liegt der Greis "lang und starr unverändert" und völlig angezogen am Boden, den Kopf am Fenster, "die Füße gegen die Tür gekehrt. Seine rechte Hand lag flach auf seiner linken Brust angedrückt."
Die herbeigeeilten Diener, die Verwandten des Toten und der junge Fremde sind zwar schockiert, nehmen aber sofort die Ermittlungen auf: "Bei schärferer Beobachtung zeigten sich unter dieser Hand sieben Wunden, die ein dünner dreischneidiger Dolch sechs Zoll tief sicher durch das Herz gebohrt hatte. Das Werkzeug der Tat fand sich nicht vor. Nichts war im Zimmer angerührt. Eduard fand die Summe des frei auf dem Tische aufgezählten Goldes unangetastet, die goldene Uhr lag dabei und am Finger des Toten funkelte sein Brillantenring."
Ein Raubmord scheidet also aus, die sieben so sicher ausgeführten Stiche deuten dagegen auf einen professionellen Killer hin. Dann kommt der Arzt hinzu, der die exakte Todesursache untersucht. Und die genretypischen Worte spricht: "Jeder einzelne Stoß hätte hingereicht, ihn zu töten."
Das klingt wie ein solider Kriminalroman, und zieht man die Entstehungszeit des Textes hinzu, das Jahr 1815, dann meint man sogar, einen wahren Pionier dieser Gattung vor sich zu haben. Da sind zwar zum einen die zeittypischen Zutaten, allen voran die fast schon parodistisch eingesetzten geraubten und vertauschten Kinder, der gern aufflackernde Wahnsinn einzelner Gestalten oder auch das Dekor zwischen altem Gemäuer und der Bühne eines Wandertheaters. Zum anderen aber ist da der ermittelnde Zugriff, an dem der Leser ebenso beteiligt ist wie der junge Georg, der unvermutet an einem Junisonntag des Jahres 1812 in all das hineingerät und sich redlich müht, den Nebel zu lichten.
Der Mord am alten Amadeus Schwendy aber ist bis heute nicht aufgeklärt, und so kann auch von Sühne keine Rede sein. Das liegt an der Entstehungsgeschichte des Manuskripts: Es ist das Gemeinschaftswerk einiger Berliner Autoren, die im Herbst 1814 in der Wohnung E. T. A. Hoffmanns den "Seraphinen-Orden" gründeten (lose verbunden, aber nicht zu verwechseln mit den Serapionsbrüdern) und im Januar des Folgejahres beschlossen, zu viert einen Roman zu schreiben. Außer Hoffmann waren das der "Peter Schlemihl"-Dichter und Botaniker Adelbert von Chamisso, Hoffmanns Verleger Julius Eduard Hitzig und Karl Wilhelm Salice-Contessa, ein Bewunderer und Nacheiferer Hoffmanns.
Hitzig schied bald aus, an seine Stelle trat Friedrich de la Motte Fouqué, der 1811 das Kunstmärchen "Undine" veröffentlicht hatte. Im Frühjahr 1815 müssen bereits einige Kapitel fertig gewesen sein, die offenbar von den einzelnen Autoren dem Manuskript hinzugefügt und dann zum nächsten Beiträger weitergereicht wurden. Contessa machte den Anfang und blieb bis zum Schluss der fleißigste unter den Autoren, während das einzige Kapitel E. T. A. Hoffmanns heute im Manuskript fehlt. Chamisso aber brach im Sommer 1815 zu seiner Weltreise auf und fiel so als Autor des Gemeinschaftswerks aus. Die drei übrigen muss dann irgendwann im Herbst die Lust verlassen haben, zu einer Auflösung der Handlung ist es nie gekommen.
Im Rückblick seines Romans "Die Serapionsbrüder" lässt Hoffmann eine Figur die Schwierigkeiten resümieren, die mit dem Projekt verbunden waren und klar aus dem Eigensinn der Beteiligten resultieren. Es habe zwar einen groben Plan für die Handlung um eine Theatertruppe gegeben sowie eine Exposition, aus der alles kommende zwingend hervorgehen sollte - eigentlich: "Hieran mussten sich alle halten. Stattdessen erschlug der erste im zweiten Kapitel die wichtigste Person, die der zweite eingeführt, so dass sie wirkungslos ausschied" - bei dem Mörder handelt es sich offenbar um Chamisso, bei dem Opfer um den alten Amadeus -, "der dritte schickte die Schauspieler-Gesellschaft nach Polen und der vierte ließ eine wahnsinnige Hexe mit einem weissagenden Raben auftreten und erregte Grauen ohne Not, ohne Beziehung. Das Ganze blieb liegen."
Erst 1926, mehr als hundert Jahre nach der Entstehung des Manuskripts, wurde es von Helmuth Rogge unter dem Titel "Der Doppelroman der Berliner Romantik" publiziert - gemeinsam mit einem 1808 entstandenen, ganz ähnlichen Gemeinschaftswerk von allerdings viel geringerem literarischen Reiz. Nun, weitere neunzig Jahre später, legt der Berliner Literaturwissenschaftler Markus Bernauer eine weitere Edition des Textes vor, ergänzt um zwei später entstandene Novellen aus dem Kreis der Autoren: Contessas "Das Bild der Mutter" und Hoffmanns "Der Doppeltgänger", diejenigen Texte also, die auf die Beiträge der Autoren für das Sammelwerk zurückgehen - mag sein, dass sich Contessas Elan vom gemeinsamen Roman ab- und dem eigenen Werk zuwandte, bei dessen Abfassung er nicht auf saumselige Beiträger warten musste.
Außerdem enthält die Neuedition ein vorzügliches Nachwort, das die verworrene Genese ebenso nachzeichnet wie es auf die Lücken hinweist, die dadurch im Text entstanden sind. Denn während Contessa die Handschrift nutzte, um sein "Bild der Mutter" zu schreiben, sie aber intakt ließ, entnahm Hoffmann sein Kapitel, um eilig den "Doppeltgänger" zu schreiben, und gab es nicht zurück.
Immerhin: Einen Wohnungsbrand in Chamissos Unterkunft überstand das Konvolut nachweislich und nur leicht versehrt, es muss also, unvollendet wie es war, zu dem Weltreisenden gelangt sein, als er nach Europa zurückgekehrt und in Berlin wieder heimisch geworden war. Und so ist es ein ebenso schöner wie müßiger Gedanke: Was, wenn Chamisso den Faden damals wieder aufgenommen hätte?
TILMAN SPRECKELSEN.
Adelbert v. Chamisso, E. T. A. Hoffmann, Friedrich de la Motte Fouqué, Karl Salice-Contessa: "Der Roman des Freiherrn von Vieren."
Hrsg. v. Markus Bernauer.
Ripperberger & Kremers, Berlin 2016. 224 S., br., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main