Produktdetails
  • Verlag: Kiepenheuer
  • Seitenzahl: 255
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 402g
  • ISBN-13: 9783378006249
  • ISBN-10: 3378006242
  • Artikelnr.: 24388470
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2000

Neue Ansichten eines Clowns
Fritz Rudolf Fries sucht Zuflucht im Roncalli-Effekt

In völliger Muße und Zurückgezogenheit wie weiland Felix Krull schreibt August Augustin, kein Hochstapler, aber, bis zur Wende, Clown beim "Staatscircus" der DDR, seine Erinnerungen. Er tut es nicht ganz freiwillig, nämlich in italienischer Untersuchungshaft. Draußen weiß er Venedig und das Licht der Lagune. Immerhin ist seine Zelle keine Bleikammer, und die klösterliche Einschränkung wird ihm durch mancherlei Vergünstigungen erträglich.

So nutzt er die Zeit von März bis gegen Weihnachten zu seinen Bekenntnissen, die er zwar an die Signori von der Justiz adressiert, aber nicht als Geständnisse verstanden wissen will. Er hat sich nichts vorzuwerfen, was die italienische Justiz interessieren könnte; und das, was sein Gewissen wirklich plagt, die ungeklärte Sache mit dem Pistolenschuss, vertraut er seinen Aufzeichnungen an. Es ist vor allem die Beichte eines Künstlers. So zeigt August Augustin zwar Verständnis für juristischen Voyeurismus, bescheidet seine potentiellen Richter jedoch mit dem Satz: "Die Kunst, Signori, gibt preis, aber sie richtet nicht."

Fritz Rudolf Fries ist ein Meister diskreter Winke in eigener Sache. So auch in diesem neuen Roman "Der Roncalli-Effekt". Aber so heiter die Kunst, so ernst ist das Leben. Das nämlich hat sich herausgenommen, ein paar Parallelen zur Kunst bereitzuhalten. Somit sieht sich der Autor zu einer salvatorischen Nachbemerkung veranlasst. Der Roman, heißt es da, verfüge über Freiräume, "die allein dem Autor gehören und die parallel zur Zeitgeschichte entstehen". Fries betont, jede Ähnlichkeit mit dem historischen "Staatscircus" der DDR sei rein zufällig und nicht beabsichtigt. Natürlich weiß er als Profi, dass solche Dementis den Leser nicht davon abhalten, nach der Wirklichkeit hinter aller Fiktion zu suchen.

Fries will ihn auch nicht im Ernst daran hindern. Im Gegenteil. Aber er hat seinen Roman so angelegt, dass das Wechselspiel von Fiktion und Realität, Verhüllung und Selbstpreisgabe zum artistischen Effekt gehört. Sein Staats- und Kriminalroman "Die Nonnen von Bratislawa" (1994) war noch deutlich unfreier und las sich unter anderem als die Rechtfertigung des IM Pedro Hagen durch den Autor Fries. Die Circus-Metapher dagegen bringt von vornherein genügend Levitation: "Aber ich frage Sie, Signori, kann ein Clown in nur einer Wahrheit leben?" Sein Clown nimmt sich die Freiheit, den Circus als Gesellschaft im Kleinen zu verstehen und den Staat lediglich als "Chapiteau".

Zumindest ihm als seinem Protagonisten räumt der Autor eine natürliche Distanz zur DDR ein: eine Verlängerung jenes Abstands, den der in Spanien geborene, aber schon als Kind nach Deutschland gelangte Autor selbst nicht in Anspruch nehmen kann. Der Clown August Augustin, Sohn einer italienischen Mutter, gibt seinem Botschafter bei der Aushändigung des italienischen Passes auf die Frage, warum er "in dieser Deutschen Demokratischen Republik" lebe, die einzige Antwort, die einen Italiener befriedigen konnte: "Es ist die Liebe, Exzellenz, die mich festhält." Ob diese Auskunft auch uns befriedigt, diese Frage gibt dem Roman seine innere Spannung.

Dass Fries für die äußere Spannung sorgt, versteht sich von selbst. Auch den Leser hält die Liebe fest: die Liebe des Protagonisten zu den Frauen und zum Circus. Dass Augustin ausgerechnet am Tag des Mauerbaus seine schwangere Freundin Anne heiratet, ist keine politische, sondern eine clowneske Pointe: Eine Sondergenehmigung öffnet ihm das Standesamt an diesem 13. August, der ein Sonntag war. Seine Ehe mit Anne oder Zanetta, wie er sie nennt, scheitert. Aber sie führt zur Adoption dreier Kinder, deren Entwicklungspotential in den nächsten Roman von Fries hineinreichen könnte.

Von den Frauen, an denen es nicht fehlt, ist Augusts Geliebte, die Raubtierdompteuse Clarisse, die entscheidende, zumindest folgenreichste, nämlich durch ihren Tod: In der Nummer mit dem Tiger Prinz Ali fällt ein tödlicher Schuss. Hat jemand die Schreckschusspistole des dummen August gegen eine richtige ausgetauscht? Oder hat jemand anderer vom Rand der Manege her geschossen? Fragen, die August zur Erkenntnis komprimiert: "Das Komische und das Schreckliche, ein Paar."

Ein Satz, der in die Ästhetik des Circus führt und ins Zentrum des Romans. In ihm geht es tatsächlich und hauptsächlich um das, was sein Titel verspricht: um den "Roncalli-Effekt". Dieser hat ebenso viel oder so wenig mit dem realexistierenden Circus zu tun wie mit der Papstfamilie gleichen Namens. Er wird uns vorgeschlagen als ein Effekt, den Circus und das Leben zu verbessern - als Utopie also. In einigen Passagen wird ein Circus neuen Typs imaginiert, eine Synthese aus Jean Genet und Fellini: "Es war der Circus, den die befreite Klasse verdient hatte, ein künstliches Paradies, erdacht und gestaltet von den feinsten Köpfen der Epoche, sensible Anmut, gepaart mit atemberaubender Präzision." Doch die Realität hebt das Phantasma ironisch auf.

Die anwesenden Schriftsteller, so heißt es da, schienen sich zu langweilen. Retard aber, der aus früheren Büchern bekannte kleine Doktor, der auch im neuen Roman das Alter Ego des Autors spielen darf: Retard "putzte sich seine Brillengläser mit einem riesigen Taschentuch, während er die Augen wie im Schmerz zudrückte". Man darf diese Geste als eine des Autors selbst lesen. Auch wohl als Kritik an seiner Literatur, die sich nicht aufs Clowneske, Circensische, Picareske einließ. Im Gespräch mit seinem Anwalt Tedeschi, dessen Name uns an Mateo Alemán alias Matthäus Teutsch erinnern soll, ergreift der rote Clown noch einmal trotzig sein Panier: "Clownspower! sagte ich. Wir tragen, wie einst Atlas, die Säulen der Welt."

Wie immer es mit dieser "Clownspower" bestellt sein mag, der August Augustin nostalgisch nachhängt - der Romantiker Fritz Rudolf Fries gibt nicht auf. Genügend Handlungsfäden hängen vom Schnürboden seiner epischen Commedia dell'arte herab. Noch zum Schluss betritt eine neue Frauenfigur die Szene. Und dem Sohn Renzo, der ihm vorhält, niemand interessiere sich für die Geschichten eines alten Clowns, entgegnet unser Don Buffo: "Wir können einen neuen Clown zeigen, sagte ich." Wir werden sehen.

HARALD HARTUNG

Fritz Rudolf Fries: "Der Roncalli-Effekt". Roman. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999. 255 S., geb., 34,- DM.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2000

August Augustins
Rolle vorwärts
Fries-Roman ist Buch des Monats
Der jüngste Roman von Fritz Rudolf Fries, Der Roncalli-Effekt, ist von der Darmstädter Jury im Januar zum Buch des Monats gewählt worden. Fries erzählt darin die an komischen und tragischen Nummern reiche Lebens- und Karrieregeschichte August Augustins, seines Zeichens Clown im Staatszirkus der DDR; und wer will, kann den Roman auch als eine Art Spiegelgeschichte seines Autors lesen. Der Roncalli-Effekt ist im Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig, erschienen (240 Seiten, 34 Mark).
SZ
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