Eines Tages stößt Yves Bonnefoy in seinen Papieren auf ein unvollendetes Gedicht-Manuskript, "Der rote Schal". Er beschließt, es zu vernichten. Doch jetzt, ein halbes Jahrhundert nach der Niederschrift, entdeckt er in diesem Gedicht verschüttete Erinnerungen: an die ländlichen Orte seiner Kindheit, Vater und Mutter, an den "Roten Sand", den Abenteuerroman aus einer geheimnisvollen Wüste, an "La Révolution la nuit, das berühmte Bild von Max Ernst. Er will herausfinden, was ihn angetrieben hat sein ganzes langes Leben. Daher kommt die Dringlichkeit im letzten Buch des über Neunzigjährigen: "Es ist Zeit, jetzt, höchste Zeit, dass ich mir die wirklichen Fragen stelle." Entstanden ist ein großes Buch über das Schreiben und eine der schönsten Kindheitsgeschichten der französischen Literatur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2019Wie er zum Dichter wurde
Punktlandung: Yves Bonnefoys letzter Essay
Alterswerke stehen mitunter zu Recht unter Verdacht: der Wiederholung, der wohlfeilen Nostalgie oder gar der schlüpfrigen Phantasie. Dass man die verstrichenen Jahre produktiv nutzen kann, zeigt "Der rote Schal" von Yves Bonnefoy (1923 bis 2016). Vermutlich niemand anders hat seinen letzten Essay je so punktgenau gesetzt: Es braucht ein OEuvre, gebaut auf der Überzeugung, "dass nur die Erfahrung der gelebten Zeit dem Wort sein Leben zurückgeben kann", um im letzten Text so überzeugend die Summe ziehen zu können. Anders gesagt: Bonnefoy benötigt satte neunzig Jahre Lebenszeitraum, um das Lot tief genug senken zu können. Nun aber ist Eile geboten: "Jetzt ist es Zeit, höchste Zeit, dass ich mir die wirklichen Fragen stelle." Dringlichkeit und Gelassenheit werden kunstvoll in Balance gesetzt.
"Der rote Schal" ist ein Kommentar: Im Sommer 2015 findet Bonnefoy ein Fragment dieses Titels in seinem alten Schreibtisch wieder. Das Möbel selbst hat eine Geschichte: Der Großvater mütterlicherseits hatte es gebaut und zum Zeugen bescheidener literarischer Ambitionen gemacht. Das Fundstück nun ist eine "Idee für eine Erzählung" in Versform, dreiteilig, ungefähr hundert Zeilen lang. Bonnefoy hatte sie 1964 begonnen und nie vollenden können; der letzte Versuch datierte auf 2009. Dieses Mal versucht er es gar nicht erst: "Es ging nicht mehr darum, der in Schwebe gebliebenen Erzählung eine Fortsetzung zu geben, sondern darum, zu begreifen, was sie über mich sagte, auf den bereits geschriebenen Seiten."
Es folgt eine Reflexion auf Bonnefoys Leben, vor allem aufs Verhältnis zu seinen Eltern, die zugleich eine Reflexion auf Sprache ist - kurz, vom Fragment aus untersucht Bonnefoy seine Berufung zum Dichter, wie sie entstand, was sie bedeutet. Vorbereitet und ergänzt wird sein Nachdenken durch einen weiteren Text, "Zwei Szenen", und einen diese ebenfalls kommentierenden Essay von 2009. Radikal neu ist diese Form der Reflexion in seinem Werk nicht: Im zentralen Text "L'Arrière-pays" ("Das Hinterland", 1972) ging Bonnefoy bereits auf Kindheit und Familiengeschichte ein. Auch die für das poetische Werk zentralen Thesen, das Bedürfnis des Menschen nach einem Anderswo, einer Transzendenz, und seine Tendenz, sich in Trugbildern zu verlieren, wurden dort schon in Verknüpfung mit Autobiographischem durchdacht. "Der rote Schal" geht aber noch einen Schritt weiter: Er führt die Poetik auf das Reden und vor allem auf das Schweigen der Eltern zurück.
Zunächst zum Gedicht, das Bonnefoy 45 Jahre lang beschäftigt hat. Obwohl in der Mitte des Lebens begonnen, wählt es die Warte des alten Dichters: "Dieser Mann, alt schon. / Ich muss etwas Ordnung schaffen bei mir, nimmt er sich vor, / ich muss diese Taschenkalender aus meiner Jugend wegwerfen, / (...) und sogar diese Merkhefte." Was er dort jedoch entdeckt, sind Notizen - und Erinnerungen an "einen Mann, den er nur einmal traf", in Toulouse. Ebendieser trägt, "ausgebreitet von einer Schulter zur andern, einen roten Schal". Er schreibt diesem Mann, erhält Wochen später eine Antwort. Im zweiten Fragment bricht der Dichter auf, die Stimmung ist schaurig: "Ich empfand jene Angst, die aufkeimt durch einen Schritt, / den man hört in einem Haus, das man leer weiß." Auf der Zugfahrt schlagen "Vögel eines Augenblicks" gegen die Scheiben - eine Szene, die Bonnefoy überraschend mit dem Schluss von "Era in penser d'amor quand' i' trovai", einem Gedicht von Guido Cavalcanti (dem Florentiner Dichter des dolce stil nuovo), in Zusammenhang bringt. Im dritten Fragment klopft er in Toulouse an, eine Frau öffnet, erkennt ihn, teilt ihm aber mit, der Gesuchte sei verschwunden. Dieses Fragment endet mit einem Kampf zwischen Balin (ein Ritter des Artus-Stoffes) und seinem Bruder und "Doppelgänger".
Eine seltsame Mischung, irgendwo zwischen Mittelalter und Surrealismus, Schauerromantik und Metaphysik - mit Hitchcock-Einschlägen. Was aus dem Torso machen? Zunächst beeindruckt das Titel-Motiv, das sich von der Erinnerung, diesem "Negativ einer schlechten Photographie", abhebt: "Bei dieser Idee hatte mich von Anfang an die Wahrnehmung der Farbe Rot gefesselt, dort, wo nichts, wirklich nichts davon möglich ist, im dichten Schwarz-Weiß einer photographischen Platte: etwas Übernatürliches also, Zeichen einer Transzendenz." Bonnefoy ahnt, dass in dieser Urszene "meine poetische Berufung Gestalt angenommen hatte, aber auch in Gefahr geraten war auseinanderzubrechen". Daher sucht er zu verstehen, beginnt seine "Anamnese".
Die Methoden wechseln mit den Ebenen: Von einem quasi literaturwissenschaftlichen close reading ausgehend, entwickelt Bonnefoy in einer autobiographischen Erzählung Hintergründe und Bedeutungen, seziert diese psychoanalytisch, um schließlich nach dem Wesen der Dinge und der Sprache zu fragen. Die ontologisch-poetologische Ebene ist das Ziel; sie wird in einer Sprache der Eigentlichkeit entwickelt, die keine leichte Kost ist, trotz der sprachlichen Eleganz der Übersetzer und Literaturvermittler Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, die 2012 die Fackel der Bonnefoy-Übertragungen von Friedhelm Kemp übernommen haben und vorbildliche Arbeit leisten. Obwohl Bonnefoy sich früh von Platon distanziert ("Anti-Platon", 1947) und stets vehement gegen platonische Versuchungen angeschrieben hat, pflegt er ein metaphysisches Erbe: Dieses mag materialistisch gewendet sein, es bewegt sich in einer Denk- und Sprachdimension, für die man empfänglich sein muss.
Ist man es, dann gewährt Bonnefoy einem Augenblicke des Glücks, in denen Rhythmus und Erkenntnis zusammenklingen. Die Rückkehr in die Kindheit ist eine Voraussetzung, weil Bonnefoy eine ursprüngliche Sprache sucht, die aus Worten besteht, nicht aus Begriffen: Während die Ersteren die Dinge "auf natürliche Weise" bezeichnen und das Sein der Dinge ausdrücken, sind die Letzteren leere Abstrakta, "Abbilder". Geprägt wurde diese "Vorstellung von der Poesie" von seinen Eltern, Élie, dem Eisenbahn-Monteur, und Hélène, der Krankenschwester und Aushilfslehrerin. Sie bestimmten den Werdegang des späteren Dichters durch ihre unterschiedliche Art, zu schweigen: der Vater durch die Wortkargheit eines Handwerkerlebens im Exil, die Mutter durch eine lebhafte und fröhliche Art, die jedoch das Wesentliche ungesagt lässt. Und beide Elternteile durch ihre Unterhaltungen im okzitanischen "Patois", dem Dialekt ihrer Heimat, der dem Jungen unverständlich blieb.
Toulouse ist die Chiffre für diese geheimnisvolle, bedeutungsschwangere Sprache; die okzitanische Metropole stellt den Ort "der den Sprachen vorausgeht". In "Der rote Schal" wird erstmals die fundamentale Bedeutung dieser vertrauten Fremdsprache für Bonnefoys Werk entwickelt. Die Hinwendung zum zwölften und dreizehnten Jahrhundert - der Blütezeit Okzitaniens - wird ebenso schlüssig wie die zum benachbarten Italien, das die okzitanische Troubadour-Dichtung weiterentwickelte.
Der Sohn will "das geerbte Schweigen brechen". Der rote Schal dient als Leitfaden, den Bonnefoy entlanggeht: Er steht allem voran für ein "Mehr des Geistes", dann konkreter für die diversen Blutsbande in der Familie. Darüber hinaus stellt er die Überleitung zu kulturellen Prägungen wie Max Ernsts Gemälde "PIETÀ ou La Révolution la Nuit" (1923), das eine auffällig rote Hose zeigt und einer kurzlebigen, von Bonnefoy herausgegebenen Zeitschrift den Namen gab. Bonnefoy untersucht auch Einflüsse von Paul Valéry, André Breton, T. S. Eliot, Pierre Jean Jouve, Thomas Malory oder eben Cavalcanti. Überraschender ist die Bedeutung des Danae-Mythos, originell jene einer Kindererzählung oder einer exotischen Maske.
Bonnefoy arbeitet stets in zwei Richtungen: Einerseits will der Dichter eine Tiefenschicht der Sprache freilegen, andererseits sucht er dem Trug einer "Wirklichkeit mit stärkerem Sein" zu entkommen; konkret verweigert er sich dem nur poetischen Bild, sucht stattdessen den Rhythmus darunter. Nur angedeutet wird eine kommunikative Wende, wenn Bonnefoy am Ende die Selbstbefragung abschließt, um Interpreten die Hand auszustrecken: Die Einflüsse anderer Dichter benennt er, um einen "möglichen Austausch" zu befördern. Der wäre spannend gewesen; etwa zur Sprechersituation des Gedichts wäre einiges zu sagen und zu fragen. Die Deutung muss nun ohne den Dichter geschehen: "Der rote Schal" macht das schmerzlichst bewusst.
NIKLAS BENDER
Yves Bonnefoy: "Der rote Schal".
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Hanser Verlag, München 2018. 224 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Punktlandung: Yves Bonnefoys letzter Essay
Alterswerke stehen mitunter zu Recht unter Verdacht: der Wiederholung, der wohlfeilen Nostalgie oder gar der schlüpfrigen Phantasie. Dass man die verstrichenen Jahre produktiv nutzen kann, zeigt "Der rote Schal" von Yves Bonnefoy (1923 bis 2016). Vermutlich niemand anders hat seinen letzten Essay je so punktgenau gesetzt: Es braucht ein OEuvre, gebaut auf der Überzeugung, "dass nur die Erfahrung der gelebten Zeit dem Wort sein Leben zurückgeben kann", um im letzten Text so überzeugend die Summe ziehen zu können. Anders gesagt: Bonnefoy benötigt satte neunzig Jahre Lebenszeitraum, um das Lot tief genug senken zu können. Nun aber ist Eile geboten: "Jetzt ist es Zeit, höchste Zeit, dass ich mir die wirklichen Fragen stelle." Dringlichkeit und Gelassenheit werden kunstvoll in Balance gesetzt.
"Der rote Schal" ist ein Kommentar: Im Sommer 2015 findet Bonnefoy ein Fragment dieses Titels in seinem alten Schreibtisch wieder. Das Möbel selbst hat eine Geschichte: Der Großvater mütterlicherseits hatte es gebaut und zum Zeugen bescheidener literarischer Ambitionen gemacht. Das Fundstück nun ist eine "Idee für eine Erzählung" in Versform, dreiteilig, ungefähr hundert Zeilen lang. Bonnefoy hatte sie 1964 begonnen und nie vollenden können; der letzte Versuch datierte auf 2009. Dieses Mal versucht er es gar nicht erst: "Es ging nicht mehr darum, der in Schwebe gebliebenen Erzählung eine Fortsetzung zu geben, sondern darum, zu begreifen, was sie über mich sagte, auf den bereits geschriebenen Seiten."
Es folgt eine Reflexion auf Bonnefoys Leben, vor allem aufs Verhältnis zu seinen Eltern, die zugleich eine Reflexion auf Sprache ist - kurz, vom Fragment aus untersucht Bonnefoy seine Berufung zum Dichter, wie sie entstand, was sie bedeutet. Vorbereitet und ergänzt wird sein Nachdenken durch einen weiteren Text, "Zwei Szenen", und einen diese ebenfalls kommentierenden Essay von 2009. Radikal neu ist diese Form der Reflexion in seinem Werk nicht: Im zentralen Text "L'Arrière-pays" ("Das Hinterland", 1972) ging Bonnefoy bereits auf Kindheit und Familiengeschichte ein. Auch die für das poetische Werk zentralen Thesen, das Bedürfnis des Menschen nach einem Anderswo, einer Transzendenz, und seine Tendenz, sich in Trugbildern zu verlieren, wurden dort schon in Verknüpfung mit Autobiographischem durchdacht. "Der rote Schal" geht aber noch einen Schritt weiter: Er führt die Poetik auf das Reden und vor allem auf das Schweigen der Eltern zurück.
Zunächst zum Gedicht, das Bonnefoy 45 Jahre lang beschäftigt hat. Obwohl in der Mitte des Lebens begonnen, wählt es die Warte des alten Dichters: "Dieser Mann, alt schon. / Ich muss etwas Ordnung schaffen bei mir, nimmt er sich vor, / ich muss diese Taschenkalender aus meiner Jugend wegwerfen, / (...) und sogar diese Merkhefte." Was er dort jedoch entdeckt, sind Notizen - und Erinnerungen an "einen Mann, den er nur einmal traf", in Toulouse. Ebendieser trägt, "ausgebreitet von einer Schulter zur andern, einen roten Schal". Er schreibt diesem Mann, erhält Wochen später eine Antwort. Im zweiten Fragment bricht der Dichter auf, die Stimmung ist schaurig: "Ich empfand jene Angst, die aufkeimt durch einen Schritt, / den man hört in einem Haus, das man leer weiß." Auf der Zugfahrt schlagen "Vögel eines Augenblicks" gegen die Scheiben - eine Szene, die Bonnefoy überraschend mit dem Schluss von "Era in penser d'amor quand' i' trovai", einem Gedicht von Guido Cavalcanti (dem Florentiner Dichter des dolce stil nuovo), in Zusammenhang bringt. Im dritten Fragment klopft er in Toulouse an, eine Frau öffnet, erkennt ihn, teilt ihm aber mit, der Gesuchte sei verschwunden. Dieses Fragment endet mit einem Kampf zwischen Balin (ein Ritter des Artus-Stoffes) und seinem Bruder und "Doppelgänger".
Eine seltsame Mischung, irgendwo zwischen Mittelalter und Surrealismus, Schauerromantik und Metaphysik - mit Hitchcock-Einschlägen. Was aus dem Torso machen? Zunächst beeindruckt das Titel-Motiv, das sich von der Erinnerung, diesem "Negativ einer schlechten Photographie", abhebt: "Bei dieser Idee hatte mich von Anfang an die Wahrnehmung der Farbe Rot gefesselt, dort, wo nichts, wirklich nichts davon möglich ist, im dichten Schwarz-Weiß einer photographischen Platte: etwas Übernatürliches also, Zeichen einer Transzendenz." Bonnefoy ahnt, dass in dieser Urszene "meine poetische Berufung Gestalt angenommen hatte, aber auch in Gefahr geraten war auseinanderzubrechen". Daher sucht er zu verstehen, beginnt seine "Anamnese".
Die Methoden wechseln mit den Ebenen: Von einem quasi literaturwissenschaftlichen close reading ausgehend, entwickelt Bonnefoy in einer autobiographischen Erzählung Hintergründe und Bedeutungen, seziert diese psychoanalytisch, um schließlich nach dem Wesen der Dinge und der Sprache zu fragen. Die ontologisch-poetologische Ebene ist das Ziel; sie wird in einer Sprache der Eigentlichkeit entwickelt, die keine leichte Kost ist, trotz der sprachlichen Eleganz der Übersetzer und Literaturvermittler Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, die 2012 die Fackel der Bonnefoy-Übertragungen von Friedhelm Kemp übernommen haben und vorbildliche Arbeit leisten. Obwohl Bonnefoy sich früh von Platon distanziert ("Anti-Platon", 1947) und stets vehement gegen platonische Versuchungen angeschrieben hat, pflegt er ein metaphysisches Erbe: Dieses mag materialistisch gewendet sein, es bewegt sich in einer Denk- und Sprachdimension, für die man empfänglich sein muss.
Ist man es, dann gewährt Bonnefoy einem Augenblicke des Glücks, in denen Rhythmus und Erkenntnis zusammenklingen. Die Rückkehr in die Kindheit ist eine Voraussetzung, weil Bonnefoy eine ursprüngliche Sprache sucht, die aus Worten besteht, nicht aus Begriffen: Während die Ersteren die Dinge "auf natürliche Weise" bezeichnen und das Sein der Dinge ausdrücken, sind die Letzteren leere Abstrakta, "Abbilder". Geprägt wurde diese "Vorstellung von der Poesie" von seinen Eltern, Élie, dem Eisenbahn-Monteur, und Hélène, der Krankenschwester und Aushilfslehrerin. Sie bestimmten den Werdegang des späteren Dichters durch ihre unterschiedliche Art, zu schweigen: der Vater durch die Wortkargheit eines Handwerkerlebens im Exil, die Mutter durch eine lebhafte und fröhliche Art, die jedoch das Wesentliche ungesagt lässt. Und beide Elternteile durch ihre Unterhaltungen im okzitanischen "Patois", dem Dialekt ihrer Heimat, der dem Jungen unverständlich blieb.
Toulouse ist die Chiffre für diese geheimnisvolle, bedeutungsschwangere Sprache; die okzitanische Metropole stellt den Ort "der den Sprachen vorausgeht". In "Der rote Schal" wird erstmals die fundamentale Bedeutung dieser vertrauten Fremdsprache für Bonnefoys Werk entwickelt. Die Hinwendung zum zwölften und dreizehnten Jahrhundert - der Blütezeit Okzitaniens - wird ebenso schlüssig wie die zum benachbarten Italien, das die okzitanische Troubadour-Dichtung weiterentwickelte.
Der Sohn will "das geerbte Schweigen brechen". Der rote Schal dient als Leitfaden, den Bonnefoy entlanggeht: Er steht allem voran für ein "Mehr des Geistes", dann konkreter für die diversen Blutsbande in der Familie. Darüber hinaus stellt er die Überleitung zu kulturellen Prägungen wie Max Ernsts Gemälde "PIETÀ ou La Révolution la Nuit" (1923), das eine auffällig rote Hose zeigt und einer kurzlebigen, von Bonnefoy herausgegebenen Zeitschrift den Namen gab. Bonnefoy untersucht auch Einflüsse von Paul Valéry, André Breton, T. S. Eliot, Pierre Jean Jouve, Thomas Malory oder eben Cavalcanti. Überraschender ist die Bedeutung des Danae-Mythos, originell jene einer Kindererzählung oder einer exotischen Maske.
Bonnefoy arbeitet stets in zwei Richtungen: Einerseits will der Dichter eine Tiefenschicht der Sprache freilegen, andererseits sucht er dem Trug einer "Wirklichkeit mit stärkerem Sein" zu entkommen; konkret verweigert er sich dem nur poetischen Bild, sucht stattdessen den Rhythmus darunter. Nur angedeutet wird eine kommunikative Wende, wenn Bonnefoy am Ende die Selbstbefragung abschließt, um Interpreten die Hand auszustrecken: Die Einflüsse anderer Dichter benennt er, um einen "möglichen Austausch" zu befördern. Der wäre spannend gewesen; etwa zur Sprechersituation des Gedichts wäre einiges zu sagen und zu fragen. Die Deutung muss nun ohne den Dichter geschehen: "Der rote Schal" macht das schmerzlichst bewusst.
NIKLAS BENDER
Yves Bonnefoy: "Der rote Schal".
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Hanser Verlag, München 2018. 224 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Joseph Hanimann scheint positiv verwirrt angesichts dieses Textes des hochbetagten Yves Bonnefoy. Was der Autor aus einem Gedichtfragment hervorzaubert, für Hanimann eine Mischung aus Thriller, Dichtungstraktat und psychologischer Selbstbetrachtung, ist trotz mühsam zu lesender Zusammenhanglosigkeiten und Deutungen eine letztlich für Autor und Leser fruchtbare Auseinandersetzung mit Dichtung und Sprache und dem Werk Bonnefoys, Dichtung und Poetologie in einem, meint Hanimann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Schreiben hält die Erinnerung an die Einheit von Ich und Sprache wach, an den Fluss, an das Morgenlicht. Von der letzten Seite her wirken die fragmentarischen Gedichte leicht. Wer sie ein zweites Mal liest, erkennt in ihnen die Farben eines langen Lebens." Gisela Trahms, Der Tagesspiegel, 09.12.18
"'Der rote Schal' ist eine wunderbare Entdeckungsreise eines alt gewordenen weisen Literaten auf der Suche nach allem, was er verdrängt hat, was 'verkapselt, verschlossen ist'. 'Der rote Schal' ist eine literarisch und psychologisch komplexe Wegbeschreibung, Augenöffner für jeden, der sich auf die Suche nach sich selbst macht." Verena Auffermann, Deutschlandfunk Kultur, 13.12.18
"Hat je ein Dichter bescheidener formuliert, was er als seinen Auftrag versteht? Und könnte es ein schöneres, weil in einem emphatischen Sinn poetisch genaues Beispiel geben dafür, was es heißt, 'den Gebrauch von Wörtern zu bewahren', als dieses Buch? ... Mag auch die Unerschrockenheit eine Voraussetzung ihres Gelingens sein, so gehört dazu noch mehr Demut, da Erinnerung nie vollends gelingt. Yves Bonnefoy hatte beides und dazu bis ins hohe Alter die poetische Spannkraft. So dass zuletzt ein stilles Werk glückte, das vom langen Scheitern erzählt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 10.08.19
"Das letzte Buch des französischen Dichters Yves Bonnefoy ist ein einzigartiger Mix aus Essay, Memoir und Krimi." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 23.05.19
"'Der rote Schal' ist eine wunderbare Entdeckungsreise eines alt gewordenen weisen Literaten auf der Suche nach allem, was er verdrängt hat, was 'verkapselt, verschlossen ist'. 'Der rote Schal' ist eine literarisch und psychologisch komplexe Wegbeschreibung, Augenöffner für jeden, der sich auf die Suche nach sich selbst macht." Verena Auffermann, Deutschlandfunk Kultur, 13.12.18
"Hat je ein Dichter bescheidener formuliert, was er als seinen Auftrag versteht? Und könnte es ein schöneres, weil in einem emphatischen Sinn poetisch genaues Beispiel geben dafür, was es heißt, 'den Gebrauch von Wörtern zu bewahren', als dieses Buch? ... Mag auch die Unerschrockenheit eine Voraussetzung ihres Gelingens sein, so gehört dazu noch mehr Demut, da Erinnerung nie vollends gelingt. Yves Bonnefoy hatte beides und dazu bis ins hohe Alter die poetische Spannkraft. So dass zuletzt ein stilles Werk glückte, das vom langen Scheitern erzählt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 10.08.19
"Das letzte Buch des französischen Dichters Yves Bonnefoy ist ein einzigartiger Mix aus Essay, Memoir und Krimi." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 23.05.19