Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998Der Hund, der das Leben liebte
Finden, verlieren, finden: Friedrich Karl Waechter erzählt die Geschichte eines langen und guten Lebens
Im Dezember 1944 trieb die Rote Armee die ostdeutsche Bevölkerung vor sich her. Auf Planwagen und Pferden oder zu Fuß mit Handkarren mußten die Fliehenden Hunderte von Kilometern zurücklegen - ein Rückfall ins Mittelalter, denn die Motorfahrzeuge waren längst für die Kriegsführung konfisziert. Mit den Menschen traten auch deren Tiere den Rückzug aus der Zivilisation an. In Ostpreußen streunte das freigelassene Vieh durch die Wälder, und die Hunde verwilderten.
Die Lebensgeschichte eines dieser streunenden Hunde hat Friedrich Karl Waechter zu einem Bilderbuch gemacht: "Der rote Wolf". Vor einem halben Jahr hatte er mit "Da bin ich", seinem ersten Kinderbuch nach langer Pause, den schönsten Titel des Herbstes vorgelegt. Für dieses Frühjahr gilt dasselbe. Bemerkenswert an beiden Büchern ist vor allem Waechters Umgang mit dem Tod. In "Da bin ich" wurden kleine Kätzchen ersäuft, im "Roten Wolf" stirbt gar der Titelheld, doch Waechter ist dem Tod ein Dornauszieher: Vor seinem filigranen Federstrich und den durch Aquarellierung eher an- als eingefärbten Bildern, die nie die volle Palette seiner milden Farben ausschöpfen, kommt selbst der Schnitter sanft daher.
Man müßte über tausend Details schreiben dürfen; über die nur vage angedeuteten Linien der braunroten Tusche, die unter verwischten Farbflächen noch hervorlugen; über die Schraffuren, kräftig und dicht gezogen, die den Blick des Betrachters auf den kompakten Körper des angeschossenen Hundes fixieren, der als ein schwarzer Fleck das Bild bestimmt - wie ein dunkles Gewissen der Menschen, die ihn gerade retten wollen. Und vor allem über die im scheinbar so spontanen Federstrich eingefrorenen Bewegungen von tollenden Wölfen und Hunden - als habe der Zeichner sich zur Aufgabe gesetzt, ein Lehrbuch animalischer Anatomie zu entwerfen. Dann wieder bringt er vier Einzelzeichnungen auf einer Seite unter wie in einem Skizzenheft mit Bewegungsstudien: wie sich die Augen verengen, die Läufe strampeln, die Haare sträuben.
Die Tiere werden durch ihre Handlungen charakterisiert, der "rote Wolf" trägt keinen Namen. Das Buch begleitet seine ganze Vita, eine im Kinderbuch sehr seltene Praxis, und trotz allem Leid ist es eine Hommage an das Leben. Der Held kommt kurz vor Weihnachten zur Welt, und das erste Bild zeigt ihn als Welpen auf einem großen lila Kissen: "Am Anfang roch ich Stiefelwichse, Nüsse, Äpfel, Fichtenduft, Schweinebraten und brennende Kerzen." Es ist die domestizierte Gemütlichkeit, die hier beschworen wird, und noch ist kein Wort gefallen über den Krieg, über seine Herrchen, über den Feind.
Als das Wort fällt, als erst graue, dann grüne Soldaten durch die brennenden Orte ziehen, ist diese Invasion der Menschenwelt in die Geschichte fast impertinent. Sie erfolgt erst auf Seite 22, doch die Bedrohung ist in allen Bildern schon zu spüren gewesen. Das Abenteuer des kleinen Hundes hat auch längst begonnen, ihm sind die neuen Landesherren egal. Niemand hat bemerkt, als er vom Planwagen fiel. Eine Wölfin sammelte ihn auf und zog ihn groß, und der kleine Terrier erkämpfte sich einen Platz im Rudel. Mit ihm geht er auf die Jagd, und mit ihm fällt er Jahre später Jägern in die Hände, die den Wildgänger zurück in die Zivilisation bringen. Ein Mädchen nimmt sich des verwundeten Tieres an und pflegt ihn gesund, doch sein Herz ist in der Wildnis geblieben.
Waechters Virtuosität als Erzähler erweist sich darin, das man sich gar nicht erst fragt, wie sich Olga, das russische Mädchen, deren Familie den Platz der vertriebenen Deutschen eingenommen hat, und der Hund verständigen. Aber sie tun es, denn Olga schreibt seine Geschichte auf, und als er den Tod nahen spürt, bringt sie ihn zur Schlucht, in der sich der Friedhof der Wölfe befindet. Beim Sturz herab fliegen noch einmal die Bilder eines Lebens am "roten Wolf" vorbei, und es sind sämtliche Bilder des Buchs, verkleinert auf drei Seiten gedrängt. Doch danach folgen noch drei weitere Zeichnungen: Das Mädchen geht weg, und zwei Wölfe treten an die Schlucht, die ihrem roten Bruder den Abschiedsgruß entbieten. Es sind Bilder ohne Text, denn das Buch hat hier die Welt der Menschen verlassen.
ANDREAS PLATTHAUS
Friedrich Karl Waechter: "Der rote Wolf". Diogenes Verlag, Zürich 1998. 58 S., geb., 29,80 DM. Für jedes Alter.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Finden, verlieren, finden: Friedrich Karl Waechter erzählt die Geschichte eines langen und guten Lebens
Im Dezember 1944 trieb die Rote Armee die ostdeutsche Bevölkerung vor sich her. Auf Planwagen und Pferden oder zu Fuß mit Handkarren mußten die Fliehenden Hunderte von Kilometern zurücklegen - ein Rückfall ins Mittelalter, denn die Motorfahrzeuge waren längst für die Kriegsführung konfisziert. Mit den Menschen traten auch deren Tiere den Rückzug aus der Zivilisation an. In Ostpreußen streunte das freigelassene Vieh durch die Wälder, und die Hunde verwilderten.
Die Lebensgeschichte eines dieser streunenden Hunde hat Friedrich Karl Waechter zu einem Bilderbuch gemacht: "Der rote Wolf". Vor einem halben Jahr hatte er mit "Da bin ich", seinem ersten Kinderbuch nach langer Pause, den schönsten Titel des Herbstes vorgelegt. Für dieses Frühjahr gilt dasselbe. Bemerkenswert an beiden Büchern ist vor allem Waechters Umgang mit dem Tod. In "Da bin ich" wurden kleine Kätzchen ersäuft, im "Roten Wolf" stirbt gar der Titelheld, doch Waechter ist dem Tod ein Dornauszieher: Vor seinem filigranen Federstrich und den durch Aquarellierung eher an- als eingefärbten Bildern, die nie die volle Palette seiner milden Farben ausschöpfen, kommt selbst der Schnitter sanft daher.
Man müßte über tausend Details schreiben dürfen; über die nur vage angedeuteten Linien der braunroten Tusche, die unter verwischten Farbflächen noch hervorlugen; über die Schraffuren, kräftig und dicht gezogen, die den Blick des Betrachters auf den kompakten Körper des angeschossenen Hundes fixieren, der als ein schwarzer Fleck das Bild bestimmt - wie ein dunkles Gewissen der Menschen, die ihn gerade retten wollen. Und vor allem über die im scheinbar so spontanen Federstrich eingefrorenen Bewegungen von tollenden Wölfen und Hunden - als habe der Zeichner sich zur Aufgabe gesetzt, ein Lehrbuch animalischer Anatomie zu entwerfen. Dann wieder bringt er vier Einzelzeichnungen auf einer Seite unter wie in einem Skizzenheft mit Bewegungsstudien: wie sich die Augen verengen, die Läufe strampeln, die Haare sträuben.
Die Tiere werden durch ihre Handlungen charakterisiert, der "rote Wolf" trägt keinen Namen. Das Buch begleitet seine ganze Vita, eine im Kinderbuch sehr seltene Praxis, und trotz allem Leid ist es eine Hommage an das Leben. Der Held kommt kurz vor Weihnachten zur Welt, und das erste Bild zeigt ihn als Welpen auf einem großen lila Kissen: "Am Anfang roch ich Stiefelwichse, Nüsse, Äpfel, Fichtenduft, Schweinebraten und brennende Kerzen." Es ist die domestizierte Gemütlichkeit, die hier beschworen wird, und noch ist kein Wort gefallen über den Krieg, über seine Herrchen, über den Feind.
Als das Wort fällt, als erst graue, dann grüne Soldaten durch die brennenden Orte ziehen, ist diese Invasion der Menschenwelt in die Geschichte fast impertinent. Sie erfolgt erst auf Seite 22, doch die Bedrohung ist in allen Bildern schon zu spüren gewesen. Das Abenteuer des kleinen Hundes hat auch längst begonnen, ihm sind die neuen Landesherren egal. Niemand hat bemerkt, als er vom Planwagen fiel. Eine Wölfin sammelte ihn auf und zog ihn groß, und der kleine Terrier erkämpfte sich einen Platz im Rudel. Mit ihm geht er auf die Jagd, und mit ihm fällt er Jahre später Jägern in die Hände, die den Wildgänger zurück in die Zivilisation bringen. Ein Mädchen nimmt sich des verwundeten Tieres an und pflegt ihn gesund, doch sein Herz ist in der Wildnis geblieben.
Waechters Virtuosität als Erzähler erweist sich darin, das man sich gar nicht erst fragt, wie sich Olga, das russische Mädchen, deren Familie den Platz der vertriebenen Deutschen eingenommen hat, und der Hund verständigen. Aber sie tun es, denn Olga schreibt seine Geschichte auf, und als er den Tod nahen spürt, bringt sie ihn zur Schlucht, in der sich der Friedhof der Wölfe befindet. Beim Sturz herab fliegen noch einmal die Bilder eines Lebens am "roten Wolf" vorbei, und es sind sämtliche Bilder des Buchs, verkleinert auf drei Seiten gedrängt. Doch danach folgen noch drei weitere Zeichnungen: Das Mädchen geht weg, und zwei Wölfe treten an die Schlucht, die ihrem roten Bruder den Abschiedsgruß entbieten. Es sind Bilder ohne Text, denn das Buch hat hier die Welt der Menschen verlassen.
ANDREAS PLATTHAUS
Friedrich Karl Waechter: "Der rote Wolf". Diogenes Verlag, Zürich 1998. 58 S., geb., 29,80 DM. Für jedes Alter.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main