Wiederholt sich der "Schwarze Freitag" von 1929? Dieser Frage geht der Historiker Harold James hier nach. Er vergleicht unsere heutige wirtschaftliche Situation mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre und kommt zu dem Schluss: Gerade die jüngsten Entwicklungen in der Weltwirtschaft und die politischen Ereignisse zeigen verblüffende und beängstigende Parallelen auf ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003Schicksalsvogel Albatros fliegt vor der Dämmerung
Harold James weiß, daß nicht die herumstromernden Taler die Weltwirtschaft durcheinanderbringen / Von Andreas Platthaus
Schon immer haben Wirtschaftstheoretiker gern den "Faust" gelesen: Wenn unsereins die Klassiker studiert, dann hat er was davon. Zum Beispiel zweiter Teil, I. Akt, Lustgarten und Finstere Galerie. Kaiser, Faust und Mephistopheles debattieren die wundersame Geldvermehrung durch Papierwährung, sehr gebildet. Doch auch in der Tragödie erster Teil steckt manch Ökonomisches - auch einiges, was auf den ersten Blick gar nicht danach aussieht. So etwa Fausts eigenwillige Übersetzung des Beginns der Genesis: "Am Anfang war die Tat."
Denn wenn die Welt erst durch derart harte Arbeit entstehen konnte, daß es sogleich erforderlich wurde, die ersten arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen zu erlassen (Am siebten Tage sollst du ruhen), dann müßte die marxistische Begründung der Wertlehre doch auch für Metaphysiker nachvollziehbar sein. So gesehen hat Faust eine kongeniale Übertragung gewählt. Und noch schöner läßt seine Behauptung sich auf ökonomische Phänomene anwenden, wenn wir sie mit einem Satz von José Ortega y Gasset kombinieren: "Wie der Albatros als Vorbote des Sturms, so taucht der Mensch der Tat selbst am Horizont auf, wenn eine neue Krise anbricht." Ortega y Gasset münzte dieses Bonmot auf Cesare Borgia, und der amerikanische Wirtschaftshistoriker Harold James wiederum münzt es nun auf die Große Depression. Denn auch deren Anfang sieht James durch die Tat angekündigt.
Goethe war also wieder mal gut - gerade wenn es um das nicht so Gute geht. Denn der Tatmensch, den James für die zwanziger Jahre als Krisenindikator identifiziert, hört auf solche Namen wie Hitler, Mussolini, Stalin. Deren Aufstieg habe die Krise vorweggenommen, die von 1929 an für ein rundes Jahrzehnt den Kapitalismus im Griff gehalten hat. Alle drei fühlten sich dadurch in ihrer individuellen Weltanschauung bestätigt und brachten ihre Staaten - Hitler erst mit etwas Verspätung - auf Gegenkurs zum zuvor üblichen Modell einer international verflochtenen Wirtschaft. Der Starke ist eben am mächtigsten allein, das ist die Devise der totalitären Regime nicht nur im Hinblick auf ihr Führungsmodell, sondern auch betreffs der ökonomischen Ausrichtung in den von ihnen unterjochten Staaten.
Doch Hitler, Mussolini, Stalin waren James nicht nur Menetekel ihrer eigenen Zeit, sie sind es ihm auch noch für die Gegenwart. Schon das Vorwort zur deutschen Ausgabe seines vor zwei Jahren erschienenen Buchs "The End of Globalization" hebt mit der Feststellung an: "Historisch gesehen trugen der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch der deutschen Demokratie und der Aufstieg Hitlers Anfang der dreißiger Jahre maßgeblich dazu bei, daß der damalige Globalisierungsprozeß ein Ende fand." Hitler als Globalisierungsgegner? Natürlich, meint James, denn Deutschland baute unter seiner Herrschaft ein System bilateraler Handelsvereinbarungen auf, das weniger ökonomische als politische Interessen im Auge hatte. Die Partnerstaaten konnten Produkte zu höheren Preisen als auf dem Weltmarkt üblich an Deutschland verkaufen und bezogen deutsche Waren oftmals günstiger. Damit aber gerieten sie in Abhängigkeit, und das war Hitlers Ziel. Deshalb sabotierten seine Handelsherren den freien Warenaustausch.
Mit dieser Analyse der Wirtschaftspolitik des "Dritten Reichs" hat James die gängige Interpretation gegen den Strich gebürstet, die die entsprechenden Vereinbarungen eher als Knebelverträge gedeutet hat. Es braucht wohl eines Experten wie James, dessen wirtschaftshistorische Arbeiten sich immer schon durch sorgfältige Lektüre von Bilanzen und Statistiken ausgezeichnet hat, um einfach einmal die terms of trade während der dreißiger Jahre zu berechnen und dabei festzustellen, daß sie sich für Deutschland signifikant verschlechtert hatten. Es ist nicht die geringste Überraschung, die sein neues Buch bereithält, daß sich hinter der Studie zum Ende der Globalisierung eine kleine, aber konzise Analyse der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verbirgt. Der amerikanische Untertitel "Lessons from the Great Depression" hat das zumindest angedeutet; die deutsche Benennung lautet dagegen "Der Rückfall - Die neue Weltwirtschaftskrise" und suggeriert einen direkten Vergleich der Gegenwart mit den dreißiger Jahren.
Den aber leistet James gerade nicht. Denn dazu müßte er zunächst einmal mit sich selbst einig werden. In der Einleitung beschwört er die Gefahr herauf, die der Globalisierung, die er als Konstante ökonomischen Handelns von Anfang an, spätestens aber seit der Renaissance erkennt, droht: James erwartet, "daß die Globalisierung scheitert, weil die Menschen und die von ihnen errichteten Institutionen die psychischen und institutionellen Folgen der wirtschaftlichen Verflechtung nicht angemessen bewältigen können". Damit folgt er exakt der Argumentation von Organisationen wie Attac, die in dem, was sie Globalisierung nennen, ein unmenschliches System am Werke sehen, gegen das Widerstand geboten ist. Der Unterschied zwischen beiden Erklärungen liegt darin, daß James die Globalisierung für die Voraussetzung einer friedlichen Gesellschaft hält. Daß der Mensch mit dieser Entwicklung nicht zurechtkommt, ist für ihn das eigentliche Drama des Prozesses.
Er belegt diese These mit der Weltwirtschaftskrise. Erst zwei Jahre nach dem allgemein als Gründungsdatum der Depression genannten 25. Oktober 1929, dem berüchtigten "Schwarzen Freitag", der ein Donnerstag war, sieht James diese Krise als unwiderrruflich an. Nicht der Kurssturz der amerikanischen Aktien löste demzufolge die Depression aus, sondern das verzweifelte Festhalten der wichtigsten Handelsnationen am Goldstandard für ihre Währungen. Dadurch wurden flexible Reaktionen auf Devisenspekulation und Verringerung des Warenaustauschs unmöglich. Deshalb ist für James auch jede Kritik an den Spekulanten jener Jahre kurzsichtig, weil es das Fehlverhalten der jeweiligen Zentralbanken und die Unfähigkeit des internationalen Finanzsystems, sich vom tradierten Weg zu lösen, waren, die der Welt ein Jahrzehnt des Elends beschert haben.
Diese Ehrenrettung der Spekulation möchte James auf die Gegenwart übetragen sehen. Auch heute sei es nicht - mit Marx zu reden - das frei flottierende Kapital, das die Globalisierung gefährde, sondern ebenjene Überforderung der Akteure angesichts ihrer Folgen. Und dabei müßten vor allem die Nationen im Auge behalten werden. Dabei erkennt James die Gefahren vor allem in zwei Gruppen von Staaten: den afrikanischen, deren Not so groß ist, daß jegliche Entwicklung unterbleibt, und den kontinentaleuropäischen, die sich aus Bequemlichkeit der Anpassung an die Anforderungen der Globalisierung verweigern. Der Widerstand auf individueller Ebene, wie er sich in Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen artikuliert, interessiert James dagegen überhaupt nicht. Deren Kritik, das ist das einzige, was sich zu diesem Komplex findet, "bleibt ein inkohärentes Stückwerk - kurz: postmodern. Sie wird allenfalls einige wirtschaftspolitische Initiativen hervorbringen." Und somit bleibt das entscheidende Vernichtungswerk wieder Privileg der Staaten.
Hier kommen wir nun zum Widerspruch seines Buches. Noch in der Einleitung spricht James nämlich vom "Seattle-Szenario", womit er "die Umstände, unter denen die Globalisierung scheitert", bezeichnet sehen will. Seattle aber sah 1999 die ersten gewalttätigen Massenproteste der Globalisierungsgegner, und James kann noch so häufig behaupten, das Scheitern der dort ausgerichteten Konferenz der Welthandelsorganisation hätte vor allem am Widerstand der Entwicklungsländer gegen die Einbeziehung von Umwelt- und Arbeitsstandards in die Programme des Internationalen Währungsfonds gelegen - Seattle bleibt ein Beleg für massiven Widerstand von unten. Gerade das vom Autor so befürchtete Beharren der europäischen Staaten auf ihren Sozialsystemen und die damit ausgehebelte weitere Liberalisierung der Wanderung von Kapital und Arbeitskräften wäre undenkbar, wenn nicht die europäischen Bevölkerungen ihren Regierungen den Rücken stärkten. Es ist der entscheidende Unterschied zwischen den dreißiger Jahren und heute, daß die Demokratie tiefer verwurzelt ist und die individuellen Informationsmöglichkeiten sich vermehrt haben. Das erschwert nicht nur totalitäre Bestrebungen, es setzt auch der Handlungsfreiheit von Regierungen Grenzen, die sich als demokratisch verstehen.
Mag sein, daß die Globalisierung zum Besten der Menschheit erfolgt. Vieles spricht dafür, etliches auch dagegen. Aber es wird nicht noch einmal in der Macht der Staaten allein liegen, über dieses Für und Wider zu entscheiden. Daß James aus seiner Analogie zur Weltwirtschaftskrise heraus den Nationalstaat als ewigen Hemmschuh der ökonomischen Entwicklung begreifen muß, liegt auf der Hand, aber die Analogie endet ja, weil viele der Rahmenbedingungen der dreißiger Jahre, die er gerade hervorhebt - die Existenz der Sowjetunion als erfolgversprechendes Gegenmodell, die verfeindeten europäischen Mächte -, nicht mehr aktuell sind. Eine bloß strukturelle Ähnlichkeit läßt sich natürlich leichter konstruieren; man sollte aber dann nicht die Parallelen überstrapazieren.
Das gilt natürlich auch für das Urteil, das James der Globalisierung spricht. Sein Richtspruch von deren sicherem Scheitern ist gleichfalls durch die historische Analogie zur Weltwirtschaftskrise begründet. Doch dann kommt zum Abschluß des Buches das Kapitel "Kann es sich wiederholen?" - und plötzlich scheint es keineswegs mehr ausgemacht, daß auf diese Frage nur ein "Ja" folgen kann.
Denn der alarmistische Ton der Einleitung weicht einer abgewogenen Einschätzung. Wenn es stimmt, daß es, wie James schreibt, "die sich weltweit immer mehr durchsetzende Erkenntnis" gibt, "daß die Weltwirtschaft und die Weltinstitutionen Rechte und Wohlstand besser gewährleisten können als manche Regierungen, die vielleicht korrupt und militaristisch sind", wieso mußte er dann den Fall der Globalisierung dreihundert Seiten früher bereits verloren geben? Mag sein, daß ihm bei den folgenden intensiven historischen Erörterungen dann doch aufgefallen ist, daß die Parallelen nicht allzuweit tragen. Derzeit von einer Weltwirtschaftskrise zu reden wäre gerade im historischen Vergleich übertrieben. Trotzdem wäre ein Warnruf durchaus berechtigt, doch Schicksalsergebenheit paßt nicht zu einem Historiker, der doch um die Unvergleichlichkeit der konkreten Situation wissen müßte.
Lehren aus der Historie zu ziehen ist dagegen etwas anderes, und darin besteht die Stärke des Buches von James. Wie labil ein als so robust und schier unüberwindlich empfundenes System wie die Weltwirtschaftsordnung ist, das macht seine Studie bedrückend (und für viele wohl auch erfreulich) klar. Daß die Publikation durch eine flüssigere Übersetzung und die Ausmerzung des einen oder anderen Fehlers noch gewonnen hätte, sei auch angemerkt. Denn guter Stil befördert die Erkenntniskraft - siehe Anfang.
Harold James: "Der Rückfall". Die neue Weltwirtschaftskrise. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. Piper Verlag, München 2003. 362 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Harold James weiß, daß nicht die herumstromernden Taler die Weltwirtschaft durcheinanderbringen / Von Andreas Platthaus
Schon immer haben Wirtschaftstheoretiker gern den "Faust" gelesen: Wenn unsereins die Klassiker studiert, dann hat er was davon. Zum Beispiel zweiter Teil, I. Akt, Lustgarten und Finstere Galerie. Kaiser, Faust und Mephistopheles debattieren die wundersame Geldvermehrung durch Papierwährung, sehr gebildet. Doch auch in der Tragödie erster Teil steckt manch Ökonomisches - auch einiges, was auf den ersten Blick gar nicht danach aussieht. So etwa Fausts eigenwillige Übersetzung des Beginns der Genesis: "Am Anfang war die Tat."
Denn wenn die Welt erst durch derart harte Arbeit entstehen konnte, daß es sogleich erforderlich wurde, die ersten arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen zu erlassen (Am siebten Tage sollst du ruhen), dann müßte die marxistische Begründung der Wertlehre doch auch für Metaphysiker nachvollziehbar sein. So gesehen hat Faust eine kongeniale Übertragung gewählt. Und noch schöner läßt seine Behauptung sich auf ökonomische Phänomene anwenden, wenn wir sie mit einem Satz von José Ortega y Gasset kombinieren: "Wie der Albatros als Vorbote des Sturms, so taucht der Mensch der Tat selbst am Horizont auf, wenn eine neue Krise anbricht." Ortega y Gasset münzte dieses Bonmot auf Cesare Borgia, und der amerikanische Wirtschaftshistoriker Harold James wiederum münzt es nun auf die Große Depression. Denn auch deren Anfang sieht James durch die Tat angekündigt.
Goethe war also wieder mal gut - gerade wenn es um das nicht so Gute geht. Denn der Tatmensch, den James für die zwanziger Jahre als Krisenindikator identifiziert, hört auf solche Namen wie Hitler, Mussolini, Stalin. Deren Aufstieg habe die Krise vorweggenommen, die von 1929 an für ein rundes Jahrzehnt den Kapitalismus im Griff gehalten hat. Alle drei fühlten sich dadurch in ihrer individuellen Weltanschauung bestätigt und brachten ihre Staaten - Hitler erst mit etwas Verspätung - auf Gegenkurs zum zuvor üblichen Modell einer international verflochtenen Wirtschaft. Der Starke ist eben am mächtigsten allein, das ist die Devise der totalitären Regime nicht nur im Hinblick auf ihr Führungsmodell, sondern auch betreffs der ökonomischen Ausrichtung in den von ihnen unterjochten Staaten.
Doch Hitler, Mussolini, Stalin waren James nicht nur Menetekel ihrer eigenen Zeit, sie sind es ihm auch noch für die Gegenwart. Schon das Vorwort zur deutschen Ausgabe seines vor zwei Jahren erschienenen Buchs "The End of Globalization" hebt mit der Feststellung an: "Historisch gesehen trugen der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch der deutschen Demokratie und der Aufstieg Hitlers Anfang der dreißiger Jahre maßgeblich dazu bei, daß der damalige Globalisierungsprozeß ein Ende fand." Hitler als Globalisierungsgegner? Natürlich, meint James, denn Deutschland baute unter seiner Herrschaft ein System bilateraler Handelsvereinbarungen auf, das weniger ökonomische als politische Interessen im Auge hatte. Die Partnerstaaten konnten Produkte zu höheren Preisen als auf dem Weltmarkt üblich an Deutschland verkaufen und bezogen deutsche Waren oftmals günstiger. Damit aber gerieten sie in Abhängigkeit, und das war Hitlers Ziel. Deshalb sabotierten seine Handelsherren den freien Warenaustausch.
Mit dieser Analyse der Wirtschaftspolitik des "Dritten Reichs" hat James die gängige Interpretation gegen den Strich gebürstet, die die entsprechenden Vereinbarungen eher als Knebelverträge gedeutet hat. Es braucht wohl eines Experten wie James, dessen wirtschaftshistorische Arbeiten sich immer schon durch sorgfältige Lektüre von Bilanzen und Statistiken ausgezeichnet hat, um einfach einmal die terms of trade während der dreißiger Jahre zu berechnen und dabei festzustellen, daß sie sich für Deutschland signifikant verschlechtert hatten. Es ist nicht die geringste Überraschung, die sein neues Buch bereithält, daß sich hinter der Studie zum Ende der Globalisierung eine kleine, aber konzise Analyse der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verbirgt. Der amerikanische Untertitel "Lessons from the Great Depression" hat das zumindest angedeutet; die deutsche Benennung lautet dagegen "Der Rückfall - Die neue Weltwirtschaftskrise" und suggeriert einen direkten Vergleich der Gegenwart mit den dreißiger Jahren.
Den aber leistet James gerade nicht. Denn dazu müßte er zunächst einmal mit sich selbst einig werden. In der Einleitung beschwört er die Gefahr herauf, die der Globalisierung, die er als Konstante ökonomischen Handelns von Anfang an, spätestens aber seit der Renaissance erkennt, droht: James erwartet, "daß die Globalisierung scheitert, weil die Menschen und die von ihnen errichteten Institutionen die psychischen und institutionellen Folgen der wirtschaftlichen Verflechtung nicht angemessen bewältigen können". Damit folgt er exakt der Argumentation von Organisationen wie Attac, die in dem, was sie Globalisierung nennen, ein unmenschliches System am Werke sehen, gegen das Widerstand geboten ist. Der Unterschied zwischen beiden Erklärungen liegt darin, daß James die Globalisierung für die Voraussetzung einer friedlichen Gesellschaft hält. Daß der Mensch mit dieser Entwicklung nicht zurechtkommt, ist für ihn das eigentliche Drama des Prozesses.
Er belegt diese These mit der Weltwirtschaftskrise. Erst zwei Jahre nach dem allgemein als Gründungsdatum der Depression genannten 25. Oktober 1929, dem berüchtigten "Schwarzen Freitag", der ein Donnerstag war, sieht James diese Krise als unwiderrruflich an. Nicht der Kurssturz der amerikanischen Aktien löste demzufolge die Depression aus, sondern das verzweifelte Festhalten der wichtigsten Handelsnationen am Goldstandard für ihre Währungen. Dadurch wurden flexible Reaktionen auf Devisenspekulation und Verringerung des Warenaustauschs unmöglich. Deshalb ist für James auch jede Kritik an den Spekulanten jener Jahre kurzsichtig, weil es das Fehlverhalten der jeweiligen Zentralbanken und die Unfähigkeit des internationalen Finanzsystems, sich vom tradierten Weg zu lösen, waren, die der Welt ein Jahrzehnt des Elends beschert haben.
Diese Ehrenrettung der Spekulation möchte James auf die Gegenwart übetragen sehen. Auch heute sei es nicht - mit Marx zu reden - das frei flottierende Kapital, das die Globalisierung gefährde, sondern ebenjene Überforderung der Akteure angesichts ihrer Folgen. Und dabei müßten vor allem die Nationen im Auge behalten werden. Dabei erkennt James die Gefahren vor allem in zwei Gruppen von Staaten: den afrikanischen, deren Not so groß ist, daß jegliche Entwicklung unterbleibt, und den kontinentaleuropäischen, die sich aus Bequemlichkeit der Anpassung an die Anforderungen der Globalisierung verweigern. Der Widerstand auf individueller Ebene, wie er sich in Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen artikuliert, interessiert James dagegen überhaupt nicht. Deren Kritik, das ist das einzige, was sich zu diesem Komplex findet, "bleibt ein inkohärentes Stückwerk - kurz: postmodern. Sie wird allenfalls einige wirtschaftspolitische Initiativen hervorbringen." Und somit bleibt das entscheidende Vernichtungswerk wieder Privileg der Staaten.
Hier kommen wir nun zum Widerspruch seines Buches. Noch in der Einleitung spricht James nämlich vom "Seattle-Szenario", womit er "die Umstände, unter denen die Globalisierung scheitert", bezeichnet sehen will. Seattle aber sah 1999 die ersten gewalttätigen Massenproteste der Globalisierungsgegner, und James kann noch so häufig behaupten, das Scheitern der dort ausgerichteten Konferenz der Welthandelsorganisation hätte vor allem am Widerstand der Entwicklungsländer gegen die Einbeziehung von Umwelt- und Arbeitsstandards in die Programme des Internationalen Währungsfonds gelegen - Seattle bleibt ein Beleg für massiven Widerstand von unten. Gerade das vom Autor so befürchtete Beharren der europäischen Staaten auf ihren Sozialsystemen und die damit ausgehebelte weitere Liberalisierung der Wanderung von Kapital und Arbeitskräften wäre undenkbar, wenn nicht die europäischen Bevölkerungen ihren Regierungen den Rücken stärkten. Es ist der entscheidende Unterschied zwischen den dreißiger Jahren und heute, daß die Demokratie tiefer verwurzelt ist und die individuellen Informationsmöglichkeiten sich vermehrt haben. Das erschwert nicht nur totalitäre Bestrebungen, es setzt auch der Handlungsfreiheit von Regierungen Grenzen, die sich als demokratisch verstehen.
Mag sein, daß die Globalisierung zum Besten der Menschheit erfolgt. Vieles spricht dafür, etliches auch dagegen. Aber es wird nicht noch einmal in der Macht der Staaten allein liegen, über dieses Für und Wider zu entscheiden. Daß James aus seiner Analogie zur Weltwirtschaftskrise heraus den Nationalstaat als ewigen Hemmschuh der ökonomischen Entwicklung begreifen muß, liegt auf der Hand, aber die Analogie endet ja, weil viele der Rahmenbedingungen der dreißiger Jahre, die er gerade hervorhebt - die Existenz der Sowjetunion als erfolgversprechendes Gegenmodell, die verfeindeten europäischen Mächte -, nicht mehr aktuell sind. Eine bloß strukturelle Ähnlichkeit läßt sich natürlich leichter konstruieren; man sollte aber dann nicht die Parallelen überstrapazieren.
Das gilt natürlich auch für das Urteil, das James der Globalisierung spricht. Sein Richtspruch von deren sicherem Scheitern ist gleichfalls durch die historische Analogie zur Weltwirtschaftskrise begründet. Doch dann kommt zum Abschluß des Buches das Kapitel "Kann es sich wiederholen?" - und plötzlich scheint es keineswegs mehr ausgemacht, daß auf diese Frage nur ein "Ja" folgen kann.
Denn der alarmistische Ton der Einleitung weicht einer abgewogenen Einschätzung. Wenn es stimmt, daß es, wie James schreibt, "die sich weltweit immer mehr durchsetzende Erkenntnis" gibt, "daß die Weltwirtschaft und die Weltinstitutionen Rechte und Wohlstand besser gewährleisten können als manche Regierungen, die vielleicht korrupt und militaristisch sind", wieso mußte er dann den Fall der Globalisierung dreihundert Seiten früher bereits verloren geben? Mag sein, daß ihm bei den folgenden intensiven historischen Erörterungen dann doch aufgefallen ist, daß die Parallelen nicht allzuweit tragen. Derzeit von einer Weltwirtschaftskrise zu reden wäre gerade im historischen Vergleich übertrieben. Trotzdem wäre ein Warnruf durchaus berechtigt, doch Schicksalsergebenheit paßt nicht zu einem Historiker, der doch um die Unvergleichlichkeit der konkreten Situation wissen müßte.
Lehren aus der Historie zu ziehen ist dagegen etwas anderes, und darin besteht die Stärke des Buches von James. Wie labil ein als so robust und schier unüberwindlich empfundenes System wie die Weltwirtschaftsordnung ist, das macht seine Studie bedrückend (und für viele wohl auch erfreulich) klar. Daß die Publikation durch eine flüssigere Übersetzung und die Ausmerzung des einen oder anderen Fehlers noch gewonnen hätte, sei auch angemerkt. Denn guter Stil befördert die Erkenntniskraft - siehe Anfang.
Harold James: "Der Rückfall". Die neue Weltwirtschaftskrise. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. Piper Verlag, München 2003. 362 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nikolaus Piper empfiehlt diesen Band den "Globalisierern" ebenso wie "ihren Gegnern" als "Pflichtlektüre". Wie man erfährt, entfaltet der in Princeton lehrende britische Autor hier eine eigene Theorie zur Weltwirtschaftskrise nach 1929, mit Konsequenzen für die gegenwärtige Lage. Im Anschluss an seine Analyse der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre bietet James, wie wir lesen, einen Erklärungsansatz an, demzufolge "die Globalisierung" immer wieder "zusammenbrechen" kann, weil, so zitiert Piper aus dem besprochenen Band, "die Menschen die psychischen und institutionellen Folgen der wirtschaftlichen Verflechtung nicht angemessen bewältigen können". Nach James' These könnten, wie Piper berichtet, daraus folgende "Ressentiments" gegen die Globalisierung die Weltwirtschaft in tiefe Krisen stürzen. "Entscheidend" findet der Rezensent bei all dem jedoch, dass James zufolge die Gründe für die Krise der dreißiger Jahre ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Bereits der Nationalstaat ist aus einem Ressentiment gegen die Globalisierung entstanden - und war in der Folge dann ganz wesentlich für die erste Katastrophe der Globalisierung verantwortlich, referiert unser Rezensent. Er findet die Gedankenführung von Harold James "kühn", die aufgezeigten Parallelen zur Gegenwart "beklemmend". Besonders hebt er schließlich auch noch James' eigens für die deutsche Ausgabe geschriebenes Vorwort hervor, und lobt es als "packenden Essay von eigenem Wert", weil der Autor hier zusätzlich noch entscheidende Ereignisse seit Erscheinen der englischen Originalausgabe - den 11. September und den Irakkrieg vor allem - im Lichte seiner These interpretiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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