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Gerd Koenen hat die Geschichte der deutschen Ostorientierung zwischen 1900 und 1945 erforscht und in seinem glänzend geschriebenen Buch umfassend dargestellt. Das Spannungsfeld aus Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen, aus heftigen Attraktionen und Phobien, das er eindrucksvoll rekonstruiert, war nicht nur Nährboden für totalitäre Ideologien wie für kulturelle Neuschöpfungen. Es war auch Ausdruck eines Grundkonflikts der Deutschen, die sich erst nach 1945 und einem zweiten verlorenen Weltkrieg endgültig von der Vision einer Zukunft im "Osten" verabschiedet haben.
Seit dem
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Produktbeschreibung
Gerd Koenen hat die Geschichte der deutschen Ostorientierung zwischen 1900 und 1945 erforscht und in seinem glänzend geschriebenen Buch umfassend dargestellt. Das Spannungsfeld aus Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen, aus heftigen Attraktionen und Phobien, das er eindrucksvoll rekonstruiert, war nicht nur Nährboden für totalitäre Ideologien wie für kulturelle Neuschöpfungen. Es war auch Ausdruck eines Grundkonflikts der Deutschen, die sich erst nach 1945 und einem zweiten verlorenen Weltkrieg endgültig von der Vision einer Zukunft im "Osten" verabschiedet haben.

Seit dem Mittelalter hat der "Osten" immer wieder die Phantasie der Deutschen entzündet. Am Ende des 19. Jahrhunderts und in der Epoche der beiden Weltkriege entstand geradezu ein Rußland-Komplex, der eine deutsche Ostorientierung noch einmal zu einer ernsthaften Alternative für den "langen Weg nach Westen" (Heinrich August Winkler) werden ließ. Die siegreiche Oktoberrevolution schien nicht wenigen Zeitgenossen nur der Auftakt zu noch größeren Ereignissen zu sein, und es waren keineswegs nur Kommunisten, die in einer engen Zusammenarbeit mit dem bolschewistischen Rußland eine Chance für Deutschland sahen, dem Diktat der Siegermächte von Versailles möglichst bald zu entkommen. Gleichzeitig aber brachen sich auch rassistische Ressentiments gegen Slawen und besonders die Ostjuden immer wieder Bahn. Am Ende dieser Epoche beherrschen dann mit den "Lebensraum"-Konzepten der Nationalsozialisten Expansions- und Vernichtungspläne den deutschen Rußland-Komplex.
Autorenporträt
Gerd Koenen, geboren 1944 in Marburg, Studium der Geschichte und Politik in Tübingen und Frankfurt/M. und dabei vom SDS 1967 bis zu den maoistischen Zirkeln der 70er Jahre das volle Programm des linksradikalen Aktivismus absolviert. Später hat er als Lektor, Journalist, wissenschaftlicher Mitarbeiter Lew Kopelews sowie als freier Schriftsteller gearbeitet. Zahlreiche Buchveröffentlichungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2005

Rußland mit der Seele suchend
Das schwierige Verhältnis der Deutschen zum großen Nachbarn im Osten

Gerd Koenen: Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945. Verlag C. H. Beck, München 2005. 528 Seiten, 29,90 [Euro].

Bilder wandeln sich unter veränderter Perspektive ihrer Schöpfer und Betrachter. Das gilt auch für Geschichtsbilder. Wer ein neues Bild mit dem alten, viel strapazierten Motiv Rußland entwirft, muß überlieferte Darstellungen für weitgehend oder partiell unzutreffend, für unpräzise oder überzeichnet halten. Gerd Koenen bedauert die seit der russischen Revolution in der deutschen Öffentlichkeit für dominant erachteten antibolschewistisch-russophoben Klischees, die dem Historiker Ernst Nolte als Vorlage seiner apologiebehafteten Interpretation vom Nationalsozialismus als zwangsläufiger Reaktion auf den Sozialismus/Kommunismus Moskauer Prägung dienten. Wenn Koenen diese heftigen kollegialen Widerspruch provozierende These Noltes als "im großen und ganzen ... herrschende Auffassung der bundesdeutschen Historiographie" apostrophiert, läßt er den komplizierten Geschichtsdiskurs über Ursprung und Zielsetzung des Faschismus und Nationalsozialismus außer acht. Ebenso wenig überzeugend ist seine mit Ideologieverdacht behaftete Feststellung einer Konvergenz zwischen vermeintlich linken westdeutschen mit ostdeutschen Forschern während der Perestrojka in der Beurteilung der NS-Bewegung als bürgerlichen antikommunistischen Stoßtrupp.

Beide Interpretationsmuster dienen dem Autor als Folie kontrapunktischer Korrektur. Will er doch aufzeigen, daß das junge Sowjetrußland neben den negativen auch positive politische Reaktionen, insbesondere kulturell-identifikatorischer Art, auslöste. Koenen beklagt, daß unter der starken Beachtung des von dem Historiker Heinrich August Winkler aufgezeigten und verfolgten langen Weges Deutschlands gen Westen im Sinne einer politischen und materiellen Bindung eine entgegengesetzte intensive geistige, kulturelle und zeitweilig auch politische Ostorientierung nicht hinreichend ins historische Bewußtsein der Deutschen gerückt wurde. Sein Buch soll das Versäumte mit Blick auf das "neue" Rußland nachholen.

Das "neue" Rußland setzte natürlich nicht mit Lenin ein, sondern mit einem industriellen und technologischen Modernisierungsschub zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der die absolute Zarenherrschaft stützen sollte, in Wirklichkeit aber die sozialen und ideologischen Voraussetzungen seines Untergangs schuf. Ungefähr gleichzeitig trat Rußland mit Tolstoi, Dostojewski, Gorki und anderen, mit modernem klassischem Ballett und existentialistischer Malerei als europäische Kulturnation auf, als ein in sich widersprüchliches Faszinoikum für deutsche intellektuelle Kreise, das es selbst in bolschewistischer Zeit blieb.

Was das Buch so lesenswert macht, ist nicht sein faktographischer Neuigkeitsgehalt. Es ist vielmehr der Versuch, Rußland beziehungsweise die Sowjetunion als Objekt machtpolitischen und damit außenpolitischen Kalküls in Verbindung mit dem russischen Menschen, mit den innenpolitischen und kulturellen Konstellationen des Landes zu bringen, wie sie von interessierten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Koenen versteht sich als Führer durch die Galerie ambivalenter, zumeist literarischer und publizistischer Bilder und Zukunftsentwürfe von Rußland vor dem politischen Hintergrund imperialer, hegemonialer und rassenideologisch-expansiver Ostraumintentionen.

Dabei werden alte Meister des schriftstellerisch ambitionierten Journalismus wiederentdeckt, wie Alfons Paquet, der als junger Student 1903 mit der gerade fertiggestellten Transsibirischen Eisenbahn reiste. Während seiner Tätigkeit in einer Nachrichtenabteilung des Heeres im Ersten Weltkrieg konnte er Rußland bereisen und nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk als erster deutscher Journalist und Presseattaché der Botschaft vor Ort eindrucksvolle Erfahrungen mit der in Gang befindlichen Revolution sammeln. Paquet fungiert als Leitfigur des Buches, um die herum die Schar derjenigen gruppiert ist, die Rußland beziehungsweise die Sowjetunion in Politik, Publizistik, Literatur und Wissenschaft zum Thema öffentlicher Diskussion stilisierten. Da werden diejenigen vorgestellt, die einer intellektuell-literarischen Annäherung an Rußland das Wort reden, selbst während des Ersten Weltkrieges und der bolschewistischen Revolution, die, wie Thomas Mann, eine nationale Seelenverwandtschaft zwischen Rußland und Deutschland als Grundlage einer zukünftigen Bündnispolitik ausmachten.

Wir begegnen aber auch im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg den Protagonisten einer Dekompositionsstrategie in Anbetracht der Vielvölkerstruktur des östlichen Nachbarstaates mit seinen sich potenzierenden Nationalitätenproblemen. Über vernehmbare Stimmen verfügten die Befürworter einer Aufweichung der russischen Westflanke mittels territorialer Abtrennung neu zu etablierender Randstaaten in Vertretern des baltischen Deutschtums im Reich. An führender Stelle standen der Publizist, erste Inhaber eines Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte und Kaiser-Protegé Theodor Schiemann, der in Tübingen wirkende Historiker und Bestsellerautor Johannes Haller und - mit unmittelbarer politischer Wirksamkeit - Alfred Rosenberg. Er machte Hitler mit den in Rußland kursierenden, bei Koenen abgehandelten Protokollen der Weisen von Zion bekannt, die konkrete Pläne eines verschworenen Weltjudentums zum Sturz des Zarentums als Beginn einer Weltrevolution beinhalteten. Hitler schloß aus ihnen die Identität von Judentum und Bolschewismus und hielt noch im sogenannten Kommissarbefehl während des Zweiten Weltkrieges an dieser Überzeugung fest, obwohl ein Schweizer Gericht die Protokolle schon längst als Fälschung des zaristischen Geheimdienstes entlarvt hatte.

Innerhalb der NSDAP hat es nicht an russophilen Parteigängern und an konzeptionellen Widersprüchlichkeiten in der Rußland-Politik gefehlt. Koenen erinnert an frühe Kreuzzugsideen gegen den Bolschewismus zur Restitution eines wie auch immer gearteten bürgerlichen, bündnisfähigen Rußlands zwecks gemeinsamen Kampfes gegen das so apostrophierte jüdische Weltkapital und als Bollwerk gegen das Judentum als vermeintliches Synonym für die Demokratien des Westens, insbesondere für die Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Westen, das ist die Parole, mit der wir Zugang zu Koenens Erklärungsmodell deutscher kultureller und politischer Hinwendung zu Rußland erlangen. Der Autor versteht den deutschen Rußland-Komplex als Ausdruck des vergeblichen Widerspruchs gegen deutsche Verwestlichung und Amerikanisierung. Die Urtümlichkeit des russischen Menschen, die kulturelle Vielfalt der Völker des russischen Reiches, die Unergründlichkeit des Landes, die gläubige Inbrunst der Orthodoxie, das Mystische und das Retardierende einerseits, der revolutionäre Auf- und Umbruch, auch und gerade in der Kunst andererseits, ließen die Hoffnung aufkommen: ex oriente lux. Das korrespondierte politisch mit der Einsicht, daß Deutschland seinen verspätet angemeldeten Anspruch auf Mitgestaltung der Weltpolitik nur aus einer europäisch-hegemonialen Position heraus geltend machen konnte. Dazu bedurfte es der territorialen Arrondierung nach Osten entweder im Zusammenwirken mit Rußland, wenn nötig auf dessen Kosten, was durch Hitlers gescheiterte Lebensraumpolitik die Westintegration kultureller, materieller und politischer Art letztlich beschleunigte. Die Weimarer Republik hatte sich mit dem Vertrag von Rapallo und der geheimen deutsch-sowjetischen Rüstung lediglich gegen eine "feindliche Übernahme" (Versailles und Folgeverträge) zu wehren versucht. In dem Widerstand gegen die atlantische Bindung der Bundesrepublik zugunsten eines von Stalin offerierten wiedervereinigten Deutschlands in Neutralität (Martin Niemöller, Gustav Heinemann, Joseph Wirth) sieht Koenen ein letztes Aufbäumen gegen die Westvereinnahmung der Deutschen.

Das Buch zeigt vor dem Hintergrund der Politik diejenigen, die Rußland mit der Seele suchten. Dabei empfiehlt es sich als anspruchsvolle, gewisse geschichtliche und literarische Grundkenntnisse voraussetzende Lektüre, deren Überzeugungskraft jeder Leser selbst auf sich wirken lassen muß.

HANS-ERICH VOLKMANN

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Wolfgang Templin preist Gerd Koenens Studie der deutschen Sicht Russlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für das darin vermittelte "komplexe Bild", das sich von Bewunderung für die "slawisch-russische Seele", über eine "partnerschaftlich-konkurrierende Russlandfixierung" bis zu der Rassenideologie der Nazis, die nach weit reichender Kooperation mit der Sowjetunion später in den slawischen Völkern nur noch zukünftige Sklaven sahen, erstreckt. Hier löst der Autor den einseitigen Blick auf eine vermeintlich fortwährende "Russenfeindschaft", die die "landläufigen Vorstellungen" beherrscht, auf und vermittelt stattdessen ein sich ständig veränderndes Verhältnis der Deutschen zu den Russen, lobt der Rezensent. Insbesondere in den Beziehungen zwischen den Nationalsozialisten zum stalinistischen Russland könne Koenen ein "ambivalentes Verhältnis" nachweisen, und zeigen, dass die von Ernst Nolte behauptete "Bolschewistenfurcht" keineswegs von Anfang an bestanden habe, so Templin zustimmend. Er würde sich einen zweiten Band zu dieser Studie wünschen, die sich mit der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg gründlich befasst, denn er ist von dem kurzen Blick, den der Autor auf das angeblich normalisierte Verhältnis der Deutschen zu den Russen nach 1989 wirft, keineswegs überzeugt. Davon abgesehen aber ist der Rezensent von diesem Band sehr eingenommen.

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Einer der profiliertesten Kenner Russlands hierzulande."
Frankfurter Rundschau, Claus-Jürgen Göpfert

"Für diejenigen, die tiefer in den Komplex der Missverständnisse und Fehleinschätzungen eintauchen und sich ein umfassendes Bild von Deutschlands Verhältnis zu Russland machen wollen."
Internationale Politik, Hanns W. Maull