Gerd Koenen hat die Geschichte der deutschen Ostorientierung zwischen 1900 und 1945 erforscht und in seinem glänzend geschriebenen Buch umfassend dargestellt. Das Spannungsfeld aus Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen, aus heftigen Attraktionen und Phobien, das er eindrucksvoll rekonstruiert, war nicht nur Nährboden für totalitäre Ideologien wie für kulturelle Neuschöpfungen. Es war auch Ausdruck eines Grundkonflikts der Deutschen, die sich erst nach 1945 und einem zweiten verlorenen Weltkrieg endgültig von der Vision einer Zukunft im "Osten" verabschiedet haben.
Seit dem Mittelalter hat der "Osten" immer wieder die Phantasie der Deutschen entzündet. Am Ende des 19. Jahrhunderts und in der Epoche der beiden Weltkriege entstand geradezu ein Rußland-Komplex, der eine deutsche Ostorientierung noch einmal zu einer ernsthaften Alternative für den "langen Weg nach Westen" (Heinrich August Winkler) werden ließ. Die siegreiche Oktoberrevolution schien nicht wenigen Zeitgenossen nur der Auftakt zu noch größeren Ereignissen zu sein, und es waren keineswegs nur Kommunisten, die in einer engen Zusammenarbeit mit dem bolschewistischen Rußland eine Chance für Deutschland sahen, dem Diktat der Siegermächte von Versailles möglichst bald zu entkommen. Gleichzeitig aber brachen sich auch rassistische Ressentiments gegen Slawen und besonders die Ostjuden immer wieder Bahn. Am Ende dieser Epoche beherrschen dann mit den "Lebensraum"-Konzepten der Nationalsozialisten Expansions- und Vernichtungspläne den deutschen Rußland-Komplex.
Seit dem Mittelalter hat der "Osten" immer wieder die Phantasie der Deutschen entzündet. Am Ende des 19. Jahrhunderts und in der Epoche der beiden Weltkriege entstand geradezu ein Rußland-Komplex, der eine deutsche Ostorientierung noch einmal zu einer ernsthaften Alternative für den "langen Weg nach Westen" (Heinrich August Winkler) werden ließ. Die siegreiche Oktoberrevolution schien nicht wenigen Zeitgenossen nur der Auftakt zu noch größeren Ereignissen zu sein, und es waren keineswegs nur Kommunisten, die in einer engen Zusammenarbeit mit dem bolschewistischen Rußland eine Chance für Deutschland sahen, dem Diktat der Siegermächte von Versailles möglichst bald zu entkommen. Gleichzeitig aber brachen sich auch rassistische Ressentiments gegen Slawen und besonders die Ostjuden immer wieder Bahn. Am Ende dieser Epoche beherrschen dann mit den "Lebensraum"-Konzepten der Nationalsozialisten Expansions- und Vernichtungspläne den deutschen Rußland-Komplex.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2005Der Pakt mit dem Osten
Gerd Koenen über den „Russland-Komplex” und das ambivalente Verhältnis der Deutschen zum Bolschewismus
Ohne Lenin kein Hitler, ohne die russische Oktoberrevolution keine Machtergreifung der Nationalsozialisten im Deutschland des Jahres 1933: Wenn die Thesen des Berliner Geschichtsforschers Ernst Nolte, die 1986 den „Historikerstreit” auslösten, einen rationalen Kern hatten, dann war es dieser. Der Urheber der Kontroverse war freilich nicht bei der Behauptung stehen geblieben, die Kommunisten hätten die Angst vor Bürgerkrieg und Diktatur des Proletariats geschürt und dadurch den faschistischen Bewegungen zu ihrem Massenanhang und zur Unterstützung von Teilen der gesellschaftlichen Eliten verholfen. Nolte ging weiter und sprach vom „kausalen Nexus” zwischen bolschewistischem Klassenmord und nationalsozialistischem Rassenmord, so dass sich sein Plädoyer für eine Revision des Geschichtsbildes nur als Versuch deuten ließ, die Judenvernichtung als exzessive Reaktion auf die vorausgegangenen Verbrechen der Sowjetkommunisten erscheinen zu lassen. Die wissenschaftliche Debatte über den Zusammenhang zwischen „1917” und „1933” wurde dadurch nicht gefördert, sondern zurückgeworfen.
Mit der Revolution taktieren
Fast zwei Jahrzehnte nach dem „Historikerstreit” greift der Frankfurter Historiker und Publizist Gerd Koenen in seinem neuesten Buch eine Frage auf, über die ein Disput schon damals lohnend gewesen wäre: Welche Rolle spielte das bolschewistische Russland im politischen Denken Deutschlands zwischen den beiden Weltkriegen? Die umfassend belegte Antwort des Autors lautet: eine sehr viel widersprüchlichere Rolle, als Nolte wahrhaben wollte und will. Angst vor Gewalt, Chaos und Anarchie, vor „russischen Zuständen” auch in Deutschland, war gegen Ende des Ersten Weltkriegs und danach weit verbreitet und ein wichtiger Grund, weshalb die Sozialdemokraten um Friedrich Ebert in der deutschen Revolution von 1918/19, die sie am liebsten ganz verhindert hätten, auf Klassenkompromiss statt auf Klassenkampf setzten. Aber neben Abscheu und Empörung über die Bluttaten der Bolschewiki stand von Anfang an auch Faszination. Von Lenin lernen heißt siegen lernen: Das glaubten nicht nur deutsche Kommunisten, sondern auch manche ihrer politischen Antipoden auf der äußersten Rechten.
Bereits am 29. November 1917, wenige Wochen nach dem Umsturz der Bolschewiki in St. Petersburg, hatte kein geringerer als Kaiser Wilhelm II. verlangt, bei Friedensverhandlungen müsse Deutschland „eine Art Bündnis- oder Freundschaftsverhältnis” mit Russland anstreben. Das war in sich folgerichtig, nachdem Lenin mit deutscher Hilfe vom Schweizer Exil in seine Heimat zurückgekehrt war und dort die Macht ergriffen hatte. Das Deutsche Reich verfolgte 1917/18 kurzfristig das Ziel, den Ring der Gegner zu sprengen und nach Beendigung des Krieges mit Russland alle Kräfte gegen die Westmächte einzusetzen. Längerfristig sollte Sowjetrussland als Juniorpartner Deutschland zur Hegemonie über Europa verhelfen: ein Wunschtraum, dem auch nach der Niederlage und dem Sturz der Monarchie viele Deutsche - vor allem in den Reihen des Militärs, der Diplomatie und der politischen Rechten - anhingen.
Innenpolitisch scharf antikommunistisch, außenpolitisch entschieden prosowjetisch: Für manchen deutschen Nationalisten war das kein Widerspruch. Der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, und der Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, Ago von Maltzan, waren zwei der einflussreichsten Vertreter eines solchen Spagats. Der völkische Schriftsteller Graf Ernst von Reventlow, der seit 1924 erst deutschvölkischer, dann nationalsozialistischer Reichstagsabgeordneter war, propagierte ein antiwestliches Bündnis der beiden weltpolitischen Parias, des Deutschen Reichs und der Sowjetunion, konnte sich damit aber ebensowenig gegen Hitler durchsetzen wie der junge Joseph Goebbels, der erst 1926 konsequent auf die antisowjetische Linie seines Führers einschwenkte. Eine taktische Allianz mit Sowjetrussland und den „unterdrückten Kolonialvölkern” gegen die „senilen Herrenvölker des Westens” fasste 1920 auch der erste Generalsekretär der im Dezember 1918 gegründeten „Antibolschewistischen Liga”, Eduard Stadtler, ins Auge. Studien über die deutschen „Nationalboschewisten”, die „linken Leute von rechts”, in der Weimarer Republik gibt es viele. Koenen fügt ihnen den Blick auf das gesamte politische und intellektuelle Spektrum hinzu. Sein Urteil, „ein aus Überzeugung oder Erfahrung gespeister, entschiedener „Antibolschewismus” sei in der Weimarer Republik vor allem in der politischen Mitte und bei den Sozialdemokraten anzutreffen gewesen, ist gut begründet. Auch fand auf der gemäßigten Linken und in der Mitte der romantische, gegen die politischen Ideen des Westens gerichtete deutsche Dostojewskikult der zwanziger Jahre kaum Widerhall. Es waren nicht zufällig Politiker der Rechten, die eine außenpolitische Annäherung an das bolschewistische Russland unter Berufung auf Bismarck und ältere preußische Traditionen betrieben. Der Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht wäre ohne die Verbindung mit Russland nicht denkbar gewesen, schreibt Koenen. Den deutschen Konservativen der Weimarer Republik war dieser Zusammenhang durchaus bewusst.
Koenens Ansatz ist ein ideengeschichtlicher. Dass er Texte ernst nimmt, ist eine der großen Stärken seines Buches. Mitunter zitiert er freilich allzu ausführlich aus seinen Quellen, ohne sich zu fragen, ob der jeweilige, meist ziemlich unbekannte Autor mehr als nur die eigene Meinung ausdrückte. Die Faszination durch den Bolschewismus auf der politischen Rechten blieb ein intellektuelles Phänomen, also die Sache einer kleinen Minderheit. Die Angst vor einer kommunistischen Revolution in Deutschland hatte eine sehr viel breitere gesellschaftliche Grundlage, und sie war zu keiner Zeit so groß wie nach der Reichstagswahl vom
6. November 1932, bei der die Nationalsozialisten mehr als zwei Millionen Stimmen gegenüber der vorangegangenen Wahl vom 31. Juli 1932 verloren, während die Kommunisten mehr als 600 000 Stimmen hinzugewannen. Dass diese Angst Hitlers Wahlniederlage in einen politischen Sieg verwandeln half, entgeht Koenen aufgrund seines ganz auf „Ideen” ausgerichteten Interesses.
Verglichen mit der Zeit vor 1933 fällt die Darstellung des deutsch-russischen Verhältnisses in den Jahren des Dritten Reichs eher kursorisch aus. Hitlers Judenhass hatte, wie Koenen zu Recht betont, tiefere Gründe als die Gegnerschaft zum Bolschewismus. Letztere konnte er nach 1939 zeitweilig mit dem Argument zurückstellen, der „nationale” Stalin habe die „internationalen” Juden aus der sowjetischen Führung verdrängt. Der Antisemitismus aber war für Hitler zu keiner Zeit verhandelbar. Bei den deutschen „Nationalbolschewisten” war das anders: Dass es unter den Führern der Sowjetunion Juden gab, hinderte sie nicht daran, die außenpolitische Zusammenarbeit mit Moskau zu suchen.
Ein Verhältnis der Hassliebe
Selten ist die Ambivalenz im deutschen Verhältnis zu Russland so scharf herausgearbeitet worden wie von Koenen. Sein glänzend geschriebenes Buch will die Frage beantworten, warum die beiden extremen politischen Bewegungen und Ideologien des 20. Jahrhunderts sich gerade in Russland und Deutschland entwickelt haben und zur Macht gelangt sind. Koenen spricht unter Berufung auf Walter Laqueur von einem „Verhältnis der Hassliebe” zwischen Deutschland und Russland, von einem „System gegenseitiger Entlehnungen und Übertrumpfungen”, von Beziehungen, bei denen es fast immer, explizit oder implizit, um etwas Drittes, nämlich „den Westen”, gegangen sei.
Die Deutschen wähnten sich gemeinhin den Russen kulturell überlegen; viele Intellektuelle sahen in Russland jedoch einen Seelenverwandten im Kampf gegen den westlichen Rationalismus. Den Bolschewismus empfanden die Deutschen zwar überwiegend als Bedrohung, aber es gab auf der Rechten auch Kräfte, für die eine deutsche Großmachtpolitik nur im Bunde mit der Sowjetunion möglich war. Im historischen Rückblick erscheint der „Nationalbolschewismus” verglichen mit dem ideologischen Antibolschewismus als Kuriosität. Nachdem der Bolschewismus untergegangen ist, gehören beide Spielarten des deutschen „Russlandkomplexes” endgültig der Vergangenheit an. Deutschland, ein Land des alten Okzidents, hat sich die politische Kultur des Westens erst nach und infolge der Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 angeeignet. Ob Russland, das nie einen Teil des Okzidents gebildet hat, sich jemals zu einer westlichen Demokratie entwickeln wird, ist eine offene Frage.
HEINRICH AUGUST WINKLER
GERD KOENEN: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945. C.H. Beck Verlag, München 2005. 576 Seiten, 29,90 Euro.
Im Blick deutscher National-Bolschewisten: Lenin und Stalin, auf einem Plakat-Entwurf von Gustav Kluzis aus dem Jahr 1933.
Foto: picture alliance / akg
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Gerd Koenen über den „Russland-Komplex” und das ambivalente Verhältnis der Deutschen zum Bolschewismus
Ohne Lenin kein Hitler, ohne die russische Oktoberrevolution keine Machtergreifung der Nationalsozialisten im Deutschland des Jahres 1933: Wenn die Thesen des Berliner Geschichtsforschers Ernst Nolte, die 1986 den „Historikerstreit” auslösten, einen rationalen Kern hatten, dann war es dieser. Der Urheber der Kontroverse war freilich nicht bei der Behauptung stehen geblieben, die Kommunisten hätten die Angst vor Bürgerkrieg und Diktatur des Proletariats geschürt und dadurch den faschistischen Bewegungen zu ihrem Massenanhang und zur Unterstützung von Teilen der gesellschaftlichen Eliten verholfen. Nolte ging weiter und sprach vom „kausalen Nexus” zwischen bolschewistischem Klassenmord und nationalsozialistischem Rassenmord, so dass sich sein Plädoyer für eine Revision des Geschichtsbildes nur als Versuch deuten ließ, die Judenvernichtung als exzessive Reaktion auf die vorausgegangenen Verbrechen der Sowjetkommunisten erscheinen zu lassen. Die wissenschaftliche Debatte über den Zusammenhang zwischen „1917” und „1933” wurde dadurch nicht gefördert, sondern zurückgeworfen.
Mit der Revolution taktieren
Fast zwei Jahrzehnte nach dem „Historikerstreit” greift der Frankfurter Historiker und Publizist Gerd Koenen in seinem neuesten Buch eine Frage auf, über die ein Disput schon damals lohnend gewesen wäre: Welche Rolle spielte das bolschewistische Russland im politischen Denken Deutschlands zwischen den beiden Weltkriegen? Die umfassend belegte Antwort des Autors lautet: eine sehr viel widersprüchlichere Rolle, als Nolte wahrhaben wollte und will. Angst vor Gewalt, Chaos und Anarchie, vor „russischen Zuständen” auch in Deutschland, war gegen Ende des Ersten Weltkriegs und danach weit verbreitet und ein wichtiger Grund, weshalb die Sozialdemokraten um Friedrich Ebert in der deutschen Revolution von 1918/19, die sie am liebsten ganz verhindert hätten, auf Klassenkompromiss statt auf Klassenkampf setzten. Aber neben Abscheu und Empörung über die Bluttaten der Bolschewiki stand von Anfang an auch Faszination. Von Lenin lernen heißt siegen lernen: Das glaubten nicht nur deutsche Kommunisten, sondern auch manche ihrer politischen Antipoden auf der äußersten Rechten.
Bereits am 29. November 1917, wenige Wochen nach dem Umsturz der Bolschewiki in St. Petersburg, hatte kein geringerer als Kaiser Wilhelm II. verlangt, bei Friedensverhandlungen müsse Deutschland „eine Art Bündnis- oder Freundschaftsverhältnis” mit Russland anstreben. Das war in sich folgerichtig, nachdem Lenin mit deutscher Hilfe vom Schweizer Exil in seine Heimat zurückgekehrt war und dort die Macht ergriffen hatte. Das Deutsche Reich verfolgte 1917/18 kurzfristig das Ziel, den Ring der Gegner zu sprengen und nach Beendigung des Krieges mit Russland alle Kräfte gegen die Westmächte einzusetzen. Längerfristig sollte Sowjetrussland als Juniorpartner Deutschland zur Hegemonie über Europa verhelfen: ein Wunschtraum, dem auch nach der Niederlage und dem Sturz der Monarchie viele Deutsche - vor allem in den Reihen des Militärs, der Diplomatie und der politischen Rechten - anhingen.
Innenpolitisch scharf antikommunistisch, außenpolitisch entschieden prosowjetisch: Für manchen deutschen Nationalisten war das kein Widerspruch. Der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, und der Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, Ago von Maltzan, waren zwei der einflussreichsten Vertreter eines solchen Spagats. Der völkische Schriftsteller Graf Ernst von Reventlow, der seit 1924 erst deutschvölkischer, dann nationalsozialistischer Reichstagsabgeordneter war, propagierte ein antiwestliches Bündnis der beiden weltpolitischen Parias, des Deutschen Reichs und der Sowjetunion, konnte sich damit aber ebensowenig gegen Hitler durchsetzen wie der junge Joseph Goebbels, der erst 1926 konsequent auf die antisowjetische Linie seines Führers einschwenkte. Eine taktische Allianz mit Sowjetrussland und den „unterdrückten Kolonialvölkern” gegen die „senilen Herrenvölker des Westens” fasste 1920 auch der erste Generalsekretär der im Dezember 1918 gegründeten „Antibolschewistischen Liga”, Eduard Stadtler, ins Auge. Studien über die deutschen „Nationalboschewisten”, die „linken Leute von rechts”, in der Weimarer Republik gibt es viele. Koenen fügt ihnen den Blick auf das gesamte politische und intellektuelle Spektrum hinzu. Sein Urteil, „ein aus Überzeugung oder Erfahrung gespeister, entschiedener „Antibolschewismus” sei in der Weimarer Republik vor allem in der politischen Mitte und bei den Sozialdemokraten anzutreffen gewesen, ist gut begründet. Auch fand auf der gemäßigten Linken und in der Mitte der romantische, gegen die politischen Ideen des Westens gerichtete deutsche Dostojewskikult der zwanziger Jahre kaum Widerhall. Es waren nicht zufällig Politiker der Rechten, die eine außenpolitische Annäherung an das bolschewistische Russland unter Berufung auf Bismarck und ältere preußische Traditionen betrieben. Der Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht wäre ohne die Verbindung mit Russland nicht denkbar gewesen, schreibt Koenen. Den deutschen Konservativen der Weimarer Republik war dieser Zusammenhang durchaus bewusst.
Koenens Ansatz ist ein ideengeschichtlicher. Dass er Texte ernst nimmt, ist eine der großen Stärken seines Buches. Mitunter zitiert er freilich allzu ausführlich aus seinen Quellen, ohne sich zu fragen, ob der jeweilige, meist ziemlich unbekannte Autor mehr als nur die eigene Meinung ausdrückte. Die Faszination durch den Bolschewismus auf der politischen Rechten blieb ein intellektuelles Phänomen, also die Sache einer kleinen Minderheit. Die Angst vor einer kommunistischen Revolution in Deutschland hatte eine sehr viel breitere gesellschaftliche Grundlage, und sie war zu keiner Zeit so groß wie nach der Reichstagswahl vom
6. November 1932, bei der die Nationalsozialisten mehr als zwei Millionen Stimmen gegenüber der vorangegangenen Wahl vom 31. Juli 1932 verloren, während die Kommunisten mehr als 600 000 Stimmen hinzugewannen. Dass diese Angst Hitlers Wahlniederlage in einen politischen Sieg verwandeln half, entgeht Koenen aufgrund seines ganz auf „Ideen” ausgerichteten Interesses.
Verglichen mit der Zeit vor 1933 fällt die Darstellung des deutsch-russischen Verhältnisses in den Jahren des Dritten Reichs eher kursorisch aus. Hitlers Judenhass hatte, wie Koenen zu Recht betont, tiefere Gründe als die Gegnerschaft zum Bolschewismus. Letztere konnte er nach 1939 zeitweilig mit dem Argument zurückstellen, der „nationale” Stalin habe die „internationalen” Juden aus der sowjetischen Führung verdrängt. Der Antisemitismus aber war für Hitler zu keiner Zeit verhandelbar. Bei den deutschen „Nationalbolschewisten” war das anders: Dass es unter den Führern der Sowjetunion Juden gab, hinderte sie nicht daran, die außenpolitische Zusammenarbeit mit Moskau zu suchen.
Ein Verhältnis der Hassliebe
Selten ist die Ambivalenz im deutschen Verhältnis zu Russland so scharf herausgearbeitet worden wie von Koenen. Sein glänzend geschriebenes Buch will die Frage beantworten, warum die beiden extremen politischen Bewegungen und Ideologien des 20. Jahrhunderts sich gerade in Russland und Deutschland entwickelt haben und zur Macht gelangt sind. Koenen spricht unter Berufung auf Walter Laqueur von einem „Verhältnis der Hassliebe” zwischen Deutschland und Russland, von einem „System gegenseitiger Entlehnungen und Übertrumpfungen”, von Beziehungen, bei denen es fast immer, explizit oder implizit, um etwas Drittes, nämlich „den Westen”, gegangen sei.
Die Deutschen wähnten sich gemeinhin den Russen kulturell überlegen; viele Intellektuelle sahen in Russland jedoch einen Seelenverwandten im Kampf gegen den westlichen Rationalismus. Den Bolschewismus empfanden die Deutschen zwar überwiegend als Bedrohung, aber es gab auf der Rechten auch Kräfte, für die eine deutsche Großmachtpolitik nur im Bunde mit der Sowjetunion möglich war. Im historischen Rückblick erscheint der „Nationalbolschewismus” verglichen mit dem ideologischen Antibolschewismus als Kuriosität. Nachdem der Bolschewismus untergegangen ist, gehören beide Spielarten des deutschen „Russlandkomplexes” endgültig der Vergangenheit an. Deutschland, ein Land des alten Okzidents, hat sich die politische Kultur des Westens erst nach und infolge der Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 angeeignet. Ob Russland, das nie einen Teil des Okzidents gebildet hat, sich jemals zu einer westlichen Demokratie entwickeln wird, ist eine offene Frage.
HEINRICH AUGUST WINKLER
GERD KOENEN: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945. C.H. Beck Verlag, München 2005. 576 Seiten, 29,90 Euro.
Im Blick deutscher National-Bolschewisten: Lenin und Stalin, auf einem Plakat-Entwurf von Gustav Kluzis aus dem Jahr 1933.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2005Rußland mit der Seele suchend
Das schwierige Verhältnis der Deutschen zum großen Nachbarn im Osten
Gerd Koenen: Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945. Verlag C. H. Beck, München 2005. 528 Seiten, 29,90 [Euro].
Bilder wandeln sich unter veränderter Perspektive ihrer Schöpfer und Betrachter. Das gilt auch für Geschichtsbilder. Wer ein neues Bild mit dem alten, viel strapazierten Motiv Rußland entwirft, muß überlieferte Darstellungen für weitgehend oder partiell unzutreffend, für unpräzise oder überzeichnet halten. Gerd Koenen bedauert die seit der russischen Revolution in der deutschen Öffentlichkeit für dominant erachteten antibolschewistisch-russophoben Klischees, die dem Historiker Ernst Nolte als Vorlage seiner apologiebehafteten Interpretation vom Nationalsozialismus als zwangsläufiger Reaktion auf den Sozialismus/Kommunismus Moskauer Prägung dienten. Wenn Koenen diese heftigen kollegialen Widerspruch provozierende These Noltes als "im großen und ganzen ... herrschende Auffassung der bundesdeutschen Historiographie" apostrophiert, läßt er den komplizierten Geschichtsdiskurs über Ursprung und Zielsetzung des Faschismus und Nationalsozialismus außer acht. Ebenso wenig überzeugend ist seine mit Ideologieverdacht behaftete Feststellung einer Konvergenz zwischen vermeintlich linken westdeutschen mit ostdeutschen Forschern während der Perestrojka in der Beurteilung der NS-Bewegung als bürgerlichen antikommunistischen Stoßtrupp.
Beide Interpretationsmuster dienen dem Autor als Folie kontrapunktischer Korrektur. Will er doch aufzeigen, daß das junge Sowjetrußland neben den negativen auch positive politische Reaktionen, insbesondere kulturell-identifikatorischer Art, auslöste. Koenen beklagt, daß unter der starken Beachtung des von dem Historiker Heinrich August Winkler aufgezeigten und verfolgten langen Weges Deutschlands gen Westen im Sinne einer politischen und materiellen Bindung eine entgegengesetzte intensive geistige, kulturelle und zeitweilig auch politische Ostorientierung nicht hinreichend ins historische Bewußtsein der Deutschen gerückt wurde. Sein Buch soll das Versäumte mit Blick auf das "neue" Rußland nachholen.
Das "neue" Rußland setzte natürlich nicht mit Lenin ein, sondern mit einem industriellen und technologischen Modernisierungsschub zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der die absolute Zarenherrschaft stützen sollte, in Wirklichkeit aber die sozialen und ideologischen Voraussetzungen seines Untergangs schuf. Ungefähr gleichzeitig trat Rußland mit Tolstoi, Dostojewski, Gorki und anderen, mit modernem klassischem Ballett und existentialistischer Malerei als europäische Kulturnation auf, als ein in sich widersprüchliches Faszinoikum für deutsche intellektuelle Kreise, das es selbst in bolschewistischer Zeit blieb.
Was das Buch so lesenswert macht, ist nicht sein faktographischer Neuigkeitsgehalt. Es ist vielmehr der Versuch, Rußland beziehungsweise die Sowjetunion als Objekt machtpolitischen und damit außenpolitischen Kalküls in Verbindung mit dem russischen Menschen, mit den innenpolitischen und kulturellen Konstellationen des Landes zu bringen, wie sie von interessierten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Koenen versteht sich als Führer durch die Galerie ambivalenter, zumeist literarischer und publizistischer Bilder und Zukunftsentwürfe von Rußland vor dem politischen Hintergrund imperialer, hegemonialer und rassenideologisch-expansiver Ostraumintentionen.
Dabei werden alte Meister des schriftstellerisch ambitionierten Journalismus wiederentdeckt, wie Alfons Paquet, der als junger Student 1903 mit der gerade fertiggestellten Transsibirischen Eisenbahn reiste. Während seiner Tätigkeit in einer Nachrichtenabteilung des Heeres im Ersten Weltkrieg konnte er Rußland bereisen und nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk als erster deutscher Journalist und Presseattaché der Botschaft vor Ort eindrucksvolle Erfahrungen mit der in Gang befindlichen Revolution sammeln. Paquet fungiert als Leitfigur des Buches, um die herum die Schar derjenigen gruppiert ist, die Rußland beziehungsweise die Sowjetunion in Politik, Publizistik, Literatur und Wissenschaft zum Thema öffentlicher Diskussion stilisierten. Da werden diejenigen vorgestellt, die einer intellektuell-literarischen Annäherung an Rußland das Wort reden, selbst während des Ersten Weltkrieges und der bolschewistischen Revolution, die, wie Thomas Mann, eine nationale Seelenverwandtschaft zwischen Rußland und Deutschland als Grundlage einer zukünftigen Bündnispolitik ausmachten.
Wir begegnen aber auch im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg den Protagonisten einer Dekompositionsstrategie in Anbetracht der Vielvölkerstruktur des östlichen Nachbarstaates mit seinen sich potenzierenden Nationalitätenproblemen. Über vernehmbare Stimmen verfügten die Befürworter einer Aufweichung der russischen Westflanke mittels territorialer Abtrennung neu zu etablierender Randstaaten in Vertretern des baltischen Deutschtums im Reich. An führender Stelle standen der Publizist, erste Inhaber eines Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte und Kaiser-Protegé Theodor Schiemann, der in Tübingen wirkende Historiker und Bestsellerautor Johannes Haller und - mit unmittelbarer politischer Wirksamkeit - Alfred Rosenberg. Er machte Hitler mit den in Rußland kursierenden, bei Koenen abgehandelten Protokollen der Weisen von Zion bekannt, die konkrete Pläne eines verschworenen Weltjudentums zum Sturz des Zarentums als Beginn einer Weltrevolution beinhalteten. Hitler schloß aus ihnen die Identität von Judentum und Bolschewismus und hielt noch im sogenannten Kommissarbefehl während des Zweiten Weltkrieges an dieser Überzeugung fest, obwohl ein Schweizer Gericht die Protokolle schon längst als Fälschung des zaristischen Geheimdienstes entlarvt hatte.
Innerhalb der NSDAP hat es nicht an russophilen Parteigängern und an konzeptionellen Widersprüchlichkeiten in der Rußland-Politik gefehlt. Koenen erinnert an frühe Kreuzzugsideen gegen den Bolschewismus zur Restitution eines wie auch immer gearteten bürgerlichen, bündnisfähigen Rußlands zwecks gemeinsamen Kampfes gegen das so apostrophierte jüdische Weltkapital und als Bollwerk gegen das Judentum als vermeintliches Synonym für die Demokratien des Westens, insbesondere für die Vereinigten Staaten von Amerika.
Der Westen, das ist die Parole, mit der wir Zugang zu Koenens Erklärungsmodell deutscher kultureller und politischer Hinwendung zu Rußland erlangen. Der Autor versteht den deutschen Rußland-Komplex als Ausdruck des vergeblichen Widerspruchs gegen deutsche Verwestlichung und Amerikanisierung. Die Urtümlichkeit des russischen Menschen, die kulturelle Vielfalt der Völker des russischen Reiches, die Unergründlichkeit des Landes, die gläubige Inbrunst der Orthodoxie, das Mystische und das Retardierende einerseits, der revolutionäre Auf- und Umbruch, auch und gerade in der Kunst andererseits, ließen die Hoffnung aufkommen: ex oriente lux. Das korrespondierte politisch mit der Einsicht, daß Deutschland seinen verspätet angemeldeten Anspruch auf Mitgestaltung der Weltpolitik nur aus einer europäisch-hegemonialen Position heraus geltend machen konnte. Dazu bedurfte es der territorialen Arrondierung nach Osten entweder im Zusammenwirken mit Rußland, wenn nötig auf dessen Kosten, was durch Hitlers gescheiterte Lebensraumpolitik die Westintegration kultureller, materieller und politischer Art letztlich beschleunigte. Die Weimarer Republik hatte sich mit dem Vertrag von Rapallo und der geheimen deutsch-sowjetischen Rüstung lediglich gegen eine "feindliche Übernahme" (Versailles und Folgeverträge) zu wehren versucht. In dem Widerstand gegen die atlantische Bindung der Bundesrepublik zugunsten eines von Stalin offerierten wiedervereinigten Deutschlands in Neutralität (Martin Niemöller, Gustav Heinemann, Joseph Wirth) sieht Koenen ein letztes Aufbäumen gegen die Westvereinnahmung der Deutschen.
Das Buch zeigt vor dem Hintergrund der Politik diejenigen, die Rußland mit der Seele suchten. Dabei empfiehlt es sich als anspruchsvolle, gewisse geschichtliche und literarische Grundkenntnisse voraussetzende Lektüre, deren Überzeugungskraft jeder Leser selbst auf sich wirken lassen muß.
HANS-ERICH VOLKMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das schwierige Verhältnis der Deutschen zum großen Nachbarn im Osten
Gerd Koenen: Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945. Verlag C. H. Beck, München 2005. 528 Seiten, 29,90 [Euro].
Bilder wandeln sich unter veränderter Perspektive ihrer Schöpfer und Betrachter. Das gilt auch für Geschichtsbilder. Wer ein neues Bild mit dem alten, viel strapazierten Motiv Rußland entwirft, muß überlieferte Darstellungen für weitgehend oder partiell unzutreffend, für unpräzise oder überzeichnet halten. Gerd Koenen bedauert die seit der russischen Revolution in der deutschen Öffentlichkeit für dominant erachteten antibolschewistisch-russophoben Klischees, die dem Historiker Ernst Nolte als Vorlage seiner apologiebehafteten Interpretation vom Nationalsozialismus als zwangsläufiger Reaktion auf den Sozialismus/Kommunismus Moskauer Prägung dienten. Wenn Koenen diese heftigen kollegialen Widerspruch provozierende These Noltes als "im großen und ganzen ... herrschende Auffassung der bundesdeutschen Historiographie" apostrophiert, läßt er den komplizierten Geschichtsdiskurs über Ursprung und Zielsetzung des Faschismus und Nationalsozialismus außer acht. Ebenso wenig überzeugend ist seine mit Ideologieverdacht behaftete Feststellung einer Konvergenz zwischen vermeintlich linken westdeutschen mit ostdeutschen Forschern während der Perestrojka in der Beurteilung der NS-Bewegung als bürgerlichen antikommunistischen Stoßtrupp.
Beide Interpretationsmuster dienen dem Autor als Folie kontrapunktischer Korrektur. Will er doch aufzeigen, daß das junge Sowjetrußland neben den negativen auch positive politische Reaktionen, insbesondere kulturell-identifikatorischer Art, auslöste. Koenen beklagt, daß unter der starken Beachtung des von dem Historiker Heinrich August Winkler aufgezeigten und verfolgten langen Weges Deutschlands gen Westen im Sinne einer politischen und materiellen Bindung eine entgegengesetzte intensive geistige, kulturelle und zeitweilig auch politische Ostorientierung nicht hinreichend ins historische Bewußtsein der Deutschen gerückt wurde. Sein Buch soll das Versäumte mit Blick auf das "neue" Rußland nachholen.
Das "neue" Rußland setzte natürlich nicht mit Lenin ein, sondern mit einem industriellen und technologischen Modernisierungsschub zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der die absolute Zarenherrschaft stützen sollte, in Wirklichkeit aber die sozialen und ideologischen Voraussetzungen seines Untergangs schuf. Ungefähr gleichzeitig trat Rußland mit Tolstoi, Dostojewski, Gorki und anderen, mit modernem klassischem Ballett und existentialistischer Malerei als europäische Kulturnation auf, als ein in sich widersprüchliches Faszinoikum für deutsche intellektuelle Kreise, das es selbst in bolschewistischer Zeit blieb.
Was das Buch so lesenswert macht, ist nicht sein faktographischer Neuigkeitsgehalt. Es ist vielmehr der Versuch, Rußland beziehungsweise die Sowjetunion als Objekt machtpolitischen und damit außenpolitischen Kalküls in Verbindung mit dem russischen Menschen, mit den innenpolitischen und kulturellen Konstellationen des Landes zu bringen, wie sie von interessierten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Koenen versteht sich als Führer durch die Galerie ambivalenter, zumeist literarischer und publizistischer Bilder und Zukunftsentwürfe von Rußland vor dem politischen Hintergrund imperialer, hegemonialer und rassenideologisch-expansiver Ostraumintentionen.
Dabei werden alte Meister des schriftstellerisch ambitionierten Journalismus wiederentdeckt, wie Alfons Paquet, der als junger Student 1903 mit der gerade fertiggestellten Transsibirischen Eisenbahn reiste. Während seiner Tätigkeit in einer Nachrichtenabteilung des Heeres im Ersten Weltkrieg konnte er Rußland bereisen und nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk als erster deutscher Journalist und Presseattaché der Botschaft vor Ort eindrucksvolle Erfahrungen mit der in Gang befindlichen Revolution sammeln. Paquet fungiert als Leitfigur des Buches, um die herum die Schar derjenigen gruppiert ist, die Rußland beziehungsweise die Sowjetunion in Politik, Publizistik, Literatur und Wissenschaft zum Thema öffentlicher Diskussion stilisierten. Da werden diejenigen vorgestellt, die einer intellektuell-literarischen Annäherung an Rußland das Wort reden, selbst während des Ersten Weltkrieges und der bolschewistischen Revolution, die, wie Thomas Mann, eine nationale Seelenverwandtschaft zwischen Rußland und Deutschland als Grundlage einer zukünftigen Bündnispolitik ausmachten.
Wir begegnen aber auch im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg den Protagonisten einer Dekompositionsstrategie in Anbetracht der Vielvölkerstruktur des östlichen Nachbarstaates mit seinen sich potenzierenden Nationalitätenproblemen. Über vernehmbare Stimmen verfügten die Befürworter einer Aufweichung der russischen Westflanke mittels territorialer Abtrennung neu zu etablierender Randstaaten in Vertretern des baltischen Deutschtums im Reich. An führender Stelle standen der Publizist, erste Inhaber eines Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte und Kaiser-Protegé Theodor Schiemann, der in Tübingen wirkende Historiker und Bestsellerautor Johannes Haller und - mit unmittelbarer politischer Wirksamkeit - Alfred Rosenberg. Er machte Hitler mit den in Rußland kursierenden, bei Koenen abgehandelten Protokollen der Weisen von Zion bekannt, die konkrete Pläne eines verschworenen Weltjudentums zum Sturz des Zarentums als Beginn einer Weltrevolution beinhalteten. Hitler schloß aus ihnen die Identität von Judentum und Bolschewismus und hielt noch im sogenannten Kommissarbefehl während des Zweiten Weltkrieges an dieser Überzeugung fest, obwohl ein Schweizer Gericht die Protokolle schon längst als Fälschung des zaristischen Geheimdienstes entlarvt hatte.
Innerhalb der NSDAP hat es nicht an russophilen Parteigängern und an konzeptionellen Widersprüchlichkeiten in der Rußland-Politik gefehlt. Koenen erinnert an frühe Kreuzzugsideen gegen den Bolschewismus zur Restitution eines wie auch immer gearteten bürgerlichen, bündnisfähigen Rußlands zwecks gemeinsamen Kampfes gegen das so apostrophierte jüdische Weltkapital und als Bollwerk gegen das Judentum als vermeintliches Synonym für die Demokratien des Westens, insbesondere für die Vereinigten Staaten von Amerika.
Der Westen, das ist die Parole, mit der wir Zugang zu Koenens Erklärungsmodell deutscher kultureller und politischer Hinwendung zu Rußland erlangen. Der Autor versteht den deutschen Rußland-Komplex als Ausdruck des vergeblichen Widerspruchs gegen deutsche Verwestlichung und Amerikanisierung. Die Urtümlichkeit des russischen Menschen, die kulturelle Vielfalt der Völker des russischen Reiches, die Unergründlichkeit des Landes, die gläubige Inbrunst der Orthodoxie, das Mystische und das Retardierende einerseits, der revolutionäre Auf- und Umbruch, auch und gerade in der Kunst andererseits, ließen die Hoffnung aufkommen: ex oriente lux. Das korrespondierte politisch mit der Einsicht, daß Deutschland seinen verspätet angemeldeten Anspruch auf Mitgestaltung der Weltpolitik nur aus einer europäisch-hegemonialen Position heraus geltend machen konnte. Dazu bedurfte es der territorialen Arrondierung nach Osten entweder im Zusammenwirken mit Rußland, wenn nötig auf dessen Kosten, was durch Hitlers gescheiterte Lebensraumpolitik die Westintegration kultureller, materieller und politischer Art letztlich beschleunigte. Die Weimarer Republik hatte sich mit dem Vertrag von Rapallo und der geheimen deutsch-sowjetischen Rüstung lediglich gegen eine "feindliche Übernahme" (Versailles und Folgeverträge) zu wehren versucht. In dem Widerstand gegen die atlantische Bindung der Bundesrepublik zugunsten eines von Stalin offerierten wiedervereinigten Deutschlands in Neutralität (Martin Niemöller, Gustav Heinemann, Joseph Wirth) sieht Koenen ein letztes Aufbäumen gegen die Westvereinnahmung der Deutschen.
Das Buch zeigt vor dem Hintergrund der Politik diejenigen, die Rußland mit der Seele suchten. Dabei empfiehlt es sich als anspruchsvolle, gewisse geschichtliche und literarische Grundkenntnisse voraussetzende Lektüre, deren Überzeugungskraft jeder Leser selbst auf sich wirken lassen muß.
HANS-ERICH VOLKMANN
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Wolfgang Templin preist Gerd Koenens Studie der deutschen Sicht Russlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für das darin vermittelte "komplexe Bild", das sich von Bewunderung für die "slawisch-russische Seele", über eine "partnerschaftlich-konkurrierende Russlandfixierung" bis zu der Rassenideologie der Nazis, die nach weit reichender Kooperation mit der Sowjetunion später in den slawischen Völkern nur noch zukünftige Sklaven sahen, erstreckt. Hier löst der Autor den einseitigen Blick auf eine vermeintlich fortwährende "Russenfeindschaft", die die "landläufigen Vorstellungen" beherrscht, auf und vermittelt stattdessen ein sich ständig veränderndes Verhältnis der Deutschen zu den Russen, lobt der Rezensent. Insbesondere in den Beziehungen zwischen den Nationalsozialisten zum stalinistischen Russland könne Koenen ein "ambivalentes Verhältnis" nachweisen, und zeigen, dass die von Ernst Nolte behauptete "Bolschewistenfurcht" keineswegs von Anfang an bestanden habe, so Templin zustimmend. Er würde sich einen zweiten Band zu dieser Studie wünschen, die sich mit der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg gründlich befasst, denn er ist von dem kurzen Blick, den der Autor auf das angeblich normalisierte Verhältnis der Deutschen zu den Russen nach 1989 wirft, keineswegs überzeugt. Davon abgesehen aber ist der Rezensent von diesem Band sehr eingenommen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Einer der profiliertesten Kenner Russlands hierzulande."
Frankfurter Rundschau, Claus-Jürgen Göpfert
"Für diejenigen, die tiefer in den Komplex der Missverständnisse und Fehleinschätzungen eintauchen und sich ein umfassendes Bild von Deutschlands Verhältnis zu Russland machen wollen."
Internationale Politik, Hanns W. Maull
Frankfurter Rundschau, Claus-Jürgen Göpfert
"Für diejenigen, die tiefer in den Komplex der Missverständnisse und Fehleinschätzungen eintauchen und sich ein umfassendes Bild von Deutschlands Verhältnis zu Russland machen wollen."
Internationale Politik, Hanns W. Maull