Zwei Freunde und Weggefährten im Gespräch: Die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa und der renommierte deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel diskutieren über ihre Heimatländer, deren Beziehung in einer tiefen Krise steckt. Ausgang ungewiss.
Schockiert schauen sie auf die erneute Instrumentalisierung von Geschichte und die Rückkehr rhetorischer Stilmittel aus sowjetischen Zeiten. Persönlich und selbstkritisch berichten sie von ihren Lebens- und Arbeitserfahrungen zwischen Kaltem Krieg, Glasnost und der Putin-Zeit, sprechen kenntnisreich und engagiert über aktuelle politische Tendenzen und den Ukraine-Konflikt.
Dabei bekennen sie sich leidenschaftlich zum Geist der Aufklärung, der Pflicht zum Selberdenken und fordern vehement das Recht des freien Wortes - in beiden Ländern.
Schockiert schauen sie auf die erneute Instrumentalisierung von Geschichte und die Rückkehr rhetorischer Stilmittel aus sowjetischen Zeiten. Persönlich und selbstkritisch berichten sie von ihren Lebens- und Arbeitserfahrungen zwischen Kaltem Krieg, Glasnost und der Putin-Zeit, sprechen kenntnisreich und engagiert über aktuelle politische Tendenzen und den Ukraine-Konflikt.
Dabei bekennen sie sich leidenschaftlich zum Geist der Aufklärung, der Pflicht zum Selberdenken und fordern vehement das Recht des freien Wortes - in beiden Ländern.
König aus Zufall
Journalisten, Historiker, Bürgerrechtler: Gerade versuchen alle, das System Putin zu analysieren.
Je nach Methode offenbart sich Überraschendes, Treffendes oder Absonderliches. Ein Überblick
VON JULIAN HANS
Jede Katastrophe erfordert eine Analyse. Einkaufszentren brennen, Züge stoßen zusammen und immer stellen sich Experten hinterher dieselben Fragen: Wurden Warnungen rechtzeitig erkannt und ernst genommen? Haben alle Systeme so funktioniert wie vorgesehen? Gab es Fehler in der Konstruktion? Haben die Rettungssysteme funktioniert? Nur wenn wirklich verstanden wurde, was passiert ist, können künftig Katastrophen verhindert werden.
Die Sicherheitsarchitektur in Europa ist nach 1945 mit einem obersten Ziel aufgebaut und gelegentlich nachgebessert worden: Die Staaten auf dem Kontinent waren sich einig, dass Konflikte nur durch Ausgleich und Verhandlung gelöst werden dürfen, nie wieder sollten Interessen mit Gewalt durchgesetzt werden. Fast 70 Jahre lang hat das weitgehend funktioniert – trotz aller politischer Umwälzungen in dieser Zeit. Aber 2014 ist etwas schiefgegangen: Mit der Annexion der Krim hat erstmals wieder ein Staat seinem Nachbarn ein Stück seines Territoriums mit Gewalt entrissen. Und zum ersten Mal gibt es in Europa einen Krieg, an dem eine Atommacht beteiligt ist.
Allerdings gibt es bei politischen Katastrophen eine Besonderheit: Es genügt nicht, wenn die Spezialisten verstanden haben, wo der Fehler lag. Nur wenn dies auch der Öffentlichkeit klar wird, kann es wirksame Veränderungen geben.
Von den zahlreichen Russland- und Putin-Büchern, die jetzt frisch erschienen sind, gelingt das dem von Katja Gloger am besten. Die Stern-Autorin hat in ihrer Zeit als Korrespondentin in Moskau die wilden Neunzigerjahre erlebt und einen blassen KGB-Offizier während seiner ersten Schritte als Premierminister und kurz darauf als Präsidenten des Landes begleitet. Seitdem hat sie seinen Weg und die Entwicklung des Landes weiter verfolgt, von Deutschland aus und als Korrespondentin in den USA.
Diese Erfahrung erlaubt es der Autorin, Schneisen in das Dickicht manchmal mehrdeutiger Ereignisse zu schlagen und rote Fäden aufzuzeigen: Sie zeigt den Aufstieg einer kleinen Mannschaft aus Sankt Petersburg zur Elite, die heute Politik und Wirtschaft bestimmt. Sie zeichnet nach, warum und mit welchen Mitteln Medien und Zivilgesellschaft unter Kontrolle gebracht wurden. Sie macht verständlich, welche Ängste und innenpolitischen Zwänge Wladimir Putin in die außenpolitische Konfrontation geführt haben – und welche Missverständnisse und Fehler es dabei auch im Westen gegeben hat.
Gloger beschreibt den ideologischen Urschlamm, aus dem „Russlands Konterrevolution gegen die Moderne“, wurde. Ein „Gebräu aus chauvinistisch-neoimperialen Träumen, sentimentalem Volkstum, militant-orthodoxem Christentum und schamloser Geschichtsklitterei“.
Einzig das Kapitel über die Entwicklung in der Ukraine fällt etwas ab. Gloger beschreibt zwar den Beginn der Maidan-Bewegung in Kiew als spontane Reaktion einiger Aktivisten und Studenten auf die Absage der EU-Assoziation. Aber die Dynamik, mit der sich der Protest zur Gewalt hochschaukelte – als Reaktion auf Polizeigewalt und auf ein eilig erlassenes Bündel repressiver Gesetze, die die Grundrechte massiv einschränkten – bleibt im Vagen. Diese Dynamik zu verstehen ist wichtig, um der Desinformation entgegenzutreten, die Vereinigten Staaten hätten den Protest bestellt und bezahlt.
Dennoch zieht Gloger auch hier den richtigen Schluss: „Der Maidan des Jahres 2014 war vieles: ein Symbol geduldigen zivilen Widerstandes, Brutkasten einer neuen, ukrainischen Identität, Ort einer blutig eskalierenden Machtprobe. Aber der Maidan war kein ,Staatsstreich‘, und es kamen auch keine von den USA finanzierten ,Faschisten‘ an die Macht“.
Wie kann es weitergehen mit Russland? Europa blieben nur „Einigkeit und strategische Geduld“, lautet Glogers Fazit. Und die „verwegene Hoffnung, dass die Politik der ganz kleinen Schritte auf Dauer machtvoller ist als Eskalationsdominanz“.
Seit Hubert Seipels Dokumentation „Ich, Putin“ vor drei Jahren im deutschen Fernsehen lief, hat er den Ruf, einen besonderen Zugang zum russischen Präsidenten zu haben. Er hat ihn mehrmals zu Gesprächen getroffen und auf Terminen begleitet. Aber was hilft, um Zugang für Kameras zu schaffen, bringt in Buchform nichts Neues zutage. Anders als Gloger ist Seipel kein Russland-Kenner. Sein Buch „Putin“ lebt von der Nähe zu seinem Protagonisten – und scheitert an ihr.
Seipel bemüht sich, Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er gleich im Vorwort erklärt, es sei nichts ungewöhnliches, dass Journalisten dafür, dass sie exklusive Informationen bekommen, von Politikern benutzt würden. Wie Seipel benutzt wird, wird beim Lesen schnell klar. Aber wo sind die exklusiven Informationen? Die Zitate, die Seipel aus den Gesprächen destilliert, hat der Präsident alle so oder anders formuliert schon zig Mal auf Pressekonferenzen oder im russischen Fernsehen gesagt.
Seipel macht keinen Hehl daraus, dass ihn beim Schreiben ein Brass auf die westlichen Medien getrieben hat, die Russland in einem fort zu belehren versuchten. Und worauf stützt sich sein Buch außer auf die Zusammenkünfte mit Putin und ausgewählten Akteuren? Auf Berichte in jenen amerikanischen und deutschen Medien, die er an anderer Stelle als einseitig verdammt. Da er kein Russisch versteht, kann Seipel weder die Rolle des Fernsehens beim Schüren des Krieges im Donbass einschätzen, noch die vielen Recherchen und Analysen redlicher russischer Journalisten berücksichtigen.
Sein Buch ist zu einer Verteidigungsschrift für Putin geraten, in der er Bekanntes nur neu interpretiert und alles, was nicht in seine Deutung passt, weglässt. Ein besonders krasses Beispiel ist seine Beschreibung des Besuches von Angela Merkel zum 70. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland. Nicht genug, dass Merkel nicht an der Militärparade teilnahm, sie habe auch noch die Annexion der Krim auf eine Stufe mit dem Holocaust gestellt, heißt es. Holocaust-Verharmlosungen sind so ziemlich das Schlimmste, was sich ein deutscher Politiker erlauben kann. Warum berichtete kein deutsches Medium darüber? Das Protokoll des Treffens in Moskau kann jeder auf der Website der Bundesregierung nachlesen. Wer dem nicht traut, findet auch eines auf der Seite des Kremls. Angela Merkel sprach lange über die Schuld, die Deutschland durch den Vernichtungs- und Raubkrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion auf sich geladen hat. Sie erinnerte auch an die „Verbrechen des Holocaust“.
Erst viel später im Text heißt es, das gute Verhältnis zu Russland habe „durch die „verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim“ einen Rückschlag erlitten. Man kann Merkel vorwerfen, dass sie das Wort „verbrecherisch“, das bisher für den Ostfeldzug der Wehrmacht reserviert war, ungerechtfertigt benutzt hat. Um daraus aber eine Gleichsetzung mit dem Holocaust zu machen, muss man die Ereignisse schon gewaltig verzerren.
Dass Putin im weiteren Verlauf der Pressekonferenz den Hitler-Stalin-Pakt rechtfertigte und sagte, die Polen seien praktisch selbst schuld an ihrer Aufteilung gewesen und sollten heute einfach ihre Ängste überwinden – das alles fehlt bei Seipel. Warum? Weitere Beispiele für – vorsichtig ausgedrückt – eigenwillige Interpretationen finden sich fast auf jeder Seite. So erscheint der treu-tollpatschige Dmitrij Medwedew bei Seipel geradezu als Machiavellist, dessen Machthunger Putin zuvorkommen musste, als 2011 die Entscheidung bevorstand, wer bei der Präsidentenwahl ins Rennen geht.
Trotz der inhaltlichen Schwäche wird es wohl Seipels Putin-Porträt sein, dass neben Gabriele Krone-Schmalz einen Platz auf den Bestseller-Regalen finden wird. Russland-Kitsch und Verständnis für autoritäre Herrscher locken in Deutschland mehr Leser als tief gehende Analysen.
Dass allein der Ansatz, Putin zu verstehen, wenig Erkenntnis verspricht, wird nach der Lektüre von Michail Sygars „Endspiel“ klar. Der junge Chefredakteur des liberalen russischen Fernsehsenders Doschd hat mit vielen Akteuren gesprochen, die das System Putin gemacht haben und es weiter prägen. Angefangen vom ehemaligen Chef der Präsidialadministration, Alexander Woloschin, über Michail Chodorkowskij, Dmitrij Medwedew bis zu Putins Sprecher Dmitrij Peskow und dem ehemaligen Finanzminister und Gefährten aus Petersburger Tagen, Alexej Kudrin.
Der Leser lernt die Spin-Doktoren Gleb Pawlowskij und Stanislaw Belkowskij kennen, die die russische Politik über Jahre mitgeprägt haben, bevor sie in Opposition zum Kreml gingen. Und den ukrainischen Oligarchen Viktor Medwedtschuk, Putins Mann in Kiew seit vielen Jahren. Sygar beschreibt, wie Putins anfängliche Bewunderung für George W. Bush in Enttäuschung umschlug und sein Umfeld doch die Ideologie der Neokonservativen in den USA für Russland abkupferte.
„Endspiel“ bietet einen Einblick in das System Putin, wie es bisher noch keinen gab auf dem deutschen Buchmarkt. Sygar erzählt nicht vor dem Hintergrund der Debatte über die westliche Russland-Politik, sondern stellt die innerrussische Dynamik dar. „Kurz gesagt, ich berichte davon, wie ein Mann durch puren Zufall König wurde. Die Kette der Ereignisse, die ich rekonstruiert habe, lässt keinen Plan, keine klare Strategie erkennen. Es sind durchweg taktische Schritte, hektische Reaktionen auf äußere Reize ohne eindeutiges Endziel.“ Den „kollektiven Putin“ haben alle geschaffen – alte Weggefährten und Unterstützer ebenso wie Erzfeinde, freundliche oder kritische Medien.
In einem lesenswerten Bändchen, das die Körber-Stiftung herausgegeben hat, gehen der deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel und die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa der Frage nach, was Deutsche und Russen aneinander fasziniert. Zu sehr habe sich die Wissenschaft mit der „Abarbeitung der eigenen Agenda“ beschäftigt, um das aufziehende Unglück zu erkennen, beklagt Schlögel und fordert mehr Wachsamkeit und mehr qualifizierte Auseinandersetzung mit der Ukraine. Das Frühwarnsystem für künftige Konflikte in Europa muss nachjustiert werden.
Innenpolitische Zwänge
und Ängste führten Russland in
die außenpolitische Konfrontation
Den „kollektiven Putin“ haben
alle geschaffen: Unterstützer,
alte Weggefährten und Erzfeinde
Am Beginn seiner Macht: Der gerade gewählte Präsident Wladimir Putin auf Inspektionsbesuch bei der Nordmeerflotte im April 2000.
Foto: dpa
Katja Gloger, Putins Welt.
Das neue Russland, die Ukraine und der Westen. Berlin-Verlag 2015,
352 Seiten, 18 Euro.
Als E-Book: 13,99 Euro
Hubert Seipel, Putin.
Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe 2015, 368 Seiten, 22 Euro.
Als E-Book: 16,99 Euro
Michail Sygar, Endspiel.
Die Metamorphosen des Wladimir Putin.
Kiepenheuer & Witsch 2015, 400 Seiten, 16,99 Euro.
Als E-Book: 14,99 Euro
Irina Scherbakowa,
Karl Schlögel,
Der Russland-Reflex.
Einsichten in eine Beziehungskrise. Körber-Stiftung 2015, 144 Seiten, 17 Euro.
Als E-Book: 12,99 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Journalisten, Historiker, Bürgerrechtler: Gerade versuchen alle, das System Putin zu analysieren.
Je nach Methode offenbart sich Überraschendes, Treffendes oder Absonderliches. Ein Überblick
VON JULIAN HANS
Jede Katastrophe erfordert eine Analyse. Einkaufszentren brennen, Züge stoßen zusammen und immer stellen sich Experten hinterher dieselben Fragen: Wurden Warnungen rechtzeitig erkannt und ernst genommen? Haben alle Systeme so funktioniert wie vorgesehen? Gab es Fehler in der Konstruktion? Haben die Rettungssysteme funktioniert? Nur wenn wirklich verstanden wurde, was passiert ist, können künftig Katastrophen verhindert werden.
Die Sicherheitsarchitektur in Europa ist nach 1945 mit einem obersten Ziel aufgebaut und gelegentlich nachgebessert worden: Die Staaten auf dem Kontinent waren sich einig, dass Konflikte nur durch Ausgleich und Verhandlung gelöst werden dürfen, nie wieder sollten Interessen mit Gewalt durchgesetzt werden. Fast 70 Jahre lang hat das weitgehend funktioniert – trotz aller politischer Umwälzungen in dieser Zeit. Aber 2014 ist etwas schiefgegangen: Mit der Annexion der Krim hat erstmals wieder ein Staat seinem Nachbarn ein Stück seines Territoriums mit Gewalt entrissen. Und zum ersten Mal gibt es in Europa einen Krieg, an dem eine Atommacht beteiligt ist.
Allerdings gibt es bei politischen Katastrophen eine Besonderheit: Es genügt nicht, wenn die Spezialisten verstanden haben, wo der Fehler lag. Nur wenn dies auch der Öffentlichkeit klar wird, kann es wirksame Veränderungen geben.
Von den zahlreichen Russland- und Putin-Büchern, die jetzt frisch erschienen sind, gelingt das dem von Katja Gloger am besten. Die Stern-Autorin hat in ihrer Zeit als Korrespondentin in Moskau die wilden Neunzigerjahre erlebt und einen blassen KGB-Offizier während seiner ersten Schritte als Premierminister und kurz darauf als Präsidenten des Landes begleitet. Seitdem hat sie seinen Weg und die Entwicklung des Landes weiter verfolgt, von Deutschland aus und als Korrespondentin in den USA.
Diese Erfahrung erlaubt es der Autorin, Schneisen in das Dickicht manchmal mehrdeutiger Ereignisse zu schlagen und rote Fäden aufzuzeigen: Sie zeigt den Aufstieg einer kleinen Mannschaft aus Sankt Petersburg zur Elite, die heute Politik und Wirtschaft bestimmt. Sie zeichnet nach, warum und mit welchen Mitteln Medien und Zivilgesellschaft unter Kontrolle gebracht wurden. Sie macht verständlich, welche Ängste und innenpolitischen Zwänge Wladimir Putin in die außenpolitische Konfrontation geführt haben – und welche Missverständnisse und Fehler es dabei auch im Westen gegeben hat.
Gloger beschreibt den ideologischen Urschlamm, aus dem „Russlands Konterrevolution gegen die Moderne“, wurde. Ein „Gebräu aus chauvinistisch-neoimperialen Träumen, sentimentalem Volkstum, militant-orthodoxem Christentum und schamloser Geschichtsklitterei“.
Einzig das Kapitel über die Entwicklung in der Ukraine fällt etwas ab. Gloger beschreibt zwar den Beginn der Maidan-Bewegung in Kiew als spontane Reaktion einiger Aktivisten und Studenten auf die Absage der EU-Assoziation. Aber die Dynamik, mit der sich der Protest zur Gewalt hochschaukelte – als Reaktion auf Polizeigewalt und auf ein eilig erlassenes Bündel repressiver Gesetze, die die Grundrechte massiv einschränkten – bleibt im Vagen. Diese Dynamik zu verstehen ist wichtig, um der Desinformation entgegenzutreten, die Vereinigten Staaten hätten den Protest bestellt und bezahlt.
Dennoch zieht Gloger auch hier den richtigen Schluss: „Der Maidan des Jahres 2014 war vieles: ein Symbol geduldigen zivilen Widerstandes, Brutkasten einer neuen, ukrainischen Identität, Ort einer blutig eskalierenden Machtprobe. Aber der Maidan war kein ,Staatsstreich‘, und es kamen auch keine von den USA finanzierten ,Faschisten‘ an die Macht“.
Wie kann es weitergehen mit Russland? Europa blieben nur „Einigkeit und strategische Geduld“, lautet Glogers Fazit. Und die „verwegene Hoffnung, dass die Politik der ganz kleinen Schritte auf Dauer machtvoller ist als Eskalationsdominanz“.
Seit Hubert Seipels Dokumentation „Ich, Putin“ vor drei Jahren im deutschen Fernsehen lief, hat er den Ruf, einen besonderen Zugang zum russischen Präsidenten zu haben. Er hat ihn mehrmals zu Gesprächen getroffen und auf Terminen begleitet. Aber was hilft, um Zugang für Kameras zu schaffen, bringt in Buchform nichts Neues zutage. Anders als Gloger ist Seipel kein Russland-Kenner. Sein Buch „Putin“ lebt von der Nähe zu seinem Protagonisten – und scheitert an ihr.
Seipel bemüht sich, Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er gleich im Vorwort erklärt, es sei nichts ungewöhnliches, dass Journalisten dafür, dass sie exklusive Informationen bekommen, von Politikern benutzt würden. Wie Seipel benutzt wird, wird beim Lesen schnell klar. Aber wo sind die exklusiven Informationen? Die Zitate, die Seipel aus den Gesprächen destilliert, hat der Präsident alle so oder anders formuliert schon zig Mal auf Pressekonferenzen oder im russischen Fernsehen gesagt.
Seipel macht keinen Hehl daraus, dass ihn beim Schreiben ein Brass auf die westlichen Medien getrieben hat, die Russland in einem fort zu belehren versuchten. Und worauf stützt sich sein Buch außer auf die Zusammenkünfte mit Putin und ausgewählten Akteuren? Auf Berichte in jenen amerikanischen und deutschen Medien, die er an anderer Stelle als einseitig verdammt. Da er kein Russisch versteht, kann Seipel weder die Rolle des Fernsehens beim Schüren des Krieges im Donbass einschätzen, noch die vielen Recherchen und Analysen redlicher russischer Journalisten berücksichtigen.
Sein Buch ist zu einer Verteidigungsschrift für Putin geraten, in der er Bekanntes nur neu interpretiert und alles, was nicht in seine Deutung passt, weglässt. Ein besonders krasses Beispiel ist seine Beschreibung des Besuches von Angela Merkel zum 70. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland. Nicht genug, dass Merkel nicht an der Militärparade teilnahm, sie habe auch noch die Annexion der Krim auf eine Stufe mit dem Holocaust gestellt, heißt es. Holocaust-Verharmlosungen sind so ziemlich das Schlimmste, was sich ein deutscher Politiker erlauben kann. Warum berichtete kein deutsches Medium darüber? Das Protokoll des Treffens in Moskau kann jeder auf der Website der Bundesregierung nachlesen. Wer dem nicht traut, findet auch eines auf der Seite des Kremls. Angela Merkel sprach lange über die Schuld, die Deutschland durch den Vernichtungs- und Raubkrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion auf sich geladen hat. Sie erinnerte auch an die „Verbrechen des Holocaust“.
Erst viel später im Text heißt es, das gute Verhältnis zu Russland habe „durch die „verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim“ einen Rückschlag erlitten. Man kann Merkel vorwerfen, dass sie das Wort „verbrecherisch“, das bisher für den Ostfeldzug der Wehrmacht reserviert war, ungerechtfertigt benutzt hat. Um daraus aber eine Gleichsetzung mit dem Holocaust zu machen, muss man die Ereignisse schon gewaltig verzerren.
Dass Putin im weiteren Verlauf der Pressekonferenz den Hitler-Stalin-Pakt rechtfertigte und sagte, die Polen seien praktisch selbst schuld an ihrer Aufteilung gewesen und sollten heute einfach ihre Ängste überwinden – das alles fehlt bei Seipel. Warum? Weitere Beispiele für – vorsichtig ausgedrückt – eigenwillige Interpretationen finden sich fast auf jeder Seite. So erscheint der treu-tollpatschige Dmitrij Medwedew bei Seipel geradezu als Machiavellist, dessen Machthunger Putin zuvorkommen musste, als 2011 die Entscheidung bevorstand, wer bei der Präsidentenwahl ins Rennen geht.
Trotz der inhaltlichen Schwäche wird es wohl Seipels Putin-Porträt sein, dass neben Gabriele Krone-Schmalz einen Platz auf den Bestseller-Regalen finden wird. Russland-Kitsch und Verständnis für autoritäre Herrscher locken in Deutschland mehr Leser als tief gehende Analysen.
Dass allein der Ansatz, Putin zu verstehen, wenig Erkenntnis verspricht, wird nach der Lektüre von Michail Sygars „Endspiel“ klar. Der junge Chefredakteur des liberalen russischen Fernsehsenders Doschd hat mit vielen Akteuren gesprochen, die das System Putin gemacht haben und es weiter prägen. Angefangen vom ehemaligen Chef der Präsidialadministration, Alexander Woloschin, über Michail Chodorkowskij, Dmitrij Medwedew bis zu Putins Sprecher Dmitrij Peskow und dem ehemaligen Finanzminister und Gefährten aus Petersburger Tagen, Alexej Kudrin.
Der Leser lernt die Spin-Doktoren Gleb Pawlowskij und Stanislaw Belkowskij kennen, die die russische Politik über Jahre mitgeprägt haben, bevor sie in Opposition zum Kreml gingen. Und den ukrainischen Oligarchen Viktor Medwedtschuk, Putins Mann in Kiew seit vielen Jahren. Sygar beschreibt, wie Putins anfängliche Bewunderung für George W. Bush in Enttäuschung umschlug und sein Umfeld doch die Ideologie der Neokonservativen in den USA für Russland abkupferte.
„Endspiel“ bietet einen Einblick in das System Putin, wie es bisher noch keinen gab auf dem deutschen Buchmarkt. Sygar erzählt nicht vor dem Hintergrund der Debatte über die westliche Russland-Politik, sondern stellt die innerrussische Dynamik dar. „Kurz gesagt, ich berichte davon, wie ein Mann durch puren Zufall König wurde. Die Kette der Ereignisse, die ich rekonstruiert habe, lässt keinen Plan, keine klare Strategie erkennen. Es sind durchweg taktische Schritte, hektische Reaktionen auf äußere Reize ohne eindeutiges Endziel.“ Den „kollektiven Putin“ haben alle geschaffen – alte Weggefährten und Unterstützer ebenso wie Erzfeinde, freundliche oder kritische Medien.
In einem lesenswerten Bändchen, das die Körber-Stiftung herausgegeben hat, gehen der deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel und die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa der Frage nach, was Deutsche und Russen aneinander fasziniert. Zu sehr habe sich die Wissenschaft mit der „Abarbeitung der eigenen Agenda“ beschäftigt, um das aufziehende Unglück zu erkennen, beklagt Schlögel und fordert mehr Wachsamkeit und mehr qualifizierte Auseinandersetzung mit der Ukraine. Das Frühwarnsystem für künftige Konflikte in Europa muss nachjustiert werden.
Innenpolitische Zwänge
und Ängste führten Russland in
die außenpolitische Konfrontation
Den „kollektiven Putin“ haben
alle geschaffen: Unterstützer,
alte Weggefährten und Erzfeinde
Am Beginn seiner Macht: Der gerade gewählte Präsident Wladimir Putin auf Inspektionsbesuch bei der Nordmeerflotte im April 2000.
Foto: dpa
Katja Gloger, Putins Welt.
Das neue Russland, die Ukraine und der Westen. Berlin-Verlag 2015,
352 Seiten, 18 Euro.
Als E-Book: 13,99 Euro
Hubert Seipel, Putin.
Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe 2015, 368 Seiten, 22 Euro.
Als E-Book: 16,99 Euro
Michail Sygar, Endspiel.
Die Metamorphosen des Wladimir Putin.
Kiepenheuer & Witsch 2015, 400 Seiten, 16,99 Euro.
Als E-Book: 14,99 Euro
Irina Scherbakowa,
Karl Schlögel,
Der Russland-Reflex.
Einsichten in eine Beziehungskrise. Körber-Stiftung 2015, 144 Seiten, 17 Euro.
Als E-Book: 12,99 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.11.2015König aus Zufall
Journalisten, Historiker, Bürgerrechtler: Gerade versuchen alle, das System Putin zu analysieren.
Je nach Methode offenbart sich Überraschendes, Treffendes oder Absonderliches. Ein Überblick
VON JULIAN HANS
Jede Katastrophe erfordert eine Analyse. Einkaufszentren brennen, Züge stoßen zusammen und immer stellen sich Experten hinterher dieselben Fragen: Wurden Warnungen rechtzeitig erkannt und ernst genommen? Haben alle Systeme so funktioniert wie vorgesehen? Gab es Fehler in der Konstruktion? Haben die Rettungssysteme funktioniert? Nur wenn wirklich verstanden wurde, was passiert ist, können künftig Katastrophen verhindert werden.
Die Sicherheitsarchitektur in Europa ist nach 1945 mit einem obersten Ziel aufgebaut und gelegentlich nachgebessert worden: Die Staaten auf dem Kontinent waren sich einig, dass Konflikte nur durch Ausgleich und Verhandlung gelöst werden dürfen, nie wieder sollten Interessen mit Gewalt durchgesetzt werden. Fast 70 Jahre lang hat das weitgehend funktioniert – trotz aller politischer Umwälzungen in dieser Zeit. Aber 2014 ist etwas schiefgegangen: Mit der Annexion der Krim hat erstmals wieder ein Staat seinem Nachbarn ein Stück seines Territoriums mit Gewalt entrissen. Und zum ersten Mal gibt es in Europa einen Krieg, an dem eine Atommacht beteiligt ist.
Allerdings gibt es bei politischen Katastrophen eine Besonderheit: Es genügt nicht, wenn die Spezialisten verstanden haben, wo der Fehler lag. Nur wenn dies auch der Öffentlichkeit klar wird, kann es wirksame Veränderungen geben.
Von den zahlreichen Russland- und Putin-Büchern, die jetzt frisch erschienen sind, gelingt das dem von Katja Gloger am besten. Die Stern-Autorin hat in ihrer Zeit als Korrespondentin in Moskau die wilden Neunzigerjahre erlebt und einen blassen KGB-Offizier während seiner ersten Schritte als Premierminister und kurz darauf als Präsidenten des Landes begleitet. Seitdem hat sie seinen Weg und die Entwicklung des Landes weiter verfolgt, von Deutschland aus und als Korrespondentin in den USA.
Diese Erfahrung erlaubt es der Autorin, Schneisen in das Dickicht manchmal mehrdeutiger Ereignisse zu schlagen und rote Fäden aufzuzeigen: Sie zeigt den Aufstieg einer kleinen Mannschaft aus Sankt Petersburg zur Elite, die heute Politik und Wirtschaft bestimmt. Sie zeichnet nach, warum und mit welchen Mitteln Medien und Zivilgesellschaft unter Kontrolle gebracht wurden. Sie macht verständlich, welche Ängste und innenpolitischen Zwänge Wladimir Putin in die außenpolitische Konfrontation geführt haben – und welche Missverständnisse und Fehler es dabei auch im Westen gegeben hat.
Gloger beschreibt den ideologischen Urschlamm, aus dem „Russlands Konterrevolution gegen die Moderne“, wurde. Ein „Gebräu aus chauvinistisch-neoimperialen Träumen, sentimentalem Volkstum, militant-orthodoxem Christentum und schamloser Geschichtsklitterei“.
Einzig das Kapitel über die Entwicklung in der Ukraine fällt etwas ab. Gloger beschreibt zwar den Beginn der Maidan-Bewegung in Kiew als spontane Reaktion einiger Aktivisten und Studenten auf die Absage der EU-Assoziation. Aber die Dynamik, mit der sich der Protest zur Gewalt hochschaukelte – als Reaktion auf Polizeigewalt und auf ein eilig erlassenes Bündel repressiver Gesetze, die die Grundrechte massiv einschränkten – bleibt im Vagen. Diese Dynamik zu verstehen ist wichtig, um der Desinformation entgegenzutreten, die Vereinigten Staaten hätten den Protest bestellt und bezahlt.
Dennoch zieht Gloger auch hier den richtigen Schluss: „Der Maidan des Jahres 2014 war vieles: ein Symbol geduldigen zivilen Widerstandes, Brutkasten einer neuen, ukrainischen Identität, Ort einer blutig eskalierenden Machtprobe. Aber der Maidan war kein ,Staatsstreich‘, und es kamen auch keine von den USA finanzierten ,Faschisten‘ an die Macht“.
Wie kann es weitergehen mit Russland? Europa blieben nur „Einigkeit und strategische Geduld“, lautet Glogers Fazit. Und die „verwegene Hoffnung, dass die Politik der ganz kleinen Schritte auf Dauer machtvoller ist als Eskalationsdominanz“.
Seit Hubert Seipels Dokumentation „Ich, Putin“ vor drei Jahren im deutschen Fernsehen lief, hat er den Ruf, einen besonderen Zugang zum russischen Präsidenten zu haben. Er hat ihn mehrmals zu Gesprächen getroffen und auf Terminen begleitet. Aber was hilft, um Zugang für Kameras zu schaffen, bringt in Buchform nichts Neues zutage. Anders als Gloger ist Seipel kein Russland-Kenner. Sein Buch „Putin“ lebt von der Nähe zu seinem Protagonisten – und scheitert an ihr.
Seipel bemüht sich, Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er gleich im Vorwort erklärt, es sei nichts ungewöhnliches, dass Journalisten dafür, dass sie exklusive Informationen bekommen, von Politikern benutzt würden. Wie Seipel benutzt wird, wird beim Lesen schnell klar. Aber wo sind die exklusiven Informationen? Die Zitate, die Seipel aus den Gesprächen destilliert, hat der Präsident alle so oder anders formuliert schon zig Mal auf Pressekonferenzen oder im russischen Fernsehen gesagt.
Seipel macht keinen Hehl daraus, dass ihn beim Schreiben ein Brass auf die westlichen Medien getrieben hat, die Russland in einem fort zu belehren versuchten. Und worauf stützt sich sein Buch außer auf die Zusammenkünfte mit Putin und ausgewählten Akteuren? Auf Berichte in jenen amerikanischen und deutschen Medien, die er an anderer Stelle als einseitig verdammt. Da er kein Russisch versteht, kann Seipel weder die Rolle des Fernsehens beim Schüren des Krieges im Donbass einschätzen, noch die vielen Recherchen und Analysen redlicher russischer Journalisten berücksichtigen.
Sein Buch ist zu einer Verteidigungsschrift für Putin geraten, in der er Bekanntes nur neu interpretiert und alles, was nicht in seine Deutung passt, weglässt. Ein besonders krasses Beispiel ist seine Beschreibung des Besuches von Angela Merkel zum 70. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland. Nicht genug, dass Merkel nicht an der Militärparade teilnahm, sie habe auch noch die Annexion der Krim auf eine Stufe mit dem Holocaust gestellt, heißt es. Holocaust-Verharmlosungen sind so ziemlich das Schlimmste, was sich ein deutscher Politiker erlauben kann. Warum berichtete kein deutsches Medium darüber? Das Protokoll des Treffens in Moskau kann jeder auf der Website der Bundesregierung nachlesen. Wer dem nicht traut, findet auch eines auf der Seite des Kremls. Angela Merkel sprach lange über die Schuld, die Deutschland durch den Vernichtungs- und Raubkrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion auf sich geladen hat. Sie erinnerte auch an die „Verbrechen des Holocaust“.
Erst viel später im Text heißt es, das gute Verhältnis zu Russland habe „durch die „verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim“ einen Rückschlag erlitten. Man kann Merkel vorwerfen, dass sie das Wort „verbrecherisch“, das bisher für den Ostfeldzug der Wehrmacht reserviert war, ungerechtfertigt benutzt hat. Um daraus aber eine Gleichsetzung mit dem Holocaust zu machen, muss man die Ereignisse schon gewaltig verzerren.
Dass Putin im weiteren Verlauf der Pressekonferenz den Hitler-Stalin-Pakt rechtfertigte und sagte, die Polen seien praktisch selbst schuld an ihrer Aufteilung gewesen und sollten heute einfach ihre Ängste überwinden – das alles fehlt bei Seipel. Warum? Weitere Beispiele für – vorsichtig ausgedrückt – eigenwillige Interpretationen finden sich fast auf jeder Seite. So erscheint der treu-tollpatschige Dmitrij Medwedew bei Seipel geradezu als Machiavellist, dessen Machthunger Putin zuvorkommen musste, als 2011 die Entscheidung bevorstand, wer bei der Präsidentenwahl ins Rennen geht.
Trotz der inhaltlichen Schwäche wird es wohl Seipels Putin-Porträt sein, dass neben Gabriele Krone-Schmalz einen Platz auf den Bestseller-Regalen finden wird. Russland-Kitsch und Verständnis für autoritäre Herrscher locken in Deutschland mehr Leser als tief gehende Analysen.
Dass allein der Ansatz, Putin zu verstehen, wenig Erkenntnis verspricht, wird nach der Lektüre von Michail Sygars „Endspiel“ klar. Der junge Chefredakteur des liberalen russischen Fernsehsenders Doschd hat mit vielen Akteuren gesprochen, die das System Putin gemacht haben und es weiter prägen. Angefangen vom ehemaligen Chef der Präsidialadministration, Alexander Woloschin, über Michail Chodorkowskij, Dmitrij Medwedew bis zu Putins Sprecher Dmitrij Peskow und dem ehemaligen Finanzminister und Gefährten aus Petersburger Tagen, Alexej Kudrin.
Der Leser lernt die Spin-Doktoren Gleb Pawlowskij und Stanislaw Belkowskij kennen, die die russische Politik über Jahre mitgeprägt haben, bevor sie in Opposition zum Kreml gingen. Und den ukrainischen Oligarchen Viktor Medwedtschuk, Putins Mann in Kiew seit vielen Jahren. Sygar beschreibt, wie Putins anfängliche Bewunderung für George W. Bush in Enttäuschung umschlug und sein Umfeld doch die Ideologie der Neokonservativen in den USA für Russland abkupferte.
„Endspiel“ bietet einen Einblick in das System Putin, wie es bisher noch keinen gab auf dem deutschen Buchmarkt. Sygar erzählt nicht vor dem Hintergrund der Debatte über die westliche Russland-Politik, sondern stellt die innerrussische Dynamik dar. „Kurz gesagt, ich berichte davon, wie ein Mann durch puren Zufall König wurde. Die Kette der Ereignisse, die ich rekonstruiert habe, lässt keinen Plan, keine klare Strategie erkennen. Es sind durchweg taktische Schritte, hektische Reaktionen auf äußere Reize ohne eindeutiges Endziel.“ Den „kollektiven Putin“ haben alle geschaffen – alte Weggefährten und Unterstützer ebenso wie Erzfeinde, freundliche oder kritische Medien.
In einem lesenswerten Bändchen, das die Körber-Stiftung herausgegeben hat, gehen der deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel und die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa der Frage nach, was Deutsche und Russen aneinander fasziniert. Zu sehr habe sich die Wissenschaft mit der „Abarbeitung der eigenen Agenda“ beschäftigt, um das aufziehende Unglück zu erkennen, beklagt Schlögel und fordert mehr Wachsamkeit und mehr qualifizierte Auseinandersetzung mit der Ukraine. Das Frühwarnsystem für künftige Konflikte in Europa muss nachjustiert werden.
Innenpolitische Zwänge
und Ängste führten Russland in
die außenpolitische Konfrontation
Den „kollektiven Putin“ haben
alle geschaffen: Unterstützer,
alte Weggefährten und Erzfeinde
Am Beginn seiner Macht: Der gerade gewählte Präsident Wladimir Putin auf Inspektionsbesuch bei der Nordmeerflotte im April 2000.
Foto: dpa
Katja Gloger, Putins Welt.
Das neue Russland, die Ukraine und der Westen. Berlin-Verlag 2015,
352 Seiten, 18 Euro.
Als E-Book: 13,99 Euro
Hubert Seipel, Putin.
Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe 2015, 368 Seiten, 22 Euro.
Als E-Book: 16,99 Euro
Michail Sygar, Endspiel.
Die Metamorphosen des Wladimir Putin.
Kiepenheuer & Witsch 2015, 400 Seiten, 16,99 Euro.
Als E-Book: 14,99 Euro
Irina Scherbakowa,
Karl Schlögel,
Der Russland-Reflex.
Einsichten in eine Beziehungskrise. Körber-Stiftung 2015, 144 Seiten, 17 Euro.
Als E-Book: 12,99 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Journalisten, Historiker, Bürgerrechtler: Gerade versuchen alle, das System Putin zu analysieren.
Je nach Methode offenbart sich Überraschendes, Treffendes oder Absonderliches. Ein Überblick
VON JULIAN HANS
Jede Katastrophe erfordert eine Analyse. Einkaufszentren brennen, Züge stoßen zusammen und immer stellen sich Experten hinterher dieselben Fragen: Wurden Warnungen rechtzeitig erkannt und ernst genommen? Haben alle Systeme so funktioniert wie vorgesehen? Gab es Fehler in der Konstruktion? Haben die Rettungssysteme funktioniert? Nur wenn wirklich verstanden wurde, was passiert ist, können künftig Katastrophen verhindert werden.
Die Sicherheitsarchitektur in Europa ist nach 1945 mit einem obersten Ziel aufgebaut und gelegentlich nachgebessert worden: Die Staaten auf dem Kontinent waren sich einig, dass Konflikte nur durch Ausgleich und Verhandlung gelöst werden dürfen, nie wieder sollten Interessen mit Gewalt durchgesetzt werden. Fast 70 Jahre lang hat das weitgehend funktioniert – trotz aller politischer Umwälzungen in dieser Zeit. Aber 2014 ist etwas schiefgegangen: Mit der Annexion der Krim hat erstmals wieder ein Staat seinem Nachbarn ein Stück seines Territoriums mit Gewalt entrissen. Und zum ersten Mal gibt es in Europa einen Krieg, an dem eine Atommacht beteiligt ist.
Allerdings gibt es bei politischen Katastrophen eine Besonderheit: Es genügt nicht, wenn die Spezialisten verstanden haben, wo der Fehler lag. Nur wenn dies auch der Öffentlichkeit klar wird, kann es wirksame Veränderungen geben.
Von den zahlreichen Russland- und Putin-Büchern, die jetzt frisch erschienen sind, gelingt das dem von Katja Gloger am besten. Die Stern-Autorin hat in ihrer Zeit als Korrespondentin in Moskau die wilden Neunzigerjahre erlebt und einen blassen KGB-Offizier während seiner ersten Schritte als Premierminister und kurz darauf als Präsidenten des Landes begleitet. Seitdem hat sie seinen Weg und die Entwicklung des Landes weiter verfolgt, von Deutschland aus und als Korrespondentin in den USA.
Diese Erfahrung erlaubt es der Autorin, Schneisen in das Dickicht manchmal mehrdeutiger Ereignisse zu schlagen und rote Fäden aufzuzeigen: Sie zeigt den Aufstieg einer kleinen Mannschaft aus Sankt Petersburg zur Elite, die heute Politik und Wirtschaft bestimmt. Sie zeichnet nach, warum und mit welchen Mitteln Medien und Zivilgesellschaft unter Kontrolle gebracht wurden. Sie macht verständlich, welche Ängste und innenpolitischen Zwänge Wladimir Putin in die außenpolitische Konfrontation geführt haben – und welche Missverständnisse und Fehler es dabei auch im Westen gegeben hat.
Gloger beschreibt den ideologischen Urschlamm, aus dem „Russlands Konterrevolution gegen die Moderne“, wurde. Ein „Gebräu aus chauvinistisch-neoimperialen Träumen, sentimentalem Volkstum, militant-orthodoxem Christentum und schamloser Geschichtsklitterei“.
Einzig das Kapitel über die Entwicklung in der Ukraine fällt etwas ab. Gloger beschreibt zwar den Beginn der Maidan-Bewegung in Kiew als spontane Reaktion einiger Aktivisten und Studenten auf die Absage der EU-Assoziation. Aber die Dynamik, mit der sich der Protest zur Gewalt hochschaukelte – als Reaktion auf Polizeigewalt und auf ein eilig erlassenes Bündel repressiver Gesetze, die die Grundrechte massiv einschränkten – bleibt im Vagen. Diese Dynamik zu verstehen ist wichtig, um der Desinformation entgegenzutreten, die Vereinigten Staaten hätten den Protest bestellt und bezahlt.
Dennoch zieht Gloger auch hier den richtigen Schluss: „Der Maidan des Jahres 2014 war vieles: ein Symbol geduldigen zivilen Widerstandes, Brutkasten einer neuen, ukrainischen Identität, Ort einer blutig eskalierenden Machtprobe. Aber der Maidan war kein ,Staatsstreich‘, und es kamen auch keine von den USA finanzierten ,Faschisten‘ an die Macht“.
Wie kann es weitergehen mit Russland? Europa blieben nur „Einigkeit und strategische Geduld“, lautet Glogers Fazit. Und die „verwegene Hoffnung, dass die Politik der ganz kleinen Schritte auf Dauer machtvoller ist als Eskalationsdominanz“.
Seit Hubert Seipels Dokumentation „Ich, Putin“ vor drei Jahren im deutschen Fernsehen lief, hat er den Ruf, einen besonderen Zugang zum russischen Präsidenten zu haben. Er hat ihn mehrmals zu Gesprächen getroffen und auf Terminen begleitet. Aber was hilft, um Zugang für Kameras zu schaffen, bringt in Buchform nichts Neues zutage. Anders als Gloger ist Seipel kein Russland-Kenner. Sein Buch „Putin“ lebt von der Nähe zu seinem Protagonisten – und scheitert an ihr.
Seipel bemüht sich, Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er gleich im Vorwort erklärt, es sei nichts ungewöhnliches, dass Journalisten dafür, dass sie exklusive Informationen bekommen, von Politikern benutzt würden. Wie Seipel benutzt wird, wird beim Lesen schnell klar. Aber wo sind die exklusiven Informationen? Die Zitate, die Seipel aus den Gesprächen destilliert, hat der Präsident alle so oder anders formuliert schon zig Mal auf Pressekonferenzen oder im russischen Fernsehen gesagt.
Seipel macht keinen Hehl daraus, dass ihn beim Schreiben ein Brass auf die westlichen Medien getrieben hat, die Russland in einem fort zu belehren versuchten. Und worauf stützt sich sein Buch außer auf die Zusammenkünfte mit Putin und ausgewählten Akteuren? Auf Berichte in jenen amerikanischen und deutschen Medien, die er an anderer Stelle als einseitig verdammt. Da er kein Russisch versteht, kann Seipel weder die Rolle des Fernsehens beim Schüren des Krieges im Donbass einschätzen, noch die vielen Recherchen und Analysen redlicher russischer Journalisten berücksichtigen.
Sein Buch ist zu einer Verteidigungsschrift für Putin geraten, in der er Bekanntes nur neu interpretiert und alles, was nicht in seine Deutung passt, weglässt. Ein besonders krasses Beispiel ist seine Beschreibung des Besuches von Angela Merkel zum 70. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland. Nicht genug, dass Merkel nicht an der Militärparade teilnahm, sie habe auch noch die Annexion der Krim auf eine Stufe mit dem Holocaust gestellt, heißt es. Holocaust-Verharmlosungen sind so ziemlich das Schlimmste, was sich ein deutscher Politiker erlauben kann. Warum berichtete kein deutsches Medium darüber? Das Protokoll des Treffens in Moskau kann jeder auf der Website der Bundesregierung nachlesen. Wer dem nicht traut, findet auch eines auf der Seite des Kremls. Angela Merkel sprach lange über die Schuld, die Deutschland durch den Vernichtungs- und Raubkrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion auf sich geladen hat. Sie erinnerte auch an die „Verbrechen des Holocaust“.
Erst viel später im Text heißt es, das gute Verhältnis zu Russland habe „durch die „verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim“ einen Rückschlag erlitten. Man kann Merkel vorwerfen, dass sie das Wort „verbrecherisch“, das bisher für den Ostfeldzug der Wehrmacht reserviert war, ungerechtfertigt benutzt hat. Um daraus aber eine Gleichsetzung mit dem Holocaust zu machen, muss man die Ereignisse schon gewaltig verzerren.
Dass Putin im weiteren Verlauf der Pressekonferenz den Hitler-Stalin-Pakt rechtfertigte und sagte, die Polen seien praktisch selbst schuld an ihrer Aufteilung gewesen und sollten heute einfach ihre Ängste überwinden – das alles fehlt bei Seipel. Warum? Weitere Beispiele für – vorsichtig ausgedrückt – eigenwillige Interpretationen finden sich fast auf jeder Seite. So erscheint der treu-tollpatschige Dmitrij Medwedew bei Seipel geradezu als Machiavellist, dessen Machthunger Putin zuvorkommen musste, als 2011 die Entscheidung bevorstand, wer bei der Präsidentenwahl ins Rennen geht.
Trotz der inhaltlichen Schwäche wird es wohl Seipels Putin-Porträt sein, dass neben Gabriele Krone-Schmalz einen Platz auf den Bestseller-Regalen finden wird. Russland-Kitsch und Verständnis für autoritäre Herrscher locken in Deutschland mehr Leser als tief gehende Analysen.
Dass allein der Ansatz, Putin zu verstehen, wenig Erkenntnis verspricht, wird nach der Lektüre von Michail Sygars „Endspiel“ klar. Der junge Chefredakteur des liberalen russischen Fernsehsenders Doschd hat mit vielen Akteuren gesprochen, die das System Putin gemacht haben und es weiter prägen. Angefangen vom ehemaligen Chef der Präsidialadministration, Alexander Woloschin, über Michail Chodorkowskij, Dmitrij Medwedew bis zu Putins Sprecher Dmitrij Peskow und dem ehemaligen Finanzminister und Gefährten aus Petersburger Tagen, Alexej Kudrin.
Der Leser lernt die Spin-Doktoren Gleb Pawlowskij und Stanislaw Belkowskij kennen, die die russische Politik über Jahre mitgeprägt haben, bevor sie in Opposition zum Kreml gingen. Und den ukrainischen Oligarchen Viktor Medwedtschuk, Putins Mann in Kiew seit vielen Jahren. Sygar beschreibt, wie Putins anfängliche Bewunderung für George W. Bush in Enttäuschung umschlug und sein Umfeld doch die Ideologie der Neokonservativen in den USA für Russland abkupferte.
„Endspiel“ bietet einen Einblick in das System Putin, wie es bisher noch keinen gab auf dem deutschen Buchmarkt. Sygar erzählt nicht vor dem Hintergrund der Debatte über die westliche Russland-Politik, sondern stellt die innerrussische Dynamik dar. „Kurz gesagt, ich berichte davon, wie ein Mann durch puren Zufall König wurde. Die Kette der Ereignisse, die ich rekonstruiert habe, lässt keinen Plan, keine klare Strategie erkennen. Es sind durchweg taktische Schritte, hektische Reaktionen auf äußere Reize ohne eindeutiges Endziel.“ Den „kollektiven Putin“ haben alle geschaffen – alte Weggefährten und Unterstützer ebenso wie Erzfeinde, freundliche oder kritische Medien.
In einem lesenswerten Bändchen, das die Körber-Stiftung herausgegeben hat, gehen der deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel und die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa der Frage nach, was Deutsche und Russen aneinander fasziniert. Zu sehr habe sich die Wissenschaft mit der „Abarbeitung der eigenen Agenda“ beschäftigt, um das aufziehende Unglück zu erkennen, beklagt Schlögel und fordert mehr Wachsamkeit und mehr qualifizierte Auseinandersetzung mit der Ukraine. Das Frühwarnsystem für künftige Konflikte in Europa muss nachjustiert werden.
Innenpolitische Zwänge
und Ängste führten Russland in
die außenpolitische Konfrontation
Den „kollektiven Putin“ haben
alle geschaffen: Unterstützer,
alte Weggefährten und Erzfeinde
Am Beginn seiner Macht: Der gerade gewählte Präsident Wladimir Putin auf Inspektionsbesuch bei der Nordmeerflotte im April 2000.
Foto: dpa
Katja Gloger, Putins Welt.
Das neue Russland, die Ukraine und der Westen. Berlin-Verlag 2015,
352 Seiten, 18 Euro.
Als E-Book: 13,99 Euro
Hubert Seipel, Putin.
Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe 2015, 368 Seiten, 22 Euro.
Als E-Book: 16,99 Euro
Michail Sygar, Endspiel.
Die Metamorphosen des Wladimir Putin.
Kiepenheuer & Witsch 2015, 400 Seiten, 16,99 Euro.
Als E-Book: 14,99 Euro
Irina Scherbakowa,
Karl Schlögel,
Der Russland-Reflex.
Einsichten in eine Beziehungskrise. Körber-Stiftung 2015, 144 Seiten, 17 Euro.
Als E-Book: 12,99 Euro
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