Amerika im 17. Jahrhundert: Eine Frau, des Ehebruchs schuldig, steht am Schandpfahl und verrät nicht, wer der Vater ihrer Tochter ist. Die gestrenge puritanische Obrigkeit verurteilt sie, als Zeichen ihrer Schande lebenslang einen scharlachroten Buchstaben zu tragen. Die Folgen dieser übertriebenen Moralvorstellungen und die Mechanismen der gesellschaftlichen Ausgrenzung schildert Nathaniel Hawthorne mit psychologischer Raffinesse. Sein Roman ist einer der wichtigsten amerikanischen Klassiker des 19. Jahrhunderts, als sich das moderne Amerika mit dem Blick in seine Geschichte neu erfand. Mit seiner glasklaren Neuübersetzung gibt Jürgen Brôcan dem Roman eine Gestalt für heutige Leser; im Anhang erläutert er die historischen und literarischen Hintergründe.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Harald Eggebrecht ist Nathaniel Hawthorne einer der Gründungsväter der amerikanischen Literatur. Mit Jürgen Brôcans "sorgsamer" Neuübertragung von Hawthornes 1850 entstandenem Roman findet Eggebrecht das erneut bestätigt. Eggebrecht beeindruckt die Intenistät des Buches, seine allegorische Anlage, bei sich für den Rezensenten dauernd der Blick weitet von der dichten Beobachtung hin zum Weiterem, sowie sein schauerromantisches Potenzial. Der Held Hester Prynne besticht den Rezensenten durch ein zeitungebundene, die Fantasie zu Realität verwandelnde Präsenz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2014Der verlorene Kerkerschlüssel
Nathaniel Hawthorne, der große amerikanische Erzähler mit dem Kameraauge, kann in seinen Romanen
„Der scharlachrote Buchstabe“ und „Das Haus mit den sieben Giebeln“ wiederentdeckt werden – und in einem Tagebuch
VON HARALD EGGEBRECHT
Der scharlachrote Buchstabe‘ hatte insgesamt nur einen Tonfall, ich musste bloß meine Stimmung treffen, dann konnte ich endlos fortfahren“, schrieb Nathaniel Hawthorne im November 1850 an seinen Bostoner Verleger James T. Fields. Dieser eine Tonfall endet aber nicht in ermüdender Monotonie, sondern gewinnt im Gegenteil eine ungeahnte Intensität, die das ganze Buch, das nicht nur für die amerikanische Literatur eine kaum zu überschätzende Bedeutung hat, durchpulst wie eben jener „endlos“ mögliche Erzählstrom, von dem Hawthorne spricht.
Dabei ist „The Scarlet Letter“ nicht nur die Geschichte der Hester Prynne, einer stolzen, schönen Frau, die den Vater ihres unehelich geborenen Kindes nicht preisgeben will, was in der harten puritanischen Welt im Neuengland des 17. Jahrhunderts nichts als ein schändliches Verbrechen ist. Vor allem die Frauen des Ortes Salem animiert dieses angebliche Verbrechen zu schauerlichsten Strafwünschen bis hin zur Brandmarkung und zum Todesurteil. Dass sich am Ende das scharlachrote „A“, das Hester Prynne offen an ihrem Gewand tragen muss, verwandelt vom Schandzeichen zum Ausweis ihrer Besonderheit und Herausgehobenheit, gehört zum allegorischen Kern von Hawthornes gewissermaßen sich ständig vergewisserndem Schreiben, in dem jede Aktion, jedes Mienenspiel analysiert, gedeutet, metaphorisiert und kommentiert wird, bis die Dichte der Beobachtungen nachlässt und den Blick für das Weitere freigibt. Daher hat Jürgen Brôcan im erhellenden Nachwort zu seiner sorgsamen Neuübersetzung auch von einer extrem langsamen, gleichsam filmischen Bewegung und vom „Kameraauge“ des Autors gesprochen.
Der berühmte Buchstabe „A“ gibt bis heute Anlass zu vielfältigen Spekulationen, was Hawthorne wohl mit ihm gemeint haben könnte. Adulteress (Ehebrecherin) scheint die plausibelste Erklärung zu sein, doch das Wort kommt im Text nie vor. Dafür heißt es späterhin, das „A“ bedeute, nachdem sich Hester um die Mühseligen und Beladenen kümmert, Angel , also Engel. Das „A“ gehört aber gewiss zu jener Art von Mystifikationen, die Hawthorne liebte und die zum letztlich schauerromantischen Inventar dieses Schriftstellers gehören, genauso wie sich Schwarzromantisches im zweiten großen Erzählwerk Hawthornes im titelgebenden „House of the Seven Gables“ manifestiert, dem Haus mit den sieben Giebeln. Beide Bücher schrieb Nathaniel Hawthorne in den Jahren 1850 und 1851 so gut wie hintereinander weg.
Er selbst schätzte seine zweite „romance“ höher ein. Doch wirkt das fluchbeladene Haus, dessen Geschichte bis in die Zeit der berüchtigten Hexenjagd von Salem zurückgreift, in der Oberst Pyncheon Matthew Maule als Hexer hängen lässt, um an dessen Ländereien heranzukommen, in mancher Hinsicht etwas schmökerhafter. Das Buch ist allerdings ausbalancierter, stilistisch runder, weniger symbolistisch und allegorisch aufgeladen und in des Autors Augen wohl perfekter.
Vor seiner Hinrichtung verflucht Maule Oberst Pyncheon: „Gott wird ihm Blut zu trinken geben!“ Schon bei der Einweihung des Siebengiebelhauses, das über dem so blutig unrechtmäßig erworbenen Grund errichtet wird, auf dem zuvor das Blockhaus des angeblichen Hexers stand, stirbt der Oberst so plötzlich wie unheimlich: „Zitternd wie Espenlaub schob sich die Gesellschaft näher und stellte fest, dass der starre Blick des Obersten unnatürlich verzerrt war; auf seiner Halskrause war Blut, und sein grauer Bart war getränkt davon.“ Der Graben zwischen den Maules und den Pyncheons ist, obwohl dieses Verhältnis nicht in kämpferischer Feindschaft ausgelebt wird, tiefer als der zwischen Montagues und Capulets über anderthalb Jahrhunderte hin. Erst mit der jungen Phoebe kommt Licht und Luft ins ominöse Haus und es bahnt sich eine Liebe zwischen ihr und dem letzten Maule, dem Künstler Holgrave, an. Die Jungen können die Macht des Fluchs brechen, indem sie am Ende das bedrohliche Haus verlassen.
Hawthorne hat deutlich zwischen „romance“ und „novel“ (Roman) unterschieden: „Man vermutet, dass die letztgenannte Kompositionsform eine genaue Treue nicht nur gegenüber dem möglichen, sondern auch dem wahrscheinlichen und gewöhnlichen Gang menschlicher Erfahrung anstrebt. Die erste hingegen, die sich als Kunstwerk zwar streng den Gesetzen unterwerfen muss und unverzeihlich sündigt, wenn sie von der Wahrheit des menschlichen Herzens abschweift, hat das Recht, diese Wahrheit unter Gegebenheiten darzustellen, die in hohem Maße ihres Autors eigene Wahl und Schöpfung sind.“
So raffiniert auch die Fäden im unheimlichen Siebengiebelhaus gesponnen und geknüpft werden, so sehr der Autor in die Seelen seiner Protagonisten sich vertieft, um dort deren vielfältige Schatten aufzuspüren, all das bleibt doch auf höchstem Niveau konventionelles Erzählkunstwerk.
Dagegen erreicht keine der Gestalten aus dem Giebelhaus jene die Zeitgebundenheit durchbrechende und die Phantasie nahezu in Realität verwandelnde Präsenz von Hester Prynne. Dass diese Frauengestalt bis in die modernste Moderne reicht, dass sie feministischen Vorschein in sich trägt, dass Hester Prynnes schmähliche Straf- und dann siegreiche Läuterungsgeschichte vielfach verfilmt wurde, unter anderem von Wim Wenders und Roland Joffé, liegt auf der Hand.
Was muss dieser düstere Mann Nathaniel Hawthorne – 1804 in Salem, Massachusetts, als Sohn eines Kapitäns, der in Surinam dem Fieber erlag, geboren und 1864 in Plymouth, New Hampshire, gestorben – die Bigotterie, Verlogenheit, Enge und Unmenschlichkeit jenes Puritanismus gehasst haben, der auch heute noch in manchem in den Vereinigten Staaten weiterwirkt.
Es begann schon damit, dass er seinen ursprünglichen Namen Hathorne veränderte, um sich von den Ahnen zu distanzieren. Sein Urgroßvater war nämlich einst als Richter in die Hexenverfolgungen in Salem verwickelt. Zugleich war er, wie Hanjo Kesting im Nachwort zum „Haus mit den sieben Giebeln“ schreibt, „zutiefst geprägt von der christlichen und insbesondere calvinistischen Lehre von der Schuldbeladenheit der menschlichen Natur.“
Hawthorne ist einer der Gründungsväter der amerikanischen Literatur, geschätzt vom großen Edgar Allan Poe und als Genie verehrt vom einzigartigen Herman Melville, der Hawthorne „Moby Dick“ widmete. Während Melville als Seemann und Walfänger auf dem Meer die Menschheitsseele suchte, wendete sich der Seemannssohn Hawthorne von vornherein ins Innere. Nach dem Besuch des Bowdoin College in Maine, wo er Freundschaft mit dem späteren Präsidenten Frederick Pierce und dem Dichter Henry Wordsworth Longfellow pflegte, zog er sich in eine Dachkammer in Salem zurück, eigenbrötelte dort vor sich hin und ging nur nachts vor die Tür: „Ich habe aus mir einen Gefangenen gemacht und mich in einen Kerker gesteckt“, schrieb er an Longfellow, „und jetzt finde ich den Schlüssel nicht mehr, mit dem ich mir aufschließen könnte.“
Zum Glück lernte er 1837 Sophia Peabody kennen und heiratete sie 1842. Danach zog das junge Paar ins alte Pfarrhaus von Concord, dem Herzort der amerikanischen Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau. Diese Lebensphase, wohl eine der wenigen wirklich glücklichen Hawthornes, haben Sophia und Nathaniel in einem gemeinsamen Tagebuch festgehalten. Da werden die Freuden ländlichen Daseins beschrieben, Hawthorne schildert mit der gleichen Akribie, mit der er die Seelen seiner Protagonisten untersucht hat, nun das Heranwachsen verschiedener Kürbissorten, die vielen Farben der Blumen und das Vergnügen, all das in den Augen der geliebten Frau gespiegelt zu sehen. Nur manchmal will ihm auch dieses unschuldige Treiben, das ihn an Adam und Eva erinnert, dann doch wieder als letztlich verwerflicher Müßiggang erscheinen. Das gemeinsame Tagebuch, das Sophia vor der Veröffentlichung in einseitig pastoralem Sinn redigierte, endet mit einer emphatischen Hymne Sophias auf ihren Mann und ihre Beziehung. Das letzte Wort lautet: „Geheimnis.“
Nathaniel Hawthorne musste trotz Ruhm seinen Lebensunterhalt zeitweilig als Zollbeamter fristen und zog von 1853 bis 1857 auf Veranlassung seines alten Freundes Frederick Pierce, nun US-Präsident, als Konsul mit der Familie nach Liverpool. Dort trafen er und Melville letztmalig zusammen. Es folgten noch Jahre in Florenz und Rom, bevor die Hawthornes 1860 nach Concord zurückkehrten. Wenn man seine Erzählungen und Phantasien liest, merkt man rasch, wie sehr er in allen Figuren selbst in seiner düster und bedrohlich glühenden Binnenschau steckt. Nathaniel Hawthorne sah in sich einen Mann, „der dem menschlichen Leben nicht entfremdet ist, aber doch mitten in ihm umhüllt ist von einem Schleier, der aus vermischten trüben und hellen Farben gewoben ist“.
Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Jürgen Brôcan. Hanser Verlag, München 2014. 480 Seiten, 27,90 Euro.
Nathaniel Hawthorne : Das Haus mit den sieben Giebeln. Roman. Aus dem Englischen von Irma Wehrli, mit einem Nachwort von Hanjo Kesting. Manesse Verlag, Zürich 2014. 512 Seiten, 24,95 Euro.
Sophia & Nathaniel Hawthorne : Das Paradies der kleinen Dinge. Ein gemeinsames Tagebuch. Aus dem Englischen und herausgegeben von Alexander Pechmann. Mit einem Vorwort von Peter Handke. Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2014. 200 Seiten, 19,90 Euro.
Der berühmte scharlachrote
Buchstabe A gibt bis heute Anlass
zu vielfältigen Spekulationen
Eine eigene Art, mit ihrem Körper umzugehen, entwickelt Hester Prynne in Hawthornes Roman „Der scharlachrote Buchstabe“, und mit den Verfolgungen durch die unnachsichtige puritanische Gesellschaft. Das Bild stammt aus der Verfilmung von Roland Joffé mit Demi Moore und Gary Oldman.
Foto: imago/United Archives
Nathaniel Hawthorne, geboren 1804 in Salem, Massachusetts, gestorben 1864 in Plymouth. Seine Meisterwerke „Der scharlachrote Buchstabe“ und „Haus mit den sieben Giebeln“ schrieb er 1850/51 hintereinander weg.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nathaniel Hawthorne, der große amerikanische Erzähler mit dem Kameraauge, kann in seinen Romanen
„Der scharlachrote Buchstabe“ und „Das Haus mit den sieben Giebeln“ wiederentdeckt werden – und in einem Tagebuch
VON HARALD EGGEBRECHT
Der scharlachrote Buchstabe‘ hatte insgesamt nur einen Tonfall, ich musste bloß meine Stimmung treffen, dann konnte ich endlos fortfahren“, schrieb Nathaniel Hawthorne im November 1850 an seinen Bostoner Verleger James T. Fields. Dieser eine Tonfall endet aber nicht in ermüdender Monotonie, sondern gewinnt im Gegenteil eine ungeahnte Intensität, die das ganze Buch, das nicht nur für die amerikanische Literatur eine kaum zu überschätzende Bedeutung hat, durchpulst wie eben jener „endlos“ mögliche Erzählstrom, von dem Hawthorne spricht.
Dabei ist „The Scarlet Letter“ nicht nur die Geschichte der Hester Prynne, einer stolzen, schönen Frau, die den Vater ihres unehelich geborenen Kindes nicht preisgeben will, was in der harten puritanischen Welt im Neuengland des 17. Jahrhunderts nichts als ein schändliches Verbrechen ist. Vor allem die Frauen des Ortes Salem animiert dieses angebliche Verbrechen zu schauerlichsten Strafwünschen bis hin zur Brandmarkung und zum Todesurteil. Dass sich am Ende das scharlachrote „A“, das Hester Prynne offen an ihrem Gewand tragen muss, verwandelt vom Schandzeichen zum Ausweis ihrer Besonderheit und Herausgehobenheit, gehört zum allegorischen Kern von Hawthornes gewissermaßen sich ständig vergewisserndem Schreiben, in dem jede Aktion, jedes Mienenspiel analysiert, gedeutet, metaphorisiert und kommentiert wird, bis die Dichte der Beobachtungen nachlässt und den Blick für das Weitere freigibt. Daher hat Jürgen Brôcan im erhellenden Nachwort zu seiner sorgsamen Neuübersetzung auch von einer extrem langsamen, gleichsam filmischen Bewegung und vom „Kameraauge“ des Autors gesprochen.
Der berühmte Buchstabe „A“ gibt bis heute Anlass zu vielfältigen Spekulationen, was Hawthorne wohl mit ihm gemeint haben könnte. Adulteress (Ehebrecherin) scheint die plausibelste Erklärung zu sein, doch das Wort kommt im Text nie vor. Dafür heißt es späterhin, das „A“ bedeute, nachdem sich Hester um die Mühseligen und Beladenen kümmert, Angel , also Engel. Das „A“ gehört aber gewiss zu jener Art von Mystifikationen, die Hawthorne liebte und die zum letztlich schauerromantischen Inventar dieses Schriftstellers gehören, genauso wie sich Schwarzromantisches im zweiten großen Erzählwerk Hawthornes im titelgebenden „House of the Seven Gables“ manifestiert, dem Haus mit den sieben Giebeln. Beide Bücher schrieb Nathaniel Hawthorne in den Jahren 1850 und 1851 so gut wie hintereinander weg.
Er selbst schätzte seine zweite „romance“ höher ein. Doch wirkt das fluchbeladene Haus, dessen Geschichte bis in die Zeit der berüchtigten Hexenjagd von Salem zurückgreift, in der Oberst Pyncheon Matthew Maule als Hexer hängen lässt, um an dessen Ländereien heranzukommen, in mancher Hinsicht etwas schmökerhafter. Das Buch ist allerdings ausbalancierter, stilistisch runder, weniger symbolistisch und allegorisch aufgeladen und in des Autors Augen wohl perfekter.
Vor seiner Hinrichtung verflucht Maule Oberst Pyncheon: „Gott wird ihm Blut zu trinken geben!“ Schon bei der Einweihung des Siebengiebelhauses, das über dem so blutig unrechtmäßig erworbenen Grund errichtet wird, auf dem zuvor das Blockhaus des angeblichen Hexers stand, stirbt der Oberst so plötzlich wie unheimlich: „Zitternd wie Espenlaub schob sich die Gesellschaft näher und stellte fest, dass der starre Blick des Obersten unnatürlich verzerrt war; auf seiner Halskrause war Blut, und sein grauer Bart war getränkt davon.“ Der Graben zwischen den Maules und den Pyncheons ist, obwohl dieses Verhältnis nicht in kämpferischer Feindschaft ausgelebt wird, tiefer als der zwischen Montagues und Capulets über anderthalb Jahrhunderte hin. Erst mit der jungen Phoebe kommt Licht und Luft ins ominöse Haus und es bahnt sich eine Liebe zwischen ihr und dem letzten Maule, dem Künstler Holgrave, an. Die Jungen können die Macht des Fluchs brechen, indem sie am Ende das bedrohliche Haus verlassen.
Hawthorne hat deutlich zwischen „romance“ und „novel“ (Roman) unterschieden: „Man vermutet, dass die letztgenannte Kompositionsform eine genaue Treue nicht nur gegenüber dem möglichen, sondern auch dem wahrscheinlichen und gewöhnlichen Gang menschlicher Erfahrung anstrebt. Die erste hingegen, die sich als Kunstwerk zwar streng den Gesetzen unterwerfen muss und unverzeihlich sündigt, wenn sie von der Wahrheit des menschlichen Herzens abschweift, hat das Recht, diese Wahrheit unter Gegebenheiten darzustellen, die in hohem Maße ihres Autors eigene Wahl und Schöpfung sind.“
So raffiniert auch die Fäden im unheimlichen Siebengiebelhaus gesponnen und geknüpft werden, so sehr der Autor in die Seelen seiner Protagonisten sich vertieft, um dort deren vielfältige Schatten aufzuspüren, all das bleibt doch auf höchstem Niveau konventionelles Erzählkunstwerk.
Dagegen erreicht keine der Gestalten aus dem Giebelhaus jene die Zeitgebundenheit durchbrechende und die Phantasie nahezu in Realität verwandelnde Präsenz von Hester Prynne. Dass diese Frauengestalt bis in die modernste Moderne reicht, dass sie feministischen Vorschein in sich trägt, dass Hester Prynnes schmähliche Straf- und dann siegreiche Läuterungsgeschichte vielfach verfilmt wurde, unter anderem von Wim Wenders und Roland Joffé, liegt auf der Hand.
Was muss dieser düstere Mann Nathaniel Hawthorne – 1804 in Salem, Massachusetts, als Sohn eines Kapitäns, der in Surinam dem Fieber erlag, geboren und 1864 in Plymouth, New Hampshire, gestorben – die Bigotterie, Verlogenheit, Enge und Unmenschlichkeit jenes Puritanismus gehasst haben, der auch heute noch in manchem in den Vereinigten Staaten weiterwirkt.
Es begann schon damit, dass er seinen ursprünglichen Namen Hathorne veränderte, um sich von den Ahnen zu distanzieren. Sein Urgroßvater war nämlich einst als Richter in die Hexenverfolgungen in Salem verwickelt. Zugleich war er, wie Hanjo Kesting im Nachwort zum „Haus mit den sieben Giebeln“ schreibt, „zutiefst geprägt von der christlichen und insbesondere calvinistischen Lehre von der Schuldbeladenheit der menschlichen Natur.“
Hawthorne ist einer der Gründungsväter der amerikanischen Literatur, geschätzt vom großen Edgar Allan Poe und als Genie verehrt vom einzigartigen Herman Melville, der Hawthorne „Moby Dick“ widmete. Während Melville als Seemann und Walfänger auf dem Meer die Menschheitsseele suchte, wendete sich der Seemannssohn Hawthorne von vornherein ins Innere. Nach dem Besuch des Bowdoin College in Maine, wo er Freundschaft mit dem späteren Präsidenten Frederick Pierce und dem Dichter Henry Wordsworth Longfellow pflegte, zog er sich in eine Dachkammer in Salem zurück, eigenbrötelte dort vor sich hin und ging nur nachts vor die Tür: „Ich habe aus mir einen Gefangenen gemacht und mich in einen Kerker gesteckt“, schrieb er an Longfellow, „und jetzt finde ich den Schlüssel nicht mehr, mit dem ich mir aufschließen könnte.“
Zum Glück lernte er 1837 Sophia Peabody kennen und heiratete sie 1842. Danach zog das junge Paar ins alte Pfarrhaus von Concord, dem Herzort der amerikanischen Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau. Diese Lebensphase, wohl eine der wenigen wirklich glücklichen Hawthornes, haben Sophia und Nathaniel in einem gemeinsamen Tagebuch festgehalten. Da werden die Freuden ländlichen Daseins beschrieben, Hawthorne schildert mit der gleichen Akribie, mit der er die Seelen seiner Protagonisten untersucht hat, nun das Heranwachsen verschiedener Kürbissorten, die vielen Farben der Blumen und das Vergnügen, all das in den Augen der geliebten Frau gespiegelt zu sehen. Nur manchmal will ihm auch dieses unschuldige Treiben, das ihn an Adam und Eva erinnert, dann doch wieder als letztlich verwerflicher Müßiggang erscheinen. Das gemeinsame Tagebuch, das Sophia vor der Veröffentlichung in einseitig pastoralem Sinn redigierte, endet mit einer emphatischen Hymne Sophias auf ihren Mann und ihre Beziehung. Das letzte Wort lautet: „Geheimnis.“
Nathaniel Hawthorne musste trotz Ruhm seinen Lebensunterhalt zeitweilig als Zollbeamter fristen und zog von 1853 bis 1857 auf Veranlassung seines alten Freundes Frederick Pierce, nun US-Präsident, als Konsul mit der Familie nach Liverpool. Dort trafen er und Melville letztmalig zusammen. Es folgten noch Jahre in Florenz und Rom, bevor die Hawthornes 1860 nach Concord zurückkehrten. Wenn man seine Erzählungen und Phantasien liest, merkt man rasch, wie sehr er in allen Figuren selbst in seiner düster und bedrohlich glühenden Binnenschau steckt. Nathaniel Hawthorne sah in sich einen Mann, „der dem menschlichen Leben nicht entfremdet ist, aber doch mitten in ihm umhüllt ist von einem Schleier, der aus vermischten trüben und hellen Farben gewoben ist“.
Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Jürgen Brôcan. Hanser Verlag, München 2014. 480 Seiten, 27,90 Euro.
Nathaniel Hawthorne : Das Haus mit den sieben Giebeln. Roman. Aus dem Englischen von Irma Wehrli, mit einem Nachwort von Hanjo Kesting. Manesse Verlag, Zürich 2014. 512 Seiten, 24,95 Euro.
Sophia & Nathaniel Hawthorne : Das Paradies der kleinen Dinge. Ein gemeinsames Tagebuch. Aus dem Englischen und herausgegeben von Alexander Pechmann. Mit einem Vorwort von Peter Handke. Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2014. 200 Seiten, 19,90 Euro.
Der berühmte scharlachrote
Buchstabe A gibt bis heute Anlass
zu vielfältigen Spekulationen
Eine eigene Art, mit ihrem Körper umzugehen, entwickelt Hester Prynne in Hawthornes Roman „Der scharlachrote Buchstabe“, und mit den Verfolgungen durch die unnachsichtige puritanische Gesellschaft. Das Bild stammt aus der Verfilmung von Roland Joffé mit Demi Moore und Gary Oldman.
Foto: imago/United Archives
Nathaniel Hawthorne, geboren 1804 in Salem, Massachusetts, gestorben 1864 in Plymouth. Seine Meisterwerke „Der scharlachrote Buchstabe“ und „Haus mit den sieben Giebeln“ schrieb er 1850/51 hintereinander weg.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"'Der scharlachrote Buchstabe' ist nicht nur der originellste von Hawthornes Romanen, sondern das herausragendste Stück Prosa, das Amerika hervorgebracht hat." Henry James, 1906
"Der scharlachrote Buchstabe ist auch die Verwandlung eigener Erfahrung in große Literatur, nämlich in die Phantasie über eine Verfemte im Neuengland des 17. Jahrhunderts. ... eine Erzählkunst, die ihren eigenen Gesetzen folgt und keinen Respekt vor selbsternannten Eliten und einer von Macht und Reichtum geblendeten Menge hat." Renate Wiggershaus, Neue Zürcher Zeitung, 31.05.14
"In der eleganten Neuübersetzung von Jürgen Brocan." Jörg Magenau, Deutschlandradio Kultur, 13.06.14
"Der Lyriker Jürgen Brôcan hat eine Neuübersetzung vorgelegt, frischer und genauer als alle früheren und ausgestattet mit einem Anhang von Dokumenten und Kommentaren, der einen wunschlos glücklich macht." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 15.05.14
"Dieser eine Tonfall ... gewinnt eine ungeahnte Intensität, die das ganze Buch, das nicht nur für die amerikanische Literatur eine kaum zu überschätzende Bedeutung hat, durchpulst wie eben jener "endlos" mögliche Erzählstrom." Harald Eggebrecht, Süddeutsche Zeitung, 16.07.14
"Der scharlachrote Buchstabe ist auch die Verwandlung eigener Erfahrung in große Literatur, nämlich in die Phantasie über eine Verfemte im Neuengland des 17. Jahrhunderts. ... eine Erzählkunst, die ihren eigenen Gesetzen folgt und keinen Respekt vor selbsternannten Eliten und einer von Macht und Reichtum geblendeten Menge hat." Renate Wiggershaus, Neue Zürcher Zeitung, 31.05.14
"In der eleganten Neuübersetzung von Jürgen Brocan." Jörg Magenau, Deutschlandradio Kultur, 13.06.14
"Der Lyriker Jürgen Brôcan hat eine Neuübersetzung vorgelegt, frischer und genauer als alle früheren und ausgestattet mit einem Anhang von Dokumenten und Kommentaren, der einen wunschlos glücklich macht." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 15.05.14
"Dieser eine Tonfall ... gewinnt eine ungeahnte Intensität, die das ganze Buch, das nicht nur für die amerikanische Literatur eine kaum zu überschätzende Bedeutung hat, durchpulst wie eben jener "endlos" mögliche Erzählstrom." Harald Eggebrecht, Süddeutsche Zeitung, 16.07.14