New York in den 1940er Jahren: Während in Europa der Krieg wütet, sucht Hertz Minsker, selbsternannter Philosoph, Lebemann und chronisch pleite, sein Glück in Amerika. Bronja, seine vierte Frau, hat für ihn ihren Ehemann und ihre Kinder in Warschau zurückgelassen, jetzt schlagen sich die beiden mehr schlecht als recht durchs Leben. Unterstützung erhalten sie von Morris Calisher, einem Freund aus Jugendtagen, der mit Immobilien reich geworden ist. Dieser ahnt allerdings nicht, dass Hertz längst eine leidenschaftliche Affäre mit seiner Frau Minna begonnen hat ...
Der Scharlatan zeichnet ein eindrückliches Bild vom Leben der emigrierten Juden im New York der 1940er Jahre, das trotz der düsteren Grundstimmung immer wieder Momente voller Lebensfreude und Liebe bereithält.
Der Scharlatan zeichnet ein eindrückliches Bild vom Leben der emigrierten Juden im New York der 1940er Jahre, das trotz der düsteren Grundstimmung immer wieder Momente voller Lebensfreude und Liebe bereithält.
»Man muss sich vorm Verlag, der das Werk Singers jetzt wieder veröffentlicht verneigen. Denn damit verneigt man sich auch vor großer, echter, ehrlichster und schönster Weltliteratur, die ohne Singers Stimme absolut undenkbar ist.« Anna Prizkau Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20211128
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für die Rezensentin Susanne Klingenstein verfolgt Isaac Bashevis Singer in seinem Roman nur ein Ziel: Das Tier im Menschen herauszuarbeiten. Möglich, dass der Text um einen gefühlskalten Narzissten und Erotomanen im jiddischen Original überzeugender rüberkommt, meint Klingenstein, in der deutschen Fassung von Christa Krüger aber wirkt er banal, findet die Rezensentin. Dass der Roman im Holocaust verankert sei, wie das "nichtssagende" Nachwort behauptet, kann Klingenstein nicht erkennen. Von Singers Sprachgewalt findet sie hier ebenfalls keine Spur.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2021In diesem Kosmos gibt es keine Monogamie
Was Isaac Bashevis Singers jiddische Romane als Übersetzungen verlieren, zeigt "Der Scharlatan"
Im Jahr 1970 veröffentlichte die damals noch literarisch anspruchsvolle New Yorker Intellektuellenzeitschrift "Commentary" Cynthia Ozicks sarkastische Erzählung "Neid; oder, Jiddisch in Amerika". Wie ein kalter Blitz fuhr der unbarmherzige Witz von Ozicks fiktionalen Porträts in das müde Herz der alternden feinen jiddischen Poeten New Yorks, denn Ozicks Erzählung exponierte ihre Ablehnung des vulgären Drecks, den Isaac Bashevis Singers fiktionales Alter Ego in englischer Sprache verbreitete, als eine Funktion des blanken Neides. Denn der fiktionale Singer hatte es in Übersetzung zu internationalem Ruhm gebracht, während sie, die in einem vornehmen Jiddisch raffinierte Verse schmiedeten (der Dichter Jakob Glatstein fühlte sich hier angesprochen), unübersetzt in einer Ecke New Yorks vor sich hin moderten.
Ozicks Erzählung setzte sexuelle und literarische Potenz in eins und kontrastierte Singers explodierende Virilität mit der publizistischen Impotenz der verwelkenden jiddischen Dichter. Singer selbst hatte das Jiddisch mit einer "verhutzelten armen Großmutter" verglichen, deren sich die modernen, assimilierten Enkel schämten. Er fand das falsch und schuf etwa in der Erzählung "Di makhsheyfe" (Die Hexe) eine hässliche, primitive junge Frauengestalt von elementarer Wucht, die sich ihren Lehrer in einer sadomasochistischen Liebesgeschichte mit obszöner Gewalt unterwirft. In einer an Mikhail Bakhtin, Hélène Cixous und Julia Kristeva geschulten Interpretation dieser Geschichte arbeitete der israelische Literaturwissenschaftler Noam Gil heraus, dass es sich bei der sexuell potenten "Hexe", die in vielen Varianten in Singers Werk auftaucht, um eine Allegorie der jiddischen Sprache handelt, die dem blutigen Leben verbunden ist. Singer stellt sie, bewusst provozierend, der schön geformten, bürgerlich gezähmten Sprache der modernistischen jiddischen Dichtung entgegen, die in den sechziger Jahren in dünnen Lyrikbändchen verblühte.
Die jiddischen Dichter reagierten mit kaum verhaltener Wut auf Singers "Schweinereien". Glatstein schrieb: "Er erniedrigt seine Charaktere, indem er sie zu den gemeinsten Handlungen zwingt. Er brutalisiert sie und macht sie so widerwärtig, dass sie jüdische Leser abstoßen. . . . Juden haben noch nie eine derartige Literatur produziert, und Singer ist der Erste, der diese Unterwelt in die jiddische Literatur eingeführt hat." Wer Singer in jiddischer Sprache liest, verfällt über weite Strecken dem potenten Zauber seiner Sprachhexe. Sie ist nicht schön, aber so überwältigend lebendig, als hätte es den Holocaust nie gegeben.
Doch Singer wird eben nicht in jiddischer Sprache gelesen, und die entscheidende Frage zu Singers Werk stellte bereits Cynthia Ozick in ihrer Erzählung: Was wird aus der Hexe, wenn ihr der Zopf abgeschnitten wird? Was bleibt von Singers elementarer Sprachgewalt in Übersetzungen? Für seinen hier zu besprechenden Roman "Der Scharlatan", der 1941 in New York spielt, lautet die Antwort: erniedrigte Charaktere und gemeine Handlungen.
Der sechzigjährige Hertz Minsker, der Scharlatan des Titels, ist unter dem Deckelmäntelchen philosophischer Studien ("Humanforschung") ein Hedonist, dem die Frauen nachlaufen. Seine vierte Frau Bronja ließ 1940 ihren ersten Mann und die gemeinsamen Kinder in Warschau zurück. Hertz betrügt Bronja mit Minna, der Frau seines besten Freundes, und muss sich gegen Vereinnahmung durch weitere Frauen (Bessie und Miriam) wehren. Als seine Affäre mit Minna auffliegt und beide, aber jeder für sich, wie verlorene Seelen durch das nächtliche New York irren und in Cafeterien Unterschlupf suchen, erhält Hertz überraschend ein Stellenangebot an einer Universität im Mittleren Westen. Er kann nur eine Frau mitnehmen. Er entscheidet sich gegen Minna (zu vulgär) und gegen die schwangere Bronja, die seine Lust nicht mehr kitzelt: "Niemand kann mich zwingen, mit einer Ehefrau zusammenzuleben, die mich nicht mehr interessiert." Er nimmt die gebildete Miriam mit, weil sie ihm in der Universität nützlich sein wird.
In Hertz Minskers synkretistischer Theorie streben alle nach Glück: "Kopulation war gleichbedeutend mit Glück. Alles war Liebe - Essen, Trinken, Schlafen, Wissen . . . Im Kosmos gab es keine Monogamie. Die Sterne waren polygam." Es ist möglich, dass Minskers Ergüsse und sein maßloser Narzissmus in jiddischer Sprache und 1967/68, als Singers Geschichte in der jiddischen Tageszeitung "Forverts" als Fortsetzungsroman lief, gerade noch aushaltbar waren. Sie sind es aber nicht mehr in der banalen deutschen Fassung, die auf einem noch vom Autor durchgesehenen englischen Typoskript aus dessen Nachlass beruht. (Auch eine erfahrene Übersetzerin wie Christa Krüger kann aus seinem Schweinsohr keine Seidentasche machen). Im nichtssagenden Nachwort verpasst David Stromberg die Gelegenheit, den Roman biographisch und historisch zu verankern und die Poetik Singers herauszuarbeiten, der bekanntlich seine Figuren allegorisch nutzte. Stromberg begnügt sich mit Trivialitäten wie: "Ein Ideenroman, durchtränkt mit jiddischer Ironie und verankert in der Realität des Holocaust."
Obwohl die Handlung 1941 angesiedelt ist (um im Leser die Verachtung für Minskers Hedonismus zu steigern), hat er mit dem Holocaust nichts zu tun, denn Singers sexuelle Poetik war seit 1935 ("Satan in Goray") fest etabliert. Sie ist das Gegenteil der in der "Realität des Holocausts" etwa von Abraham Sutzkever im 1941 im Ghetto von Wilna entwickelten Poetik, mit deren Hilfe sich der Dichter seines Menschseins vergewissert und durch ethisches Denken und Handeln über die deutschen Mörder erhebt.
"Kopulation ist Glück" taugt als Idee maximal für Eintagsfliegen, und von Ironie, die in New Yorks jiddischen Dichterkreisen zart, intellektuell oder giftig sein konnte, ist im "Scharlatan" nichts zu spüren. Der Roman führt einen brutalen Schlag gegen alle, die einmal glaubten, die jiddische Literatur habe die Aufgabe, die Feinheit und Würde der Juden und deren Sprache unter Beweis zu stellen. Singer hielt das für unterwürfig und konterte mit seinem radikal pessimistischen Programm: Seid nicht naiv, wir sind Tiere wie alle. Wer hat recht? SUSANNE KLINGENSTEIN
Isaac Bashevis Singer: "Der Scharlatan". Roman.
Aus dem Englischen von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 397 S.,
geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was Isaac Bashevis Singers jiddische Romane als Übersetzungen verlieren, zeigt "Der Scharlatan"
Im Jahr 1970 veröffentlichte die damals noch literarisch anspruchsvolle New Yorker Intellektuellenzeitschrift "Commentary" Cynthia Ozicks sarkastische Erzählung "Neid; oder, Jiddisch in Amerika". Wie ein kalter Blitz fuhr der unbarmherzige Witz von Ozicks fiktionalen Porträts in das müde Herz der alternden feinen jiddischen Poeten New Yorks, denn Ozicks Erzählung exponierte ihre Ablehnung des vulgären Drecks, den Isaac Bashevis Singers fiktionales Alter Ego in englischer Sprache verbreitete, als eine Funktion des blanken Neides. Denn der fiktionale Singer hatte es in Übersetzung zu internationalem Ruhm gebracht, während sie, die in einem vornehmen Jiddisch raffinierte Verse schmiedeten (der Dichter Jakob Glatstein fühlte sich hier angesprochen), unübersetzt in einer Ecke New Yorks vor sich hin moderten.
Ozicks Erzählung setzte sexuelle und literarische Potenz in eins und kontrastierte Singers explodierende Virilität mit der publizistischen Impotenz der verwelkenden jiddischen Dichter. Singer selbst hatte das Jiddisch mit einer "verhutzelten armen Großmutter" verglichen, deren sich die modernen, assimilierten Enkel schämten. Er fand das falsch und schuf etwa in der Erzählung "Di makhsheyfe" (Die Hexe) eine hässliche, primitive junge Frauengestalt von elementarer Wucht, die sich ihren Lehrer in einer sadomasochistischen Liebesgeschichte mit obszöner Gewalt unterwirft. In einer an Mikhail Bakhtin, Hélène Cixous und Julia Kristeva geschulten Interpretation dieser Geschichte arbeitete der israelische Literaturwissenschaftler Noam Gil heraus, dass es sich bei der sexuell potenten "Hexe", die in vielen Varianten in Singers Werk auftaucht, um eine Allegorie der jiddischen Sprache handelt, die dem blutigen Leben verbunden ist. Singer stellt sie, bewusst provozierend, der schön geformten, bürgerlich gezähmten Sprache der modernistischen jiddischen Dichtung entgegen, die in den sechziger Jahren in dünnen Lyrikbändchen verblühte.
Die jiddischen Dichter reagierten mit kaum verhaltener Wut auf Singers "Schweinereien". Glatstein schrieb: "Er erniedrigt seine Charaktere, indem er sie zu den gemeinsten Handlungen zwingt. Er brutalisiert sie und macht sie so widerwärtig, dass sie jüdische Leser abstoßen. . . . Juden haben noch nie eine derartige Literatur produziert, und Singer ist der Erste, der diese Unterwelt in die jiddische Literatur eingeführt hat." Wer Singer in jiddischer Sprache liest, verfällt über weite Strecken dem potenten Zauber seiner Sprachhexe. Sie ist nicht schön, aber so überwältigend lebendig, als hätte es den Holocaust nie gegeben.
Doch Singer wird eben nicht in jiddischer Sprache gelesen, und die entscheidende Frage zu Singers Werk stellte bereits Cynthia Ozick in ihrer Erzählung: Was wird aus der Hexe, wenn ihr der Zopf abgeschnitten wird? Was bleibt von Singers elementarer Sprachgewalt in Übersetzungen? Für seinen hier zu besprechenden Roman "Der Scharlatan", der 1941 in New York spielt, lautet die Antwort: erniedrigte Charaktere und gemeine Handlungen.
Der sechzigjährige Hertz Minsker, der Scharlatan des Titels, ist unter dem Deckelmäntelchen philosophischer Studien ("Humanforschung") ein Hedonist, dem die Frauen nachlaufen. Seine vierte Frau Bronja ließ 1940 ihren ersten Mann und die gemeinsamen Kinder in Warschau zurück. Hertz betrügt Bronja mit Minna, der Frau seines besten Freundes, und muss sich gegen Vereinnahmung durch weitere Frauen (Bessie und Miriam) wehren. Als seine Affäre mit Minna auffliegt und beide, aber jeder für sich, wie verlorene Seelen durch das nächtliche New York irren und in Cafeterien Unterschlupf suchen, erhält Hertz überraschend ein Stellenangebot an einer Universität im Mittleren Westen. Er kann nur eine Frau mitnehmen. Er entscheidet sich gegen Minna (zu vulgär) und gegen die schwangere Bronja, die seine Lust nicht mehr kitzelt: "Niemand kann mich zwingen, mit einer Ehefrau zusammenzuleben, die mich nicht mehr interessiert." Er nimmt die gebildete Miriam mit, weil sie ihm in der Universität nützlich sein wird.
In Hertz Minskers synkretistischer Theorie streben alle nach Glück: "Kopulation war gleichbedeutend mit Glück. Alles war Liebe - Essen, Trinken, Schlafen, Wissen . . . Im Kosmos gab es keine Monogamie. Die Sterne waren polygam." Es ist möglich, dass Minskers Ergüsse und sein maßloser Narzissmus in jiddischer Sprache und 1967/68, als Singers Geschichte in der jiddischen Tageszeitung "Forverts" als Fortsetzungsroman lief, gerade noch aushaltbar waren. Sie sind es aber nicht mehr in der banalen deutschen Fassung, die auf einem noch vom Autor durchgesehenen englischen Typoskript aus dessen Nachlass beruht. (Auch eine erfahrene Übersetzerin wie Christa Krüger kann aus seinem Schweinsohr keine Seidentasche machen). Im nichtssagenden Nachwort verpasst David Stromberg die Gelegenheit, den Roman biographisch und historisch zu verankern und die Poetik Singers herauszuarbeiten, der bekanntlich seine Figuren allegorisch nutzte. Stromberg begnügt sich mit Trivialitäten wie: "Ein Ideenroman, durchtränkt mit jiddischer Ironie und verankert in der Realität des Holocaust."
Obwohl die Handlung 1941 angesiedelt ist (um im Leser die Verachtung für Minskers Hedonismus zu steigern), hat er mit dem Holocaust nichts zu tun, denn Singers sexuelle Poetik war seit 1935 ("Satan in Goray") fest etabliert. Sie ist das Gegenteil der in der "Realität des Holocausts" etwa von Abraham Sutzkever im 1941 im Ghetto von Wilna entwickelten Poetik, mit deren Hilfe sich der Dichter seines Menschseins vergewissert und durch ethisches Denken und Handeln über die deutschen Mörder erhebt.
"Kopulation ist Glück" taugt als Idee maximal für Eintagsfliegen, und von Ironie, die in New Yorks jiddischen Dichterkreisen zart, intellektuell oder giftig sein konnte, ist im "Scharlatan" nichts zu spüren. Der Roman führt einen brutalen Schlag gegen alle, die einmal glaubten, die jiddische Literatur habe die Aufgabe, die Feinheit und Würde der Juden und deren Sprache unter Beweis zu stellen. Singer hielt das für unterwürfig und konterte mit seinem radikal pessimistischen Programm: Seid nicht naiv, wir sind Tiere wie alle. Wer hat recht? SUSANNE KLINGENSTEIN
Isaac Bashevis Singer: "Der Scharlatan". Roman.
Aus dem Englischen von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 397 S.,
geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main