"Hundert Bücher in einem. Eine Bibliothek. Ein Wunder" (Welt am Sonntag). In seinem monumentalen Werk Der Schattenfotograf schreibt Schnurre Aphorismen, Dialoge, Zitate, Gedanken nieder und lässt seinen Pudel Ali mit Schopenhauers Pudel Atma korrespondieren. Ein Buch, das wie kein zweites. Neu aufgelegt mit einem Vorwort von Wilhelm Genazino.
Zunächst glauben wir, ein Tagebuch zu lesen, eines von der Qualität der Tagebücher Max Frischs. Am Beginn steht ein Datum (August 1976), am Schluss ebenso (10. Januar 1977), und das Autobiographische fehlt nicht: die Kindheit mit dem Vater, der Krieg, Krankheit, Schmerz und Tod, aber auch das Glück. Über die Familie, das Lesen, das Wissen und das Schreiben. Doch dieses Buch ist noch mehr. Schnurre gelingt es, in kleinen Notizen aus dem Alltag und genialischen Aphorismen, durch Zitate und Romanentwürfe, durch fiktive Briefe und Gedichte ein ganzes Menschengedächtnis abzubilden. Und Schnurres Gedächtnis ist ein Zeugnis der geistigen Beweglichkeit, ein Konvolut der gedanklichen Fülle. Er steht im Zentrum seines persönlichsten Buches, er als Mann, Vater, Partner, Sohn und Schriftsteller, und erzeugt so eine Nähe, wie sie selten in der Literatur zu finden ist, und bleibt doch vollkommen diskret. »Danke schön, Schattenfotograf.« (Peter Härtling)
Zunächst glauben wir, ein Tagebuch zu lesen, eines von der Qualität der Tagebücher Max Frischs. Am Beginn steht ein Datum (August 1976), am Schluss ebenso (10. Januar 1977), und das Autobiographische fehlt nicht: die Kindheit mit dem Vater, der Krieg, Krankheit, Schmerz und Tod, aber auch das Glück. Über die Familie, das Lesen, das Wissen und das Schreiben. Doch dieses Buch ist noch mehr. Schnurre gelingt es, in kleinen Notizen aus dem Alltag und genialischen Aphorismen, durch Zitate und Romanentwürfe, durch fiktive Briefe und Gedichte ein ganzes Menschengedächtnis abzubilden. Und Schnurres Gedächtnis ist ein Zeugnis der geistigen Beweglichkeit, ein Konvolut der gedanklichen Fülle. Er steht im Zentrum seines persönlichsten Buches, er als Mann, Vater, Partner, Sohn und Schriftsteller, und erzeugt so eine Nähe, wie sie selten in der Literatur zu finden ist, und bleibt doch vollkommen diskret. »Danke schön, Schattenfotograf.« (Peter Härtling)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2010Der geschundene, schuldbeladene, verfluchte Mensch
Fragmente einer Autobiographie: Wolfdietrich Schnurres beeindruckendes Werk "Schattenfotograf" wurde zurecht neu aufgelegt
Was bietet schon ein Roman? "Breitgewalzte Unterhaltungseffekte. Schnieke Stimmungen. Steile Entwicklungsprozesse. Knorrige Charakteristika. Hüpfende Zeitströmungsbojen." So schimpfte Wolfdietrich Schnurre, wenn die Verleger von ihm wieder mal einen "schönen Roman" erwarteten. Schnurre, der 1989 starb und am Sonntag neunzig Jahre alt geworden wäre, erzählte lieber Geschichten, weder schnieke noch steil, noch knorrig. Im Band "Funke im Reisig" sind dreißig der besten, entstanden in den Jahren zwischen 1945 und 1965, versammelt - eine Wiederentdeckung.
Gleich zu Beginn bekommt man es mit einem legendären Text zu tun: "Das Begräbnis" war die erste Geschichte, die beim Gründungstreffen der "Gruppe 47" vorgetragen wurde. 1977, beim Abschlusstreffen, wurde sie noch einmal gelesen - sehr zu Recht, denn die Erzählung über den Tod Gottes wirkt auch im Jahr 2010 noch frisch, ein klassisches Stück Kahlschlagliteratur, stilistisch abgemagert, philosophisch ausgenüchtert und schön skurril - kein Nietzsche-Pathos, sondern eine lakonische Berliner Antwort auf die Befunde von Sils Maria.
Schnurre definierte die Kurzgeschichte einmal als "Stück herausgerissenes Leben". Das klingt nach dokumentarischem Realismus, wie man ihn in seinen Werken jedoch kaum findet. Vielmehr unterwirft er die Realität einer bisweilen ausgetüftelten Dramaturgie, mischt Magisch-Märchenhaftes hinein und lässt die Menschen in kunstvoll stilisierter Alltagssprache reden - Eckkneipengespräche, wie sie in keiner Eckkneipe je geführt wurden, so wie in der Geschichte "Schwestern", wo eine Frau, die gerade eine Abtreibung hinter sich hat, einen geradezu paranoiden Dialog mit einem Mann führt, der als Homosexueller den Nationalsozialismus überlebte - eine gezeichnete Figur und ein Vorbild der Selbstbehauptung.
Auch Wolfdietrich Schnurres einst berühmte Antikriegserzählungen warten nicht mit brutaler Kriegsrealistik auf, die dem Autor nach sechs Jahren des verhassten Soldatendienstes vertraut genug gewesen sein muss. Vielmehr haben sie eine Tendenz ins Phantastische, etwa die pazifistische Groteske "Das Haus am See". Auf vierzig Seiten erzählt sie von einer Fischerfamilie, die sich durch die Kriegshandlungen ringsum in keinem Moment von ihrem Alltag abbringen lässt. Die Kämpfenden toben ums Haus, Schüsse krachen, ein Panzer qualmt im Garten - doch das Ganze wirkt wie ein Spiel erwachsener Kindsköpfe. Die Geschichte "Man sollte dagegen sein", in der Schnurre seine vehemente Ablehnung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik artikulierte, überspitzt die kollektive Begeisterung über Marschmusik und Manöverzauber, Wehrpflicht und "tapfere kleine Soldatenfrauen" maßlos ins Satirische. Alle Details für die Beschreibung der militarisierten Gesellschaft konnte Schnurre jedoch der wenige Jahre zurückliegenden Wirklichkeit des "Dritten Reichs" entnehmen - bis hin zum Vorwurf der "Untergrabung der Manneszucht", der ihn während des Krieges selbst in Arrest brachte. So werden das Realistische und das Absurde fast deckungsgleich.
Der Erzähler Schnurre richtet den Blick auf den Menschen, "wie er ist: geschunden, verfolgt, schuldbeladen, heimgesucht und verflucht". Auf dieser Basis bemüht er sich um jene Art der Wirkung auf den Leser, wie sie heute von Autoren oft schon aus purer Kitschangst vermieden wird (und außerdem aus Mangel an Schuld, Heimsuchung oder Fluch nur noch schwer zu erzielen ist): Mitgefühl, Rührung, Erschütterung. Wer jedenfalls an Trockenheit des Auges leidet, sollte "Die Reise zur Babuschka" lesen, die Geschichte der letzten Stunden zweier schwerverwundeter Soldaten, eines Russen und eines Deutschen - sehr kathartisch!
Als in den sechziger Jahren hierzulande die Moderne noch einmal nachgeholt wurde, galt der Geschichtenerzähler Schnurre bloß noch als handwerklich versierter Kleinmeister, der sich zudem in Kinderbüchern und Fernsehspielen fragwürdig verausgabte. Meist blieb er unter der Wahrnehmungsschwelle der Kritik. Das änderte sich 1978, als "Der Schattenfotograf" erschien. Einhellig war von Schnurres wichtigstem Werk die Rede. Es ist ein großes Lebens- und Werkstattbuch, eine Mixtur verschiedenster Formen: Aphorismen, Gedichte, in kleine Portionen zerlegte Geschichten, philosophierende Pudel-Dialoge (zwischen Schopenhauers Atma und Schnurres Ali), Selbstbefragungen im Stil von Montaigne oder Max Frisch - einige Resteverwertung wohl inbegriffen: Kostproben aus liegengebliebenen Romanen, Handlungsskizzen unausgeführter Geschichten. Das alles entspricht der Idee des Fragmentarischen, wie sie damals vielen als letztgültige literarische Form galt.
Bohrend sinnt Schnurre in diesem Buch über das missglückte deutsch-jüdische Verhältnis nach. Die Rabbi-Legenden, die er nacherzählt, die Betrachtungen zu Talmud und Chassidismus wirken bisweilen allerdings ebenso forciert wie das Philosophieren mit dem damals hoch im Kurs stehenden Ernst Bloch (den er als "Chef" anredet) oder mit Walter Benjamin (dem er erfreulich oft widerspricht). Schnurre ist ein kluger Autor, aber seine Beschreibungskunst überzeugt mehr als seine Gedankenarbeit.
Trotzdem ist "Der Schattenfotograf" ein Buch, das die Lektüre lohnt. Zeitlos wirkt die konzentrierte, elastische Prosa; berührend sind die eingestreuten Fragmente einer Autobiographie: Kindheits- und Jugenderinnerungen, Kriegserlebnisse, der Kampf mit dem Körper. Mit vierundvierzig erkrankte Schnurre an einer schweren Polyneuritis. Mehr als ein Jahr war er komplett gelähmt, konnte nur noch die Augen bewegen. In einer beeindruckenden Passage beschreibt er, wie er es mit Hilfe eines Flaschenzugs und einer Stahlmanschette am Arm unter Schweißausbrüchen und Herzflattern erstmals wieder schaffte, den Buchstaben "A" zu schreiben. Auch nach der Entlassung war er mit seinen atrophierten Armen und Beinen lange kaum bewegungsfähig, konnte keinen Knopf schließen, keine Schreibmaschinentaste drücken. Und es traf ihn gleich der nächste Schlag: Seine Frau Eva beging Selbstmord im Grunewald. Der Invalide arbeitete sich aus der Misere, heiratete abermals, adoptierte ein Kind, setzte dem Todesgedanken frische Lebenszuversicht entgegen.
Zentrale Motive und Antriebe von Schnurres Werken werden im "Schattenfotografen" erkennbar. An einer Stelle erzählt er, wie er als Kind eine Katze quälte und tötete - und darauf jahrelang von Katzenalbträumen und moralischen Zwangsvorstellungen gepeinigt wurde. Das Motiv leitet hinüber zu seiner frühen Geschichte "Die Tat", die - in späteren Fassungen zunehmend verschachtelt - von einem Soldaten erzählt, der vor das Kriegsgericht kommt und die Strafkompanie nicht überlebt. Sein Vergehen: Er war vor einem Kampfeinsatz in einen Fluss gesprungen und hatte sich eine Lungenentzündung geholt - vorsätzliche "Selbstverstümmelung", so das Kriegsgericht. Es stellt sich im Verlauf der Erzählung aber heraus: Der Mann wollte eine Katze von einer treibenden Eisscholle retten. Auch hier steht die Erinnerung an den kindlichen Katzenmord wie eine Urszene des Bösen im Zentrum. "Die Tat" ist eine ebenso eigenwillige wie faszinierende Parabel über das große Schnurre-Thema der Schuld.
Wilhelm Genazino hat Schnurre als verhinderten "Naturdichter" bezeichnet, was richtig und falsch zugleich ist. Denn in viele seiner Geschichten spielt Natur ja elementar hinein - am eindrucksvollsten vielleicht in der Meistererzählung "Das Manöver", in der eine großangelegte militärische Übung von panischen Schafherden ad absurdum geführt wird. Schnurre erweist sich immer wieder als kenntnisreicher Naturschilderer, aber auch auf diesem Gebiet bevorzugt er das Randständige: das Biotop eines Straßengrabens oder die wildernde Stadtnatur eines Ruinengrundstücks. Er erzählt von einem eifersüchtigen Kranich und einem kriegstraumatisierten Hund - Tiere halten Menschen den Spiegel vor, offenbaren das kreatürliche Leiden in unverstellter Form.
Die Liebe zur Natur wurde Schnurre vom Vater vorgelebt. Im "Schattenfotografen" widmet er ihm liebevolle Porträtskizzen - dem unbeirrbaren Demokraten, vergesslichen Erotiker und vor allem dem Vogelkundler, der daheim am Tisch in "ungeheuren Mengen grauen, muffig riechenden Waldohreulengewölles wühlte", um Mäuseknochen und Vogelschnäbel herauszusortieren. Etwas von der leidenschaftlichen Akribie des Gewöllewühlers zeichnet auch den moralischen Geschichtenerzähler Wolfdietrich Schnurre aus.
WOLFGANG SCHNEIDER
Wolfdietrich Schnurre: "Funke im Reisig". Erzählungen 1945 - 1965. Berlin Verlag, Berlin 2010. 410 S., geb., 26,- [Euro].
Ders.: "Der Schattenfotograf". Berlin Verlag, Berlin 2010. 532 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fragmente einer Autobiographie: Wolfdietrich Schnurres beeindruckendes Werk "Schattenfotograf" wurde zurecht neu aufgelegt
Was bietet schon ein Roman? "Breitgewalzte Unterhaltungseffekte. Schnieke Stimmungen. Steile Entwicklungsprozesse. Knorrige Charakteristika. Hüpfende Zeitströmungsbojen." So schimpfte Wolfdietrich Schnurre, wenn die Verleger von ihm wieder mal einen "schönen Roman" erwarteten. Schnurre, der 1989 starb und am Sonntag neunzig Jahre alt geworden wäre, erzählte lieber Geschichten, weder schnieke noch steil, noch knorrig. Im Band "Funke im Reisig" sind dreißig der besten, entstanden in den Jahren zwischen 1945 und 1965, versammelt - eine Wiederentdeckung.
Gleich zu Beginn bekommt man es mit einem legendären Text zu tun: "Das Begräbnis" war die erste Geschichte, die beim Gründungstreffen der "Gruppe 47" vorgetragen wurde. 1977, beim Abschlusstreffen, wurde sie noch einmal gelesen - sehr zu Recht, denn die Erzählung über den Tod Gottes wirkt auch im Jahr 2010 noch frisch, ein klassisches Stück Kahlschlagliteratur, stilistisch abgemagert, philosophisch ausgenüchtert und schön skurril - kein Nietzsche-Pathos, sondern eine lakonische Berliner Antwort auf die Befunde von Sils Maria.
Schnurre definierte die Kurzgeschichte einmal als "Stück herausgerissenes Leben". Das klingt nach dokumentarischem Realismus, wie man ihn in seinen Werken jedoch kaum findet. Vielmehr unterwirft er die Realität einer bisweilen ausgetüftelten Dramaturgie, mischt Magisch-Märchenhaftes hinein und lässt die Menschen in kunstvoll stilisierter Alltagssprache reden - Eckkneipengespräche, wie sie in keiner Eckkneipe je geführt wurden, so wie in der Geschichte "Schwestern", wo eine Frau, die gerade eine Abtreibung hinter sich hat, einen geradezu paranoiden Dialog mit einem Mann führt, der als Homosexueller den Nationalsozialismus überlebte - eine gezeichnete Figur und ein Vorbild der Selbstbehauptung.
Auch Wolfdietrich Schnurres einst berühmte Antikriegserzählungen warten nicht mit brutaler Kriegsrealistik auf, die dem Autor nach sechs Jahren des verhassten Soldatendienstes vertraut genug gewesen sein muss. Vielmehr haben sie eine Tendenz ins Phantastische, etwa die pazifistische Groteske "Das Haus am See". Auf vierzig Seiten erzählt sie von einer Fischerfamilie, die sich durch die Kriegshandlungen ringsum in keinem Moment von ihrem Alltag abbringen lässt. Die Kämpfenden toben ums Haus, Schüsse krachen, ein Panzer qualmt im Garten - doch das Ganze wirkt wie ein Spiel erwachsener Kindsköpfe. Die Geschichte "Man sollte dagegen sein", in der Schnurre seine vehemente Ablehnung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik artikulierte, überspitzt die kollektive Begeisterung über Marschmusik und Manöverzauber, Wehrpflicht und "tapfere kleine Soldatenfrauen" maßlos ins Satirische. Alle Details für die Beschreibung der militarisierten Gesellschaft konnte Schnurre jedoch der wenige Jahre zurückliegenden Wirklichkeit des "Dritten Reichs" entnehmen - bis hin zum Vorwurf der "Untergrabung der Manneszucht", der ihn während des Krieges selbst in Arrest brachte. So werden das Realistische und das Absurde fast deckungsgleich.
Der Erzähler Schnurre richtet den Blick auf den Menschen, "wie er ist: geschunden, verfolgt, schuldbeladen, heimgesucht und verflucht". Auf dieser Basis bemüht er sich um jene Art der Wirkung auf den Leser, wie sie heute von Autoren oft schon aus purer Kitschangst vermieden wird (und außerdem aus Mangel an Schuld, Heimsuchung oder Fluch nur noch schwer zu erzielen ist): Mitgefühl, Rührung, Erschütterung. Wer jedenfalls an Trockenheit des Auges leidet, sollte "Die Reise zur Babuschka" lesen, die Geschichte der letzten Stunden zweier schwerverwundeter Soldaten, eines Russen und eines Deutschen - sehr kathartisch!
Als in den sechziger Jahren hierzulande die Moderne noch einmal nachgeholt wurde, galt der Geschichtenerzähler Schnurre bloß noch als handwerklich versierter Kleinmeister, der sich zudem in Kinderbüchern und Fernsehspielen fragwürdig verausgabte. Meist blieb er unter der Wahrnehmungsschwelle der Kritik. Das änderte sich 1978, als "Der Schattenfotograf" erschien. Einhellig war von Schnurres wichtigstem Werk die Rede. Es ist ein großes Lebens- und Werkstattbuch, eine Mixtur verschiedenster Formen: Aphorismen, Gedichte, in kleine Portionen zerlegte Geschichten, philosophierende Pudel-Dialoge (zwischen Schopenhauers Atma und Schnurres Ali), Selbstbefragungen im Stil von Montaigne oder Max Frisch - einige Resteverwertung wohl inbegriffen: Kostproben aus liegengebliebenen Romanen, Handlungsskizzen unausgeführter Geschichten. Das alles entspricht der Idee des Fragmentarischen, wie sie damals vielen als letztgültige literarische Form galt.
Bohrend sinnt Schnurre in diesem Buch über das missglückte deutsch-jüdische Verhältnis nach. Die Rabbi-Legenden, die er nacherzählt, die Betrachtungen zu Talmud und Chassidismus wirken bisweilen allerdings ebenso forciert wie das Philosophieren mit dem damals hoch im Kurs stehenden Ernst Bloch (den er als "Chef" anredet) oder mit Walter Benjamin (dem er erfreulich oft widerspricht). Schnurre ist ein kluger Autor, aber seine Beschreibungskunst überzeugt mehr als seine Gedankenarbeit.
Trotzdem ist "Der Schattenfotograf" ein Buch, das die Lektüre lohnt. Zeitlos wirkt die konzentrierte, elastische Prosa; berührend sind die eingestreuten Fragmente einer Autobiographie: Kindheits- und Jugenderinnerungen, Kriegserlebnisse, der Kampf mit dem Körper. Mit vierundvierzig erkrankte Schnurre an einer schweren Polyneuritis. Mehr als ein Jahr war er komplett gelähmt, konnte nur noch die Augen bewegen. In einer beeindruckenden Passage beschreibt er, wie er es mit Hilfe eines Flaschenzugs und einer Stahlmanschette am Arm unter Schweißausbrüchen und Herzflattern erstmals wieder schaffte, den Buchstaben "A" zu schreiben. Auch nach der Entlassung war er mit seinen atrophierten Armen und Beinen lange kaum bewegungsfähig, konnte keinen Knopf schließen, keine Schreibmaschinentaste drücken. Und es traf ihn gleich der nächste Schlag: Seine Frau Eva beging Selbstmord im Grunewald. Der Invalide arbeitete sich aus der Misere, heiratete abermals, adoptierte ein Kind, setzte dem Todesgedanken frische Lebenszuversicht entgegen.
Zentrale Motive und Antriebe von Schnurres Werken werden im "Schattenfotografen" erkennbar. An einer Stelle erzählt er, wie er als Kind eine Katze quälte und tötete - und darauf jahrelang von Katzenalbträumen und moralischen Zwangsvorstellungen gepeinigt wurde. Das Motiv leitet hinüber zu seiner frühen Geschichte "Die Tat", die - in späteren Fassungen zunehmend verschachtelt - von einem Soldaten erzählt, der vor das Kriegsgericht kommt und die Strafkompanie nicht überlebt. Sein Vergehen: Er war vor einem Kampfeinsatz in einen Fluss gesprungen und hatte sich eine Lungenentzündung geholt - vorsätzliche "Selbstverstümmelung", so das Kriegsgericht. Es stellt sich im Verlauf der Erzählung aber heraus: Der Mann wollte eine Katze von einer treibenden Eisscholle retten. Auch hier steht die Erinnerung an den kindlichen Katzenmord wie eine Urszene des Bösen im Zentrum. "Die Tat" ist eine ebenso eigenwillige wie faszinierende Parabel über das große Schnurre-Thema der Schuld.
Wilhelm Genazino hat Schnurre als verhinderten "Naturdichter" bezeichnet, was richtig und falsch zugleich ist. Denn in viele seiner Geschichten spielt Natur ja elementar hinein - am eindrucksvollsten vielleicht in der Meistererzählung "Das Manöver", in der eine großangelegte militärische Übung von panischen Schafherden ad absurdum geführt wird. Schnurre erweist sich immer wieder als kenntnisreicher Naturschilderer, aber auch auf diesem Gebiet bevorzugt er das Randständige: das Biotop eines Straßengrabens oder die wildernde Stadtnatur eines Ruinengrundstücks. Er erzählt von einem eifersüchtigen Kranich und einem kriegstraumatisierten Hund - Tiere halten Menschen den Spiegel vor, offenbaren das kreatürliche Leiden in unverstellter Form.
Die Liebe zur Natur wurde Schnurre vom Vater vorgelebt. Im "Schattenfotografen" widmet er ihm liebevolle Porträtskizzen - dem unbeirrbaren Demokraten, vergesslichen Erotiker und vor allem dem Vogelkundler, der daheim am Tisch in "ungeheuren Mengen grauen, muffig riechenden Waldohreulengewölles wühlte", um Mäuseknochen und Vogelschnäbel herauszusortieren. Etwas von der leidenschaftlichen Akribie des Gewöllewühlers zeichnet auch den moralischen Geschichtenerzähler Wolfdietrich Schnurre aus.
WOLFGANG SCHNEIDER
Wolfdietrich Schnurre: "Funke im Reisig". Erzählungen 1945 - 1965. Berlin Verlag, Berlin 2010. 410 S., geb., 26,- [Euro].
Ders.: "Der Schattenfotograf". Berlin Verlag, Berlin 2010. 532 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Hingerissen zeigt sich Rezensent Rolf-Bernhard Essig von Wolfdietrich Schnurres Roman "Der Schattenfotograf". Das Werk ist in seinen Augen das "beste Buch" des 1989 gestorbenen Autors, der dieses Jahr 90 Jahre alt geworden wäre. Es offenbart für ihn eine Seiten an Schnurre, die angesichts der klaren Handlung und Dialogführung in den Erzählungen des Autors oft nicht wirklich wahrgenommen wurden: "gestalterische Finesse" und seine "sprachliche Genauigkeit". Auf den ersten Blick wirkt das Werk auf ihn wie ein wunderbares, buntes Notizbuch, wie ein herrlicher Mix aus Autobiografischem, Reflexion über das Schreiben, Briefen an Kollegen, Ideen für neue Werke, Aphoristischem, Kommentaren zu Ereignissen der 70er Jahre und Naturbeobachtungen. Aber das sollte einen nicht darüber täuschen, dass sich darin ein "bis ins Detail komponiertes Werk" findet, so Essig. Wie Schnurre Motivketten, Figuren, Themen und verschiedene autobiografische Erzählstränge miteinander verwebt, hat ihn sichtlich beeindruckt. Aber auch die spöttische Haltung, die der Autor sich selbst gegenüber einnimmt, weiß er zu schätzen. Und nicht zuletzt sieht er in dem Buch ein Werk, das immer wieder "unaufdringlich" zum Selberdenken einlädt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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