"Hundert Bücher in einem. Eine Bibliothek. Ein Wunder" (Welt am Sonntag). In seinem monumentalen Werk Der Schattenfotograf schreibt Schnurre Aphorismen, Dialoge, Zitate, Gedanken nieder und lässt seinen Pudel Ali mit Schopenhauers Pudel Atma korrespondieren. Ein Buch, das wie kein zweites. Neu aufgelegt mit einem Vorwort von Wilhelm Genazino.
Zunächst glauben wir, ein Tagebuch zu lesen, eines von der Qualität der Tagebücher Max Frischs. Am Beginn steht ein Datum (August 1976), am Schluss ebenso (10. Januar 1977), und das Autobiographische fehlt nicht: die Kindheit mit dem Vater, der Krieg, Krankheit, Schmerz und Tod, aber auch das Glück. Über die Familie, das Lesen, das Wissen und das Schreiben. Doch dieses Buch ist noch mehr. Schnurre gelingt es, in kleinen Notizen aus dem Alltag und genialischen Aphorismen, durch Zitate und Romanentwürfe, durch fiktive Briefe und Gedichte ein ganzes Menschengedächtnis abzubilden. Und Schnurres Gedächtnis ist ein Zeugnis der geistigen Beweglichkeit, ein Konvolut der gedanklichen Fülle. Er steht im Zentrum seines persönlichsten Buches, er als Mann, Vater, Partner, Sohn und Schriftsteller, und erzeugt so eine Nähe, wie sie selten in der Literatur zu finden ist, und bleibt doch vollkommen diskret. »Danke schön, Schattenfotograf.« (Peter Härtling)
Zunächst glauben wir, ein Tagebuch zu lesen, eines von der Qualität der Tagebücher Max Frischs. Am Beginn steht ein Datum (August 1976), am Schluss ebenso (10. Januar 1977), und das Autobiographische fehlt nicht: die Kindheit mit dem Vater, der Krieg, Krankheit, Schmerz und Tod, aber auch das Glück. Über die Familie, das Lesen, das Wissen und das Schreiben. Doch dieses Buch ist noch mehr. Schnurre gelingt es, in kleinen Notizen aus dem Alltag und genialischen Aphorismen, durch Zitate und Romanentwürfe, durch fiktive Briefe und Gedichte ein ganzes Menschengedächtnis abzubilden. Und Schnurres Gedächtnis ist ein Zeugnis der geistigen Beweglichkeit, ein Konvolut der gedanklichen Fülle. Er steht im Zentrum seines persönlichsten Buches, er als Mann, Vater, Partner, Sohn und Schriftsteller, und erzeugt so eine Nähe, wie sie selten in der Literatur zu finden ist, und bleibt doch vollkommen diskret. »Danke schön, Schattenfotograf.« (Peter Härtling)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2010Der geschundene, schuldbeladene, verfluchte Mensch
Fragmente einer Autobiographie: Wolfdietrich Schnurres beeindruckendes Werk "Schattenfotograf" wurde zurecht neu aufgelegt
Was bietet schon ein Roman? "Breitgewalzte Unterhaltungseffekte. Schnieke Stimmungen. Steile Entwicklungsprozesse. Knorrige Charakteristika. Hüpfende Zeitströmungsbojen." So schimpfte Wolfdietrich Schnurre, wenn die Verleger von ihm wieder mal einen "schönen Roman" erwarteten. Schnurre, der 1989 starb und am Sonntag neunzig Jahre alt geworden wäre, erzählte lieber Geschichten, weder schnieke noch steil, noch knorrig. Im Band "Funke im Reisig" sind dreißig der besten, entstanden in den Jahren zwischen 1945 und 1965, versammelt - eine Wiederentdeckung.
Gleich zu Beginn bekommt man es mit einem legendären Text zu tun: "Das Begräbnis" war die erste Geschichte, die beim Gründungstreffen der "Gruppe 47" vorgetragen wurde. 1977, beim Abschlusstreffen, wurde sie noch einmal gelesen - sehr zu Recht, denn die Erzählung über den Tod Gottes wirkt auch im Jahr 2010 noch frisch, ein klassisches Stück Kahlschlagliteratur, stilistisch abgemagert, philosophisch ausgenüchtert und schön skurril - kein Nietzsche-Pathos, sondern eine lakonische Berliner Antwort auf die Befunde von Sils Maria.
Schnurre definierte die Kurzgeschichte einmal als "Stück herausgerissenes Leben". Das klingt nach dokumentarischem Realismus, wie man ihn in seinen Werken jedoch kaum findet. Vielmehr unterwirft er die Realität einer bisweilen ausgetüftelten Dramaturgie, mischt Magisch-Märchenhaftes hinein und lässt die Menschen in kunstvoll stilisierter Alltagssprache reden - Eckkneipengespräche, wie sie in keiner Eckkneipe je geführt wurden, so wie in der Geschichte "Schwestern", wo eine Frau, die gerade eine Abtreibung hinter sich hat, einen geradezu paranoiden Dialog mit einem Mann führt, der als Homosexueller den Nationalsozialismus überlebte - eine gezeichnete Figur und ein Vorbild der Selbstbehauptung.
Auch Wolfdietrich Schnurres einst berühmte Antikriegserzählungen warten nicht mit brutaler Kriegsrealistik auf, die dem Autor nach sechs Jahren des verhassten Soldatendienstes vertraut genug gewesen sein muss. Vielmehr haben sie eine Tendenz ins Phantastische, etwa die pazifistische Groteske "Das Haus am See". Auf vierzig Seiten erzählt sie von einer Fischerfamilie, die sich durch die Kriegshandlungen ringsum in keinem Moment von ihrem Alltag abbringen lässt. Die Kämpfenden toben ums Haus, Schüsse krachen, ein Panzer qualmt im Garten - doch das Ganze wirkt wie ein Spiel erwachsener Kindsköpfe. Die Geschichte "Man sollte dagegen sein", in der Schnurre seine vehemente Ablehnung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik artikulierte, überspitzt die kollektive Begeisterung über Marschmusik und Manöverzauber, Wehrpflicht und "tapfere kleine Soldatenfrauen" maßlos ins Satirische. Alle Details für die Beschreibung der militarisierten Gesellschaft konnte Schnurre jedoch der wenige Jahre zurückliegenden Wirklichkeit des "Dritten Reichs" entnehmen - bis hin zum Vorwurf der "Untergrabung der Manneszucht", der ihn während des Krieges selbst in Arrest brachte. So werden das Realistische und das Absurde fast deckungsgleich.
Der Erzähler Schnurre richtet den Blick auf den Menschen, "wie er ist: geschunden, verfolgt, schuldbeladen, heimgesucht und verflucht". Auf dieser Basis bemüht er sich um jene Art der Wirkung auf den Leser, wie sie heute von Autoren oft schon aus purer Kitschangst vermieden wird (und außerdem aus Mangel an Schuld, Heimsuchung oder Fluch nur noch schwer zu erzielen ist): Mitgefühl, Rührung, Erschütterung. Wer jedenfalls an Trockenheit des Auges leidet, sollte "Die Reise zur Babuschka" lesen, die Geschichte der letzten Stunden zweier schwerverwundeter Soldaten, eines Russen und eines Deutschen - sehr kathartisch!
Als in den sechziger Jahren hierzulande die Moderne noch einmal nachgeholt wurde, galt der Geschichtenerzähler Schnurre bloß noch als handwerklich versierter Kleinmeister, der sich zudem in Kinderbüchern und Fernsehspielen fragwürdig verausgabte. Meist blieb er unter der Wahrnehmungsschwelle der Kritik. Das änderte sich 1978, als "Der Schattenfotograf" erschien. Einhellig war von Schnurres wichtigstem Werk die Rede. Es ist ein großes Lebens- und Werkstattbuch, eine Mixtur verschiedenster Formen: Aphorismen, Gedichte, in kleine Portionen zerlegte Geschichten, philosophierende Pudel-Dialoge (zwischen Schopenhauers Atma und Schnurres Ali), Selbstbefragungen im Stil von Montaigne oder Max Frisch - einige Resteverwertung wohl inbegriffen: Kostproben aus liegengebliebenen Romanen, Handlungsskizzen unausgeführter Geschichten. Das alles entspricht der Idee des Fragmentarischen, wie sie damals vielen als letztgültige literarische Form galt.
Bohrend sinnt Schnurre in diesem Buch über das missglückte deutsch-jüdische Verhältnis nach. Die Rabbi-Legenden, die er nacherzählt, die Betrachtungen zu Talmud und Chassidismus wirken bisweilen allerdings ebenso forciert wie das Philosophieren mit dem damals hoch im Kurs stehenden Ernst Bloch (den er als "Chef" anredet) oder mit Walter Benjamin (dem er erfreulich oft widerspricht). Schnurre ist ein kluger Autor, aber seine Beschreibungskunst überzeugt mehr als seine Gedankenarbeit.
Trotzdem ist "Der Schattenfotograf" ein Buch, das die Lektüre lohnt. Zeitlos wirkt die konzentrierte, elastische Prosa; berührend sind die eingestreuten Fragmente einer Autobiographie: Kindheits- und Jugenderinnerungen, Kriegserlebnisse, der Kampf mit dem Körper. Mit vierundvierzig erkrankte Schnurre an einer schweren Polyneuritis. Mehr als ein Jahr war er komplett gelähmt, konnte nur noch die Augen bewegen. In einer beeindruckenden Passage beschreibt er, wie er es mit Hilfe eines Flaschenzugs und einer Stahlmanschette am Arm unter Schweißausbrüchen und Herzflattern erstmals wieder schaffte, den Buchstaben "A" zu schreiben. Auch nach der Entlassung war er mit seinen atrophierten Armen und Beinen lange kaum bewegungsfähig, konnte keinen Knopf schließen, keine Schreibmaschinentaste drücken. Und es traf ihn gleich der nächste Schlag: Seine Frau Eva beging Selbstmord im Grunewald. Der Invalide arbeitete sich aus der Misere, heiratete abermals, adoptierte ein Kind, setzte dem Todesgedanken frische Lebenszuversicht entgegen.
Zentrale Motive und Antriebe von Schnurres Werken werden im "Schattenfotografen" erkennbar. An einer Stelle erzählt er, wie er als Kind eine Katze quälte und tötete - und darauf jahrelang von Katzenalbträumen und moralischen Zwangsvorstellungen gepeinigt wurde. Das Motiv leitet hinüber zu seiner frühen Geschichte "Die Tat", die - in späteren Fassungen zunehmend verschachtelt - von einem Soldaten erzählt, der vor das Kriegsgericht kommt und die Strafkompanie nicht überlebt. Sein Vergehen: Er war vor einem Kampfeinsatz in einen Fluss gesprungen und hatte sich eine Lungenentzündung geholt - vorsätzliche "Selbstverstümmelung", so das Kriegsgericht. Es stellt sich im Verlauf der Erzählung aber heraus: Der Mann wollte eine Katze von einer treibenden Eisscholle retten. Auch hier steht die Erinnerung an den kindlichen Katzenmord wie eine Urszene des Bösen im Zentrum. "Die Tat" ist eine ebenso eigenwillige wie faszinierende Parabel über das große Schnurre-Thema der Schuld.
Wilhelm Genazino hat Schnurre als verhinderten "Naturdichter" bezeichnet, was richtig und falsch zugleich ist. Denn in viele seiner Geschichten spielt Natur ja elementar hinein - am eindrucksvollsten vielleicht in der Meistererzählung "Das Manöver", in der eine großangelegte militärische Übung von panischen Schafherden ad absurdum geführt wird. Schnurre erweist sich immer wieder als kenntnisreicher Naturschilderer, aber auch auf diesem Gebiet bevorzugt er das Randständige: das Biotop eines Straßengrabens oder die wildernde Stadtnatur eines Ruinengrundstücks. Er erzählt von einem eifersüchtigen Kranich und einem kriegstraumatisierten Hund - Tiere halten Menschen den Spiegel vor, offenbaren das kreatürliche Leiden in unverstellter Form.
Die Liebe zur Natur wurde Schnurre vom Vater vorgelebt. Im "Schattenfotografen" widmet er ihm liebevolle Porträtskizzen - dem unbeirrbaren Demokraten, vergesslichen Erotiker und vor allem dem Vogelkundler, der daheim am Tisch in "ungeheuren Mengen grauen, muffig riechenden Waldohreulengewölles wühlte", um Mäuseknochen und Vogelschnäbel herauszusortieren. Etwas von der leidenschaftlichen Akribie des Gewöllewühlers zeichnet auch den moralischen Geschichtenerzähler Wolfdietrich Schnurre aus.
WOLFGANG SCHNEIDER
Wolfdietrich Schnurre: "Funke im Reisig". Erzählungen 1945 - 1965. Berlin Verlag, Berlin 2010. 410 S., geb., 26,- [Euro].
Ders.: "Der Schattenfotograf". Berlin Verlag, Berlin 2010. 532 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fragmente einer Autobiographie: Wolfdietrich Schnurres beeindruckendes Werk "Schattenfotograf" wurde zurecht neu aufgelegt
Was bietet schon ein Roman? "Breitgewalzte Unterhaltungseffekte. Schnieke Stimmungen. Steile Entwicklungsprozesse. Knorrige Charakteristika. Hüpfende Zeitströmungsbojen." So schimpfte Wolfdietrich Schnurre, wenn die Verleger von ihm wieder mal einen "schönen Roman" erwarteten. Schnurre, der 1989 starb und am Sonntag neunzig Jahre alt geworden wäre, erzählte lieber Geschichten, weder schnieke noch steil, noch knorrig. Im Band "Funke im Reisig" sind dreißig der besten, entstanden in den Jahren zwischen 1945 und 1965, versammelt - eine Wiederentdeckung.
Gleich zu Beginn bekommt man es mit einem legendären Text zu tun: "Das Begräbnis" war die erste Geschichte, die beim Gründungstreffen der "Gruppe 47" vorgetragen wurde. 1977, beim Abschlusstreffen, wurde sie noch einmal gelesen - sehr zu Recht, denn die Erzählung über den Tod Gottes wirkt auch im Jahr 2010 noch frisch, ein klassisches Stück Kahlschlagliteratur, stilistisch abgemagert, philosophisch ausgenüchtert und schön skurril - kein Nietzsche-Pathos, sondern eine lakonische Berliner Antwort auf die Befunde von Sils Maria.
Schnurre definierte die Kurzgeschichte einmal als "Stück herausgerissenes Leben". Das klingt nach dokumentarischem Realismus, wie man ihn in seinen Werken jedoch kaum findet. Vielmehr unterwirft er die Realität einer bisweilen ausgetüftelten Dramaturgie, mischt Magisch-Märchenhaftes hinein und lässt die Menschen in kunstvoll stilisierter Alltagssprache reden - Eckkneipengespräche, wie sie in keiner Eckkneipe je geführt wurden, so wie in der Geschichte "Schwestern", wo eine Frau, die gerade eine Abtreibung hinter sich hat, einen geradezu paranoiden Dialog mit einem Mann führt, der als Homosexueller den Nationalsozialismus überlebte - eine gezeichnete Figur und ein Vorbild der Selbstbehauptung.
Auch Wolfdietrich Schnurres einst berühmte Antikriegserzählungen warten nicht mit brutaler Kriegsrealistik auf, die dem Autor nach sechs Jahren des verhassten Soldatendienstes vertraut genug gewesen sein muss. Vielmehr haben sie eine Tendenz ins Phantastische, etwa die pazifistische Groteske "Das Haus am See". Auf vierzig Seiten erzählt sie von einer Fischerfamilie, die sich durch die Kriegshandlungen ringsum in keinem Moment von ihrem Alltag abbringen lässt. Die Kämpfenden toben ums Haus, Schüsse krachen, ein Panzer qualmt im Garten - doch das Ganze wirkt wie ein Spiel erwachsener Kindsköpfe. Die Geschichte "Man sollte dagegen sein", in der Schnurre seine vehemente Ablehnung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik artikulierte, überspitzt die kollektive Begeisterung über Marschmusik und Manöverzauber, Wehrpflicht und "tapfere kleine Soldatenfrauen" maßlos ins Satirische. Alle Details für die Beschreibung der militarisierten Gesellschaft konnte Schnurre jedoch der wenige Jahre zurückliegenden Wirklichkeit des "Dritten Reichs" entnehmen - bis hin zum Vorwurf der "Untergrabung der Manneszucht", der ihn während des Krieges selbst in Arrest brachte. So werden das Realistische und das Absurde fast deckungsgleich.
Der Erzähler Schnurre richtet den Blick auf den Menschen, "wie er ist: geschunden, verfolgt, schuldbeladen, heimgesucht und verflucht". Auf dieser Basis bemüht er sich um jene Art der Wirkung auf den Leser, wie sie heute von Autoren oft schon aus purer Kitschangst vermieden wird (und außerdem aus Mangel an Schuld, Heimsuchung oder Fluch nur noch schwer zu erzielen ist): Mitgefühl, Rührung, Erschütterung. Wer jedenfalls an Trockenheit des Auges leidet, sollte "Die Reise zur Babuschka" lesen, die Geschichte der letzten Stunden zweier schwerverwundeter Soldaten, eines Russen und eines Deutschen - sehr kathartisch!
Als in den sechziger Jahren hierzulande die Moderne noch einmal nachgeholt wurde, galt der Geschichtenerzähler Schnurre bloß noch als handwerklich versierter Kleinmeister, der sich zudem in Kinderbüchern und Fernsehspielen fragwürdig verausgabte. Meist blieb er unter der Wahrnehmungsschwelle der Kritik. Das änderte sich 1978, als "Der Schattenfotograf" erschien. Einhellig war von Schnurres wichtigstem Werk die Rede. Es ist ein großes Lebens- und Werkstattbuch, eine Mixtur verschiedenster Formen: Aphorismen, Gedichte, in kleine Portionen zerlegte Geschichten, philosophierende Pudel-Dialoge (zwischen Schopenhauers Atma und Schnurres Ali), Selbstbefragungen im Stil von Montaigne oder Max Frisch - einige Resteverwertung wohl inbegriffen: Kostproben aus liegengebliebenen Romanen, Handlungsskizzen unausgeführter Geschichten. Das alles entspricht der Idee des Fragmentarischen, wie sie damals vielen als letztgültige literarische Form galt.
Bohrend sinnt Schnurre in diesem Buch über das missglückte deutsch-jüdische Verhältnis nach. Die Rabbi-Legenden, die er nacherzählt, die Betrachtungen zu Talmud und Chassidismus wirken bisweilen allerdings ebenso forciert wie das Philosophieren mit dem damals hoch im Kurs stehenden Ernst Bloch (den er als "Chef" anredet) oder mit Walter Benjamin (dem er erfreulich oft widerspricht). Schnurre ist ein kluger Autor, aber seine Beschreibungskunst überzeugt mehr als seine Gedankenarbeit.
Trotzdem ist "Der Schattenfotograf" ein Buch, das die Lektüre lohnt. Zeitlos wirkt die konzentrierte, elastische Prosa; berührend sind die eingestreuten Fragmente einer Autobiographie: Kindheits- und Jugenderinnerungen, Kriegserlebnisse, der Kampf mit dem Körper. Mit vierundvierzig erkrankte Schnurre an einer schweren Polyneuritis. Mehr als ein Jahr war er komplett gelähmt, konnte nur noch die Augen bewegen. In einer beeindruckenden Passage beschreibt er, wie er es mit Hilfe eines Flaschenzugs und einer Stahlmanschette am Arm unter Schweißausbrüchen und Herzflattern erstmals wieder schaffte, den Buchstaben "A" zu schreiben. Auch nach der Entlassung war er mit seinen atrophierten Armen und Beinen lange kaum bewegungsfähig, konnte keinen Knopf schließen, keine Schreibmaschinentaste drücken. Und es traf ihn gleich der nächste Schlag: Seine Frau Eva beging Selbstmord im Grunewald. Der Invalide arbeitete sich aus der Misere, heiratete abermals, adoptierte ein Kind, setzte dem Todesgedanken frische Lebenszuversicht entgegen.
Zentrale Motive und Antriebe von Schnurres Werken werden im "Schattenfotografen" erkennbar. An einer Stelle erzählt er, wie er als Kind eine Katze quälte und tötete - und darauf jahrelang von Katzenalbträumen und moralischen Zwangsvorstellungen gepeinigt wurde. Das Motiv leitet hinüber zu seiner frühen Geschichte "Die Tat", die - in späteren Fassungen zunehmend verschachtelt - von einem Soldaten erzählt, der vor das Kriegsgericht kommt und die Strafkompanie nicht überlebt. Sein Vergehen: Er war vor einem Kampfeinsatz in einen Fluss gesprungen und hatte sich eine Lungenentzündung geholt - vorsätzliche "Selbstverstümmelung", so das Kriegsgericht. Es stellt sich im Verlauf der Erzählung aber heraus: Der Mann wollte eine Katze von einer treibenden Eisscholle retten. Auch hier steht die Erinnerung an den kindlichen Katzenmord wie eine Urszene des Bösen im Zentrum. "Die Tat" ist eine ebenso eigenwillige wie faszinierende Parabel über das große Schnurre-Thema der Schuld.
Wilhelm Genazino hat Schnurre als verhinderten "Naturdichter" bezeichnet, was richtig und falsch zugleich ist. Denn in viele seiner Geschichten spielt Natur ja elementar hinein - am eindrucksvollsten vielleicht in der Meistererzählung "Das Manöver", in der eine großangelegte militärische Übung von panischen Schafherden ad absurdum geführt wird. Schnurre erweist sich immer wieder als kenntnisreicher Naturschilderer, aber auch auf diesem Gebiet bevorzugt er das Randständige: das Biotop eines Straßengrabens oder die wildernde Stadtnatur eines Ruinengrundstücks. Er erzählt von einem eifersüchtigen Kranich und einem kriegstraumatisierten Hund - Tiere halten Menschen den Spiegel vor, offenbaren das kreatürliche Leiden in unverstellter Form.
Die Liebe zur Natur wurde Schnurre vom Vater vorgelebt. Im "Schattenfotografen" widmet er ihm liebevolle Porträtskizzen - dem unbeirrbaren Demokraten, vergesslichen Erotiker und vor allem dem Vogelkundler, der daheim am Tisch in "ungeheuren Mengen grauen, muffig riechenden Waldohreulengewölles wühlte", um Mäuseknochen und Vogelschnäbel herauszusortieren. Etwas von der leidenschaftlichen Akribie des Gewöllewühlers zeichnet auch den moralischen Geschichtenerzähler Wolfdietrich Schnurre aus.
WOLFGANG SCHNEIDER
Wolfdietrich Schnurre: "Funke im Reisig". Erzählungen 1945 - 1965. Berlin Verlag, Berlin 2010. 410 S., geb., 26,- [Euro].
Ders.: "Der Schattenfotograf". Berlin Verlag, Berlin 2010. 532 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.09.2010Der Krieg als Sprachschule
Splitterchronist, Schattenfotograf: Erzählungen und Prosa des Autors und Kritikers Wolfdietrich Schnurre
Wolfdietrich Schnurre besitzt keinen Platz mehr in unserem literarischen Gedächtnis. Durchblättert man Literaturgeschichten nach seinem Namen, stößt man auf ihn nicht als einen Meister der Kurzgeschichte – also: als eigenständigen Autor –, sondern nur mehr als anekdotische Figur. Als denjenigen, der als allererster Autor auf einer Tagung der Gruppe 47 vorgetragen hat. Das war am 6. September 1947 am Bannwaldsee, lesen wir dann, im Haus von Ilse Schneider-Lengyel. Weiter erfahren wir, dass das improvisierte Treffen der Handvoll Schriftsteller erst im Nachhinein zur Gründungsveranstaltung der bekanntesten literarischen Gruppierung nach 1945 geadelt wurde.
Dann wird noch aus Hans Werner Richters Erinnerung „Wie entstand und was war die Gruppe 47?“ von 1979 zitiert, in der der „Lehrer der Autorität“ (Peter Wapnewski) schildert, wie das legendäre Procedere des Kritisiert-Werdens im Anschluss an Schnurres Lesung entstanden ist – „der Ton der kritischen Äußerungen ist rau, die Sätze kurz, knapp, unmissverständlich“. Namen und Inhalt von Schnurres Erzählung hingegen erfahren wir meist schon nicht mehr. Sie heißt „Das Begräbnis“, in der „n gewisser Klott oder Gott oder so ähnlich“ nicht beerdigt, nein, das ist viel zu feierlich, sondern verscharrt wird. Bei strömendem Regen: „Die Kiste rumpelt zur Erde. H. GOTT ist drangeschrieben mit Kreide. Drunter n Datum; schon verwischt aber.“
Oft fällt im Zusammenhang mit der Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit das von Wolfgang Weyrauch erst 1949 geprägte Wort vom „Kahlschlag“. Wenn es auch nur für wenige Autoren jener Jahre Gültigkeit hat, auf Schnurre trifft es zu. Viel mehr als etwa auf Wolfgang Borchert. Schnurre, gerade sechseinhalb „sinnlose Jahre als Soldat“ hinter sich, war tief überzeugt, dass seine Muttersprache von der Ideologie der Nazis „verseucht“ war, und so bemühte er sich in seinen Geschichten um eine neue, schlichte, unaffektierte Literatursprache. Sie lehnte sich an die Alltagssprache an, und das hieß bei Schnurre: ans Berlinerische. Zwar war er 1920 in Frankfurt am Main geboren, aber gut drei Viertel seines Lebens verbrachte er in Berlin, zuerst von 1928 bis 1939, dann wieder von 1945 bis in die frühen achtziger Jahre, als er sich zurückzog aufs Land nach Felde bei Kiel. Er starb 1989.
„Kritik und Waffe“ heißt ein Text von 1959, in dem er formuliert, was für ihn eine Kurzgeschichte ausmacht: „Sie ist ein Stück herausgerissenes Leben . . . ihre Sprache ist einfach, aber niemals banal. Nie reden ihre Menschen auch in der Wirklichkeit so, aber immer hat man das Gefühl, sie könnten so reden. Ihre Stärke liegt im Weglassen, ihr Kunstgriff ist die Untertreibung.“ Bedenkt man all dies, ist es umso erstaunlicher, dass etwa in der „Deutschen Literaturgeschichte. Band 11“ des Deutschen Taschenbuch-Verlages Schnurres Name im Kapitel über die Kurzprosa der Nachkriegszeit keine Erwähnung findet. Schnurre galt zudem lange Zeit seiner engagierten Haltung wegen als der Schulbuchautor schlechthin. „Nicht so sehr literarischer Ehrgeiz“, schrieb er in „Kritik und Waffe“ über den Short-Story-Schreiber, sondern „sein Gewissen treibt ihn zum Schreibtisch“. Im Deutschbuch für Bayerns 6. Gymnasialklassen sind heute noch zwei seiner Geschichten zu finden.
Dass sich etwas an der Nichtbeachtung des Autors, der am 22. August neunzig Jahre alt geworden wäre, durch die Neuauflage vieler seiner Werke im Berlin Verlag ändern wird, bleibt zu wünschen, ist aber fraglich. Der Band „Funke im Reisig. Erzählungen 1945 bis 1965“ enthält alle einst so bekannten Kurzgeschichten und lohnt die Lektüre: „Steppenkopp“, von Günter Grass hoch geschätzt, und „Reusenheben“, von Gabriele Wohmann, sind da etwa zu finden. Zudem: „Das Begräbnis“, „Der Ausmarsch“, „Man sollte dagegen sein“ und der programmatische Text „Kritik und Waffe“.
Schon zu Schnurres Lebzeiten besaß die Rezeption seiner Arbeiten ihre Aufs und Abs. Er wusste darum: „In einer Statistik entdeckt, daß ich zwischen 1945 und 1972 von allen deutschen Autoren, die meisten Bücher veröffentlicht habe. Verdutzt und bekümmert . . . Dazu: Kürzlich gelesen, daß ich der verkannteste zeitgenössische Schriftsteller sei. Daran ist etwas Wahres; schließlich rechtschaffen daran gearbeitet, es auch zeit meines Lebens zu bleiben.“ In diesen Zeilen aus dem Buch „Der Schattenfotograf“ von 1978 klingt gleichermaßen Stolz wie Selbstkritik an. Schnurre mied ab 1951 die Treffen der Gruppe 47, mit der Sprachpoesie vieler neuer Kollegen und Kolleginnen konnte er nichts anfangen: „Verständlich sein. Im Grunde die einzige Pflicht, die ich als Schriftsteller habe. Denn sie bedeutet den entscheidenden Schritt in die angewandte Humanität“.
Schnurres Herz gehörte immer den Außenseitern. Im Literaturbetrieb der Bundesrepublik wurde er mehr und mehr selber einer. Marcel Reich-Ranicki betitelte einen Aufsatz über ihn „Der militante Kauz Wolfdietrich Schnurre“ – 1961 trat er aus dem deutschen PEN aus, weil die Schriftstellervereinigung nicht zum Mauerbau Stellung nehmen wollte. Persönliche Schicksalsschläge taten ein Übriges: 1964 erkrankte er an Polyneuritis, lag anderthalb Jahre im Krankenhaus, und fortan quälte er sich an Stöcken durchs Leben. Ein Jahr später nahm sich seine zweite Ehefrau Eva das Leben. Seine dritte Frau Marina schließlich musste gegen den Brustkrebs kämpfen – ein Kampf, den sie gewann, der ihn aber sehr belastete.
Der Tod sei sein Thema Nummer eins, äußerte Schnurre einmal, und wer dem Menschen wie dem Literaten begegnen will, der sollte zum „Schattenfotografen“ greifen. Ein neuer Schnurre stellt sich hier 1978 den Lesern vor: nicht mehr der Kurzgeschichtenschreiber, sondern der „Splitterchronist“, der „Mosaikbiograph“. Das Buch ist eine Mischung aus autobiographischen Erinnerungspartikeln und Tagebuchnotizen, aus Aphorismen, Reflexionen und kleinen Geschichten. Schnurre setzt sich mit seinen Hausgöttern Bloch, Kafka und Benjamin auseinander. Bezieht sich auf den Talmud. Erinnert an das Schicksal der Zigeuner unter den Nazis. Die Grausamkeiten des Krieges kommen zur Sprache.
Es wird über Krankheit, Zeit, Vergänglichkeit nachgedacht. „Es gibt nur ein Thema: Die Endlichkeit. Und: Was sich abspielt vor ihr“, heißt es an einer Stelle. An einer anderen, auf den Buchtitel Bezug nehmend: „Dunkel davor, Dunkel danach. Umgekehrt also: Der Schatten wirft uns; als Geburtsakt verstanden.“ Jetzt ist Schnurre für kurze Zeit wieder im literarischen Gespräch, es gipfelt 1983 in der Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis.
Schnurre hat ungemein viel geschrieben, er war auch Filmkritiker (ein neuer Band in der edition text + kritik dokumentiert dies nun), Rundfunk- und Drehbuchautor. Auch heitere Geschichten flossen aus seiner Feder, was manche Zeitgenossen irritierte. Die vom Autor selbst wunderbar illustrierten Geschichten, die man nun in „Ein Leben. Eine Bildergeschichte mit Aufgaben“ oder in dem Band „Es ist wie mit dem Glück“ über Müßiggänger, Bucklige, Ehepaare, lesen kann, legen davon Zeugnis ab. Auf den ersten Blick.
Auf den zweiten fällt auf, dass die 19 Erzählungen, ursprünglich 1964 erschienen, auch wieder nur von Randfiguren der Gesellschaft bevölkert sind. Oder von Tieren, etwa einer Eintagsfliege, die Tagebuch führt. An Witz und Bosheit ist das nicht zu überbieten. Gerade drei Stunden auf der Welt, donnert sie gegen die Absurdität des Lebens: „Oh, diese Farce von einem Dasein . . . der Weltgeist berauscht sich an der Machtlosigkeit seiner Geschöpfe; er erschafft uns, um uns scheitern zu sehen.“
FLORIAN WELLE
WOLFDIETRICH SCHNURRE: Funke im Reisig. Erzählungen 1945 bis 1965. Berlin Verlag, Berlin 2010. 410 Seiten, 26 Euro.
WOLFDIETRICH SCHNURRE: Es istwie mit dem Glück. Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2010. 242 S., 10,95 Euro.
WOLFDIETRICH SCHNURRE: Der Schattenfotograf. Berlin Verlag, Berlin 2010. 532 S., 28,80 Euro.
WOLFDIETRICH SCHNURRE: Ein Leben. Eine Bildergeschichte mit Aufgaben. Berlin Verlag, Berlin 2010. 58 Seiten, 15 Euro.
ROLF AURICH, WOLFGANG JACOBSEN (Hrsg.): Wolfdietrich Schnurre. Kritiker. Mit Aufsätzen und Kritiken von Wolfdietrich Schnurre. Essay von Jörg Becker. edition text + kritik. München 2010. 322 S., 22 Euro.
„Die Kiste rumpelt zur Erde.
H. GOTT ist drangeschrieben
mit Kreide. Drunter n Datum“
Obwohl er der allererste Autor war, der auf der Gründungsveranstaltung der Gruppe 47 las, hat Wolfdietrich Schnurre keinen Platz mehr in unserem literarischen Gedächtnis. Er, der Exponent der „Kahlschlag“-Literatur, war zeitlebens ein Außenseiter und zog sich in seinen letzten Jahren von Berlin aufs Land zurück. Als er 1989 starb, kannte man ihn nicht mehr als Meister der Kurzprosa, sondern nur noch als SchulbuchKlassiker und kauzige Figur.
Foto: dpa
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Splitterchronist, Schattenfotograf: Erzählungen und Prosa des Autors und Kritikers Wolfdietrich Schnurre
Wolfdietrich Schnurre besitzt keinen Platz mehr in unserem literarischen Gedächtnis. Durchblättert man Literaturgeschichten nach seinem Namen, stößt man auf ihn nicht als einen Meister der Kurzgeschichte – also: als eigenständigen Autor –, sondern nur mehr als anekdotische Figur. Als denjenigen, der als allererster Autor auf einer Tagung der Gruppe 47 vorgetragen hat. Das war am 6. September 1947 am Bannwaldsee, lesen wir dann, im Haus von Ilse Schneider-Lengyel. Weiter erfahren wir, dass das improvisierte Treffen der Handvoll Schriftsteller erst im Nachhinein zur Gründungsveranstaltung der bekanntesten literarischen Gruppierung nach 1945 geadelt wurde.
Dann wird noch aus Hans Werner Richters Erinnerung „Wie entstand und was war die Gruppe 47?“ von 1979 zitiert, in der der „Lehrer der Autorität“ (Peter Wapnewski) schildert, wie das legendäre Procedere des Kritisiert-Werdens im Anschluss an Schnurres Lesung entstanden ist – „der Ton der kritischen Äußerungen ist rau, die Sätze kurz, knapp, unmissverständlich“. Namen und Inhalt von Schnurres Erzählung hingegen erfahren wir meist schon nicht mehr. Sie heißt „Das Begräbnis“, in der „n gewisser Klott oder Gott oder so ähnlich“ nicht beerdigt, nein, das ist viel zu feierlich, sondern verscharrt wird. Bei strömendem Regen: „Die Kiste rumpelt zur Erde. H. GOTT ist drangeschrieben mit Kreide. Drunter n Datum; schon verwischt aber.“
Oft fällt im Zusammenhang mit der Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit das von Wolfgang Weyrauch erst 1949 geprägte Wort vom „Kahlschlag“. Wenn es auch nur für wenige Autoren jener Jahre Gültigkeit hat, auf Schnurre trifft es zu. Viel mehr als etwa auf Wolfgang Borchert. Schnurre, gerade sechseinhalb „sinnlose Jahre als Soldat“ hinter sich, war tief überzeugt, dass seine Muttersprache von der Ideologie der Nazis „verseucht“ war, und so bemühte er sich in seinen Geschichten um eine neue, schlichte, unaffektierte Literatursprache. Sie lehnte sich an die Alltagssprache an, und das hieß bei Schnurre: ans Berlinerische. Zwar war er 1920 in Frankfurt am Main geboren, aber gut drei Viertel seines Lebens verbrachte er in Berlin, zuerst von 1928 bis 1939, dann wieder von 1945 bis in die frühen achtziger Jahre, als er sich zurückzog aufs Land nach Felde bei Kiel. Er starb 1989.
„Kritik und Waffe“ heißt ein Text von 1959, in dem er formuliert, was für ihn eine Kurzgeschichte ausmacht: „Sie ist ein Stück herausgerissenes Leben . . . ihre Sprache ist einfach, aber niemals banal. Nie reden ihre Menschen auch in der Wirklichkeit so, aber immer hat man das Gefühl, sie könnten so reden. Ihre Stärke liegt im Weglassen, ihr Kunstgriff ist die Untertreibung.“ Bedenkt man all dies, ist es umso erstaunlicher, dass etwa in der „Deutschen Literaturgeschichte. Band 11“ des Deutschen Taschenbuch-Verlages Schnurres Name im Kapitel über die Kurzprosa der Nachkriegszeit keine Erwähnung findet. Schnurre galt zudem lange Zeit seiner engagierten Haltung wegen als der Schulbuchautor schlechthin. „Nicht so sehr literarischer Ehrgeiz“, schrieb er in „Kritik und Waffe“ über den Short-Story-Schreiber, sondern „sein Gewissen treibt ihn zum Schreibtisch“. Im Deutschbuch für Bayerns 6. Gymnasialklassen sind heute noch zwei seiner Geschichten zu finden.
Dass sich etwas an der Nichtbeachtung des Autors, der am 22. August neunzig Jahre alt geworden wäre, durch die Neuauflage vieler seiner Werke im Berlin Verlag ändern wird, bleibt zu wünschen, ist aber fraglich. Der Band „Funke im Reisig. Erzählungen 1945 bis 1965“ enthält alle einst so bekannten Kurzgeschichten und lohnt die Lektüre: „Steppenkopp“, von Günter Grass hoch geschätzt, und „Reusenheben“, von Gabriele Wohmann, sind da etwa zu finden. Zudem: „Das Begräbnis“, „Der Ausmarsch“, „Man sollte dagegen sein“ und der programmatische Text „Kritik und Waffe“.
Schon zu Schnurres Lebzeiten besaß die Rezeption seiner Arbeiten ihre Aufs und Abs. Er wusste darum: „In einer Statistik entdeckt, daß ich zwischen 1945 und 1972 von allen deutschen Autoren, die meisten Bücher veröffentlicht habe. Verdutzt und bekümmert . . . Dazu: Kürzlich gelesen, daß ich der verkannteste zeitgenössische Schriftsteller sei. Daran ist etwas Wahres; schließlich rechtschaffen daran gearbeitet, es auch zeit meines Lebens zu bleiben.“ In diesen Zeilen aus dem Buch „Der Schattenfotograf“ von 1978 klingt gleichermaßen Stolz wie Selbstkritik an. Schnurre mied ab 1951 die Treffen der Gruppe 47, mit der Sprachpoesie vieler neuer Kollegen und Kolleginnen konnte er nichts anfangen: „Verständlich sein. Im Grunde die einzige Pflicht, die ich als Schriftsteller habe. Denn sie bedeutet den entscheidenden Schritt in die angewandte Humanität“.
Schnurres Herz gehörte immer den Außenseitern. Im Literaturbetrieb der Bundesrepublik wurde er mehr und mehr selber einer. Marcel Reich-Ranicki betitelte einen Aufsatz über ihn „Der militante Kauz Wolfdietrich Schnurre“ – 1961 trat er aus dem deutschen PEN aus, weil die Schriftstellervereinigung nicht zum Mauerbau Stellung nehmen wollte. Persönliche Schicksalsschläge taten ein Übriges: 1964 erkrankte er an Polyneuritis, lag anderthalb Jahre im Krankenhaus, und fortan quälte er sich an Stöcken durchs Leben. Ein Jahr später nahm sich seine zweite Ehefrau Eva das Leben. Seine dritte Frau Marina schließlich musste gegen den Brustkrebs kämpfen – ein Kampf, den sie gewann, der ihn aber sehr belastete.
Der Tod sei sein Thema Nummer eins, äußerte Schnurre einmal, und wer dem Menschen wie dem Literaten begegnen will, der sollte zum „Schattenfotografen“ greifen. Ein neuer Schnurre stellt sich hier 1978 den Lesern vor: nicht mehr der Kurzgeschichtenschreiber, sondern der „Splitterchronist“, der „Mosaikbiograph“. Das Buch ist eine Mischung aus autobiographischen Erinnerungspartikeln und Tagebuchnotizen, aus Aphorismen, Reflexionen und kleinen Geschichten. Schnurre setzt sich mit seinen Hausgöttern Bloch, Kafka und Benjamin auseinander. Bezieht sich auf den Talmud. Erinnert an das Schicksal der Zigeuner unter den Nazis. Die Grausamkeiten des Krieges kommen zur Sprache.
Es wird über Krankheit, Zeit, Vergänglichkeit nachgedacht. „Es gibt nur ein Thema: Die Endlichkeit. Und: Was sich abspielt vor ihr“, heißt es an einer Stelle. An einer anderen, auf den Buchtitel Bezug nehmend: „Dunkel davor, Dunkel danach. Umgekehrt also: Der Schatten wirft uns; als Geburtsakt verstanden.“ Jetzt ist Schnurre für kurze Zeit wieder im literarischen Gespräch, es gipfelt 1983 in der Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis.
Schnurre hat ungemein viel geschrieben, er war auch Filmkritiker (ein neuer Band in der edition text + kritik dokumentiert dies nun), Rundfunk- und Drehbuchautor. Auch heitere Geschichten flossen aus seiner Feder, was manche Zeitgenossen irritierte. Die vom Autor selbst wunderbar illustrierten Geschichten, die man nun in „Ein Leben. Eine Bildergeschichte mit Aufgaben“ oder in dem Band „Es ist wie mit dem Glück“ über Müßiggänger, Bucklige, Ehepaare, lesen kann, legen davon Zeugnis ab. Auf den ersten Blick.
Auf den zweiten fällt auf, dass die 19 Erzählungen, ursprünglich 1964 erschienen, auch wieder nur von Randfiguren der Gesellschaft bevölkert sind. Oder von Tieren, etwa einer Eintagsfliege, die Tagebuch führt. An Witz und Bosheit ist das nicht zu überbieten. Gerade drei Stunden auf der Welt, donnert sie gegen die Absurdität des Lebens: „Oh, diese Farce von einem Dasein . . . der Weltgeist berauscht sich an der Machtlosigkeit seiner Geschöpfe; er erschafft uns, um uns scheitern zu sehen.“
FLORIAN WELLE
WOLFDIETRICH SCHNURRE: Funke im Reisig. Erzählungen 1945 bis 1965. Berlin Verlag, Berlin 2010. 410 Seiten, 26 Euro.
WOLFDIETRICH SCHNURRE: Es istwie mit dem Glück. Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2010. 242 S., 10,95 Euro.
WOLFDIETRICH SCHNURRE: Der Schattenfotograf. Berlin Verlag, Berlin 2010. 532 S., 28,80 Euro.
WOLFDIETRICH SCHNURRE: Ein Leben. Eine Bildergeschichte mit Aufgaben. Berlin Verlag, Berlin 2010. 58 Seiten, 15 Euro.
ROLF AURICH, WOLFGANG JACOBSEN (Hrsg.): Wolfdietrich Schnurre. Kritiker. Mit Aufsätzen und Kritiken von Wolfdietrich Schnurre. Essay von Jörg Becker. edition text + kritik. München 2010. 322 S., 22 Euro.
„Die Kiste rumpelt zur Erde.
H. GOTT ist drangeschrieben
mit Kreide. Drunter n Datum“
Obwohl er der allererste Autor war, der auf der Gründungsveranstaltung der Gruppe 47 las, hat Wolfdietrich Schnurre keinen Platz mehr in unserem literarischen Gedächtnis. Er, der Exponent der „Kahlschlag“-Literatur, war zeitlebens ein Außenseiter und zog sich in seinen letzten Jahren von Berlin aufs Land zurück. Als er 1989 starb, kannte man ihn nicht mehr als Meister der Kurzprosa, sondern nur noch als SchulbuchKlassiker und kauzige Figur.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Hingerissen zeigt sich Rezensent Rolf-Bernhard Essig von Wolfdietrich Schnurres Roman "Der Schattenfotograf". Das Werk ist in seinen Augen das "beste Buch" des 1989 gestorbenen Autors, der dieses Jahr 90 Jahre alt geworden wäre. Es offenbart für ihn eine Seiten an Schnurre, die angesichts der klaren Handlung und Dialogführung in den Erzählungen des Autors oft nicht wirklich wahrgenommen wurden: "gestalterische Finesse" und seine "sprachliche Genauigkeit". Auf den ersten Blick wirkt das Werk auf ihn wie ein wunderbares, buntes Notizbuch, wie ein herrlicher Mix aus Autobiografischem, Reflexion über das Schreiben, Briefen an Kollegen, Ideen für neue Werke, Aphoristischem, Kommentaren zu Ereignissen der 70er Jahre und Naturbeobachtungen. Aber das sollte einen nicht darüber täuschen, dass sich darin ein "bis ins Detail komponiertes Werk" findet, so Essig. Wie Schnurre Motivketten, Figuren, Themen und verschiedene autobiografische Erzählstränge miteinander verwebt, hat ihn sichtlich beeindruckt. Aber auch die spöttische Haltung, die der Autor sich selbst gegenüber einnimmt, weiß er zu schätzen. Und nicht zuletzt sieht er in dem Buch ein Werk, das immer wieder "unaufdringlich" zum Selberdenken einlädt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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