Wie wird aus einer Ansammlung von Individuen ein politisch bewusstes (Staats-)Volk? Dieser Frage spürt Balibar in der politischen Ideengeschichte nach.
In dieser Sammlung von Aufsätzen reflektiert der politische Philosoph Étienne Balibar über die »Masse«, über Integration und Isolation, Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein. Dabei ergründet der renommierte französische Denker besonders das konfliktträchtige Verhältnis zwischen Masse und Staat. Denn obwohl ohne Masse kein Staat zu machen ist, stellt die Masse unter Umständen die größte Bedrohung für den Staat dar während sich die Masse mitunter vom Staat bedroht fühlt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In dieser Sammlung von Aufsätzen reflektiert der politische Philosoph Étienne Balibar über die »Masse«, über Integration und Isolation, Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein. Dabei ergründet der renommierte französische Denker besonders das konfliktträchtige Verhältnis zwischen Masse und Staat. Denn obwohl ohne Masse kein Staat zu machen ist, stellt die Masse unter Umständen die größte Bedrohung für den Staat dar während sich die Masse mitunter vom Staat bedroht fühlt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2007Wo einer versucht, uns ein X für ein U vorzumachen, ist die Grenze erreicht
Keine Gesellschaft kann mit Sicherheit behaupten, dass sie der Zivilisation und nicht der Barbarei dient: Étienne Balibars Aufsätze über Pöbelei unterm Bürgerhut
Die Themen Gewalt und Zivilitätssinn treten in diesem Buch so sporadisch auf wie der Begriff der Massen, den die französische Originalausgabe, "La crainte des masses", 1997 im Titel trug. Doch Sammelbände haben das oft so an sich. Wer keine thematisch durchgearbeitete Studie sucht, sondern Überlegungen zu Einzelaspekten der politischen Philosophie, wird dem Buch manche Anregung abgewinnen. Mit den bis aufs Jahr 1983 zurückgehenden Beiträgen bietet es gleichzeitig Stationen aus dem Denken eines Philosophen, der als Mitarbeiter Louis Althussers in den sechziger Jahren begann, Marx und "Das Kapital" textkritisch gegen die soziologische Tradition zu lesen. Der - gegenüber dem Original leicht gekürzte - Mittelteil des vorliegenden Bandes geht diesen Weg weiter mit dem Versuch einer kritischen Analyse des Ideologiebegriffs bei Marx und Engels.
Weit über solche marxistische Testamentswartung hinaus und mitunter direkt an den Nerv unserer Gegenwart reichen die übrigen Texte. Ob der "Rassismus" ein "Universalismus" sei, was es überhaupt mit dem uns so leicht über die Lippen kommenden Wort der Universalität - von Werten oder Situationen - auf sich habe, wie unmittelbar Gewalt und Idealität einander bedingen oder wie heute Europa und seine Grenzen verstanden werden können: Das sind Fragen von offensichtlicher Aktualität. Zu den Vorzügen dieser Untersuchungen gehört, dass sie an der in diesem Zusammenhang sonst üblichen Aktualitätspublizistik vorbei den Rückgriff auf philosophische Quellentexte nicht scheuen.
Bei der Frage etwa, wie ein Volk denn zum Volk werde, drängt sich der Bezug auf Rousseaus "Gesellschaftsvertrag", wo sie wörtlich so gestellt wird, geradezu auf. Und die Art, wie Balibar deren Entwicklung von Rousseau zu Kant nachzeichnet, ist magistral, wenn auch leicht tendenziös. Da Rousseaus Begriff vom Volk - weder ein Nebeneinander von Individualitäten noch deren mystische Verschmelzung, sondern ein kollektiver Willensakt der Freiheit - das Prinzip des Allgemeinwillens nicht mit dem "Willen aller" zur Deckung bringen kann und überdies in der Französischen Revolution bald vom Begriff der "Nation" überlappt wurde, schillert er noch heute zwischen den beiden Polen von "Konstitution" und "Insurrektion".
Der gewaltsame Übertritt
Das "Volk" war den Staatstheoretikern stets unheimlich, und Rousseau stellt für diese Ambivalenz, so Balibar, eine Art theoretischen Stöpsel dar, hinter den keine Theorie des Staats als Korporation oder als bürgerliche Gesellschaft mehr zurück kann. Dass das rousseauistische Ideal-Volk als "gemeinsames Ich" bei Kant dann realistischer dargestellt wird als ein Naturzustand, der sich zum Rechtszustand wandeln muss, führt den Autor Balibar auf einen langen Exkurs über den Zusammenhang von Recht und Moralität mit der interessanten Zielfrage: Was veranlasste den Vernunftphilosophen Kant dazu, den Weg von der natürlich "ungeselligen Geselligkeit" der Menschen zur organisierten Gesellschaft vorromantisch mit der Analogie einer organischen Einheit zu beschreiben?
Das Aufklärungserbe reicht weiter, so könnte man Balibars Grundanliegen zusammenfassen, als gemeinhin angenommen wird. Es transportiert Inhalte, die auch ohne den Sturz ins Abenteuer des nationalen Irrationalismus zu uns hätten gelangen können. Man mag dieser Auslegung mit Skepsis folgen und ist doch angetan von der Brillanz der Ausführung. Dasselbe gilt vom originellen Kapitel über Spinoza als Theoretiker der Masse und philosophischer Anti-Orwell.
Dieser philosophiegeschichtliche Hintergrund macht sich besonders bezahlt, wo die Ausführungen zeitgenössische Fragen betreffen. Kein Text dieser Sammlung ist seit seinem Erscheinen überholt. Die Abgrenzungen von Masse, Volk, Bürger, Pöbel sowie die Beleuchtung der sozialen Gestalten der "Illegalen" und Migranten bieten nützliche Anregung zu den aktuellen Debatten. Kann Europa überhaupt noch vom Gesichtspunkt der Grenzziehung aus definiert werden? So etwa fragt der Autor, teilweise im Echo auf den im selben Verlag von ihm schon erschienenen Band "Sind wir Bürger Europas?".
Wenn im Kontext der Globalisierung die Grenzen verschwimmen, bedeutet das nicht, dass sie auch verschwinden, schreibt Balibar: im Gegenteil. Sie werden in ihrem Verlauf und in ihrer Funktion vervielfacht, verstärkt, differenziert - nur sind sie nicht mehr Trennlinie am äußersten Rand eines politischen Einflussgebiets, sondern sie werden selber zu Dingen im Raum des Politischen: geopolitisch determiniert, ja überdeterminiert durch einen zugleich theoretischen und praktischen Akt, der das Jenseitige stets mitdenkt, die ganze Welt hierarchisch in Sphären konfiguriert und das Grenzbewohnerdasein in die Kategorien "übertrittsberechtigt" und "zum Übertritt nicht befugt" scheidet.
Der zerstörerische Moment
Man könne Staatsbürger sein oder staatenlos, doch man könne sich kaum vorstellen, eine Grenze zu "sein" - schrieb der Psychoanalytiker André Green. Doch, antwortet Étienne Balibar, gerade das sei heute die reale Situation vieler Individuen und Gruppen, für manche aus freien Stücken, für die anderen als Fluch, gelegentlich mit dem damit einhergehenden Gewaltpotential.
Der "andere Schauplatz", der im Zusammentreffen der Formen extremer Gewalt zum Vorschein komme, sei "seinem Wesen nach weder im ideologischen Imaginären noch im Ökonomischen und in dessen sozialen Konsequenzen zu suchen", schreibt der Autor in einem für diese Ausgabe verfassten Vorwort. Möge er auch auf der Realität geographischer Sphären, Territorien, Grenzen, Wanderbewegungen beruhen, sei dieser Schauplatz überhaupt weniger ein konkreter oder theoretischer Ort als "ein bestimmter Moment", in dem sich zeige, dass die Politik selbst, jede Politik, eine Möglichkeit der Destruktion und Selbstdestruktion in sich trage.
Balibar zieht daraus den Schluss, dass keine Gesellschaft je mit Sicherheit von sich behaupten könne, der Zivilisation zu dienen und nicht der Barbarei. Darin liegt für ihn auch die "eigentlich tragische Dimension von Geschichte und Politik". Ob es nötig war, für diese Einsicht den auf Freud zurückgehenden komplexen Begriff des "anderen Schauplatzes" - in seiner Umkehrform - bis in den Buchtitel hinein zu bemühen, bleibe dahingestellt. Der Inhalt der Ausführungen ist jedenfalls solide und die Übersetzung von Thomas Laugstien an Sorgfalt, Aufmerksamkeit in den Anmerkungen und Spracheleganz im Text geradezu exemplarisch.
JOSEPH HANIMANN
Étienne Balibar: "Der Schauplatz des Anderen". Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Laugstien. Hamburger Edition, Hamburg, 2006. 324 S., geb., 35, - [Euro].
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Keine Gesellschaft kann mit Sicherheit behaupten, dass sie der Zivilisation und nicht der Barbarei dient: Étienne Balibars Aufsätze über Pöbelei unterm Bürgerhut
Die Themen Gewalt und Zivilitätssinn treten in diesem Buch so sporadisch auf wie der Begriff der Massen, den die französische Originalausgabe, "La crainte des masses", 1997 im Titel trug. Doch Sammelbände haben das oft so an sich. Wer keine thematisch durchgearbeitete Studie sucht, sondern Überlegungen zu Einzelaspekten der politischen Philosophie, wird dem Buch manche Anregung abgewinnen. Mit den bis aufs Jahr 1983 zurückgehenden Beiträgen bietet es gleichzeitig Stationen aus dem Denken eines Philosophen, der als Mitarbeiter Louis Althussers in den sechziger Jahren begann, Marx und "Das Kapital" textkritisch gegen die soziologische Tradition zu lesen. Der - gegenüber dem Original leicht gekürzte - Mittelteil des vorliegenden Bandes geht diesen Weg weiter mit dem Versuch einer kritischen Analyse des Ideologiebegriffs bei Marx und Engels.
Weit über solche marxistische Testamentswartung hinaus und mitunter direkt an den Nerv unserer Gegenwart reichen die übrigen Texte. Ob der "Rassismus" ein "Universalismus" sei, was es überhaupt mit dem uns so leicht über die Lippen kommenden Wort der Universalität - von Werten oder Situationen - auf sich habe, wie unmittelbar Gewalt und Idealität einander bedingen oder wie heute Europa und seine Grenzen verstanden werden können: Das sind Fragen von offensichtlicher Aktualität. Zu den Vorzügen dieser Untersuchungen gehört, dass sie an der in diesem Zusammenhang sonst üblichen Aktualitätspublizistik vorbei den Rückgriff auf philosophische Quellentexte nicht scheuen.
Bei der Frage etwa, wie ein Volk denn zum Volk werde, drängt sich der Bezug auf Rousseaus "Gesellschaftsvertrag", wo sie wörtlich so gestellt wird, geradezu auf. Und die Art, wie Balibar deren Entwicklung von Rousseau zu Kant nachzeichnet, ist magistral, wenn auch leicht tendenziös. Da Rousseaus Begriff vom Volk - weder ein Nebeneinander von Individualitäten noch deren mystische Verschmelzung, sondern ein kollektiver Willensakt der Freiheit - das Prinzip des Allgemeinwillens nicht mit dem "Willen aller" zur Deckung bringen kann und überdies in der Französischen Revolution bald vom Begriff der "Nation" überlappt wurde, schillert er noch heute zwischen den beiden Polen von "Konstitution" und "Insurrektion".
Der gewaltsame Übertritt
Das "Volk" war den Staatstheoretikern stets unheimlich, und Rousseau stellt für diese Ambivalenz, so Balibar, eine Art theoretischen Stöpsel dar, hinter den keine Theorie des Staats als Korporation oder als bürgerliche Gesellschaft mehr zurück kann. Dass das rousseauistische Ideal-Volk als "gemeinsames Ich" bei Kant dann realistischer dargestellt wird als ein Naturzustand, der sich zum Rechtszustand wandeln muss, führt den Autor Balibar auf einen langen Exkurs über den Zusammenhang von Recht und Moralität mit der interessanten Zielfrage: Was veranlasste den Vernunftphilosophen Kant dazu, den Weg von der natürlich "ungeselligen Geselligkeit" der Menschen zur organisierten Gesellschaft vorromantisch mit der Analogie einer organischen Einheit zu beschreiben?
Das Aufklärungserbe reicht weiter, so könnte man Balibars Grundanliegen zusammenfassen, als gemeinhin angenommen wird. Es transportiert Inhalte, die auch ohne den Sturz ins Abenteuer des nationalen Irrationalismus zu uns hätten gelangen können. Man mag dieser Auslegung mit Skepsis folgen und ist doch angetan von der Brillanz der Ausführung. Dasselbe gilt vom originellen Kapitel über Spinoza als Theoretiker der Masse und philosophischer Anti-Orwell.
Dieser philosophiegeschichtliche Hintergrund macht sich besonders bezahlt, wo die Ausführungen zeitgenössische Fragen betreffen. Kein Text dieser Sammlung ist seit seinem Erscheinen überholt. Die Abgrenzungen von Masse, Volk, Bürger, Pöbel sowie die Beleuchtung der sozialen Gestalten der "Illegalen" und Migranten bieten nützliche Anregung zu den aktuellen Debatten. Kann Europa überhaupt noch vom Gesichtspunkt der Grenzziehung aus definiert werden? So etwa fragt der Autor, teilweise im Echo auf den im selben Verlag von ihm schon erschienenen Band "Sind wir Bürger Europas?".
Wenn im Kontext der Globalisierung die Grenzen verschwimmen, bedeutet das nicht, dass sie auch verschwinden, schreibt Balibar: im Gegenteil. Sie werden in ihrem Verlauf und in ihrer Funktion vervielfacht, verstärkt, differenziert - nur sind sie nicht mehr Trennlinie am äußersten Rand eines politischen Einflussgebiets, sondern sie werden selber zu Dingen im Raum des Politischen: geopolitisch determiniert, ja überdeterminiert durch einen zugleich theoretischen und praktischen Akt, der das Jenseitige stets mitdenkt, die ganze Welt hierarchisch in Sphären konfiguriert und das Grenzbewohnerdasein in die Kategorien "übertrittsberechtigt" und "zum Übertritt nicht befugt" scheidet.
Der zerstörerische Moment
Man könne Staatsbürger sein oder staatenlos, doch man könne sich kaum vorstellen, eine Grenze zu "sein" - schrieb der Psychoanalytiker André Green. Doch, antwortet Étienne Balibar, gerade das sei heute die reale Situation vieler Individuen und Gruppen, für manche aus freien Stücken, für die anderen als Fluch, gelegentlich mit dem damit einhergehenden Gewaltpotential.
Der "andere Schauplatz", der im Zusammentreffen der Formen extremer Gewalt zum Vorschein komme, sei "seinem Wesen nach weder im ideologischen Imaginären noch im Ökonomischen und in dessen sozialen Konsequenzen zu suchen", schreibt der Autor in einem für diese Ausgabe verfassten Vorwort. Möge er auch auf der Realität geographischer Sphären, Territorien, Grenzen, Wanderbewegungen beruhen, sei dieser Schauplatz überhaupt weniger ein konkreter oder theoretischer Ort als "ein bestimmter Moment", in dem sich zeige, dass die Politik selbst, jede Politik, eine Möglichkeit der Destruktion und Selbstdestruktion in sich trage.
Balibar zieht daraus den Schluss, dass keine Gesellschaft je mit Sicherheit von sich behaupten könne, der Zivilisation zu dienen und nicht der Barbarei. Darin liegt für ihn auch die "eigentlich tragische Dimension von Geschichte und Politik". Ob es nötig war, für diese Einsicht den auf Freud zurückgehenden komplexen Begriff des "anderen Schauplatzes" - in seiner Umkehrform - bis in den Buchtitel hinein zu bemühen, bleibe dahingestellt. Der Inhalt der Ausführungen ist jedenfalls solide und die Übersetzung von Thomas Laugstien an Sorgfalt, Aufmerksamkeit in den Anmerkungen und Spracheleganz im Text geradezu exemplarisch.
JOSEPH HANIMANN
Étienne Balibar: "Der Schauplatz des Anderen". Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Laugstien. Hamburger Edition, Hamburg, 2006. 324 S., geb., 35, - [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass die in diesem Band versammelten Texte des Philosophen Etienne Balibar mitunter bald ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel haben, stört Joseph Hanimann nicht. Wer sich für politische Philosophie interessiert, erklärt er, kann das Buch noch immer mit Gewinn lesen. Die Texte hält er für solide und weiterhin aktuell, ihren philosophiegeschichtlichen Hintergrund dabei für einen echten Vorzug gegenüber üblicher "Aktualitätspublizistik". So bei der Erörterung des Volksbegriffes mittels Rückgriff auf Rousseaus "Gesellschaftsvertrag". Balibars "Grundanliegen", die enorme Reichweite der Aufklärung zu erweisen, folgt der Rezensent skeptisch, jedoch nicht ohne Achtung vor der "Brillanz der Ausführung". Die von Hanimann ausdrücklich gelobte Arbeit des Übersetzers trägt dazu bei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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