Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich!
Am 2. Juli 1816 zerbrach die auf Grund gelaufene Fregatte Medusa vor der Küste Afrikas. Da nicht genügend Rettungsboote an Bord waren, wurde ein Floß gezimmert, auf dem nicht weniger als 150 Personen untergebracht wurden. Ohne Skrupel entfernten sich die Rettungsboote und ließen das weitgehend manövrierunfähige Gefährt zurück. Als das Floß durch Zufall nach zwölf Tagen entdeckt wurde, befanden sich nur noch fünfzehn Personen am Leben.
Der vorliegende Romanbericht zweier Überlebender beschreibt eindrucksvoll den Kampf auf hoher See sowohl gegen den Hunger als auch gegen die Leidensgenossen. Berühmt wurde der Text nicht nur durch die erstaunlich nüchterne Schilderung von Meuterei und Kannibalismus, sondern auch durch die politische Bedeutung, da nicht wenige Zeitgenossen in diesem Schiffbruch ein Bild des Staatsschiffs sahen. Die Medusa wurde sofort als allégorie réelle auf die Zustände im nach-revolutionären Frankreich bezogen.
Der Bericht lieferte aber auch den Impuls für eine der imposantesten Bildfindungen der Moderne. Gaben die beiden Autoren den politischen Misständen durch ihre Beschreibung des Schiffbruchs eine Stimme, so gab der junge Théodore Géricault ihm mit seinem gleichnamigen Monumentalgemälde ein Gesicht.
In seinem Essay geht Jörg Trempler auf die Beziehung zwischen Textquelle und Bildgestalt ein. Er kommt über die Rezeptionsgeschichte des Gemäldes auf aktuelle Fragen zur Bildpolitik zu sprechen und zieht eine Parallele zur heutigen Livebildberichterstattung.
Am 2. Juli 1816 zerbrach die auf Grund gelaufene Fregatte Medusa vor der Küste Afrikas. Da nicht genügend Rettungsboote an Bord waren, wurde ein Floß gezimmert, auf dem nicht weniger als 150 Personen untergebracht wurden. Ohne Skrupel entfernten sich die Rettungsboote und ließen das weitgehend manövrierunfähige Gefährt zurück. Als das Floß durch Zufall nach zwölf Tagen entdeckt wurde, befanden sich nur noch fünfzehn Personen am Leben.
Der vorliegende Romanbericht zweier Überlebender beschreibt eindrucksvoll den Kampf auf hoher See sowohl gegen den Hunger als auch gegen die Leidensgenossen. Berühmt wurde der Text nicht nur durch die erstaunlich nüchterne Schilderung von Meuterei und Kannibalismus, sondern auch durch die politische Bedeutung, da nicht wenige Zeitgenossen in diesem Schiffbruch ein Bild des Staatsschiffs sahen. Die Medusa wurde sofort als allégorie réelle auf die Zustände im nach-revolutionären Frankreich bezogen.
Der Bericht lieferte aber auch den Impuls für eine der imposantesten Bildfindungen der Moderne. Gaben die beiden Autoren den politischen Misständen durch ihre Beschreibung des Schiffbruchs eine Stimme, so gab der junge Théodore Géricault ihm mit seinem gleichnamigen Monumentalgemälde ein Gesicht.
In seinem Essay geht Jörg Trempler auf die Beziehung zwischen Textquelle und Bildgestalt ein. Er kommt über die Rezeptionsgeschichte des Gemäldes auf aktuelle Fragen zur Bildpolitik zu sprechen und zieht eine Parallele zur heutigen Livebildberichterstattung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Weiht ihrem Schicksal einige Tränen
Schiffbruch mit Berichterstatter: So sank die Fregatte Medusa / Von Freddy Langer
Wagen wir eine verwegene These: Ohne den Erfolg des Everest-Dramas "In eisige Höhen" von Jon Krakauer und die Leidenschaft, mit der erst in jüngster Zeit Buchautoren die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts spektakulär gescheiterten Antarktis-Expeditionen von Ernest Shackleton aus stets neuen Perspektiven nacherzählt und analysiert haben, hätte das Buch "Der Schiffbruch der Fregatte Medusa" aus dem Jahr 1818 diese erste Neuauflage nicht erfahren. Es ist ein Bericht, der sich auf schaurige Weise einfügt in jene dramatischen Schilderungen von der Hybris des Menschen und demütigen, gleichwohl strategischen Rückzügen angesichts der Katastrophe. Doch es wurde aus anderen Gründen höchste Zeit für die Wiederveröffentlichung.
Daß bereits der Erstausgabe in Frankreich vor fast zweihundert Jahren ein sensationeller Erfolg beschieden war, zeugt von mehr als einem wachen Interesse der Leser am Überlebenskampf gegen die Naturgewalten und dem Wert der Schiffsreise als Metapher für das Leben. Vielmehr scheinen Epochen des Umbruchs ihre eigenen politischen Unsicherheiten immer konzentriert auf einem winzigen Punkt widergespiegelt sehen zu wollen - in jenem Fall taugte dazu ein zwanzig mal sieben Meter großes, keineswegs hochseetaugliches Floß, auf dem anfangs etwa hundertfünfzig Schiffbrüchige der vor der westafrikanischen Küste auf Grund gelaufenen Fregatte "Medusa" kauerten. Die zwölf Tage dauernde Irrfahrt über das Meer überlebten fünfzehn von ihnen - darunter der Wundarzt Jean-Baptiste Henri Savigny und der Geograph Alexandre Corréard, die beiden Verfasser des Berichts, der damals als ein Sinnbild für die verfahrene politische Situation während der zweiten Restauration unter König Ludwig XVIII. gelesen wurde. Denn nicht zuletzt die Auseinandersetzung an Bord zwischen einstigen Anhängern Napoleons in der Mannschaft und den Royalisten hatte zu dem Unglück, nein: Elend muß man sagen, geführt. Zugleich ist der Bericht ein überzeitliches Zeugnis dafür, wie zart jener Firnies der humanistischen Ideale ist, der das barbarische Wesen des Menschen übertüncht.
Die Fahrt mit dem Floß war eine mörderische Reise. Doch schon vor dem finalen Unglück der "Medusa" begleiteten schlechte Vorzeichen das Unternehmen. Ursprünglich war ein Geschwader aus vier Schiffen unterwegs gewesen, das den neuen französischen Gouverneur des Senegals, Julien-Désiré Schmaltz, und dessen Familie von der Atlantik-Insel Aix aus nach Afrika bringen sollte. Wegen Problemen mit dem Wind verloren die Fahrzeuge einander am fünften Tag in der Gegend von Kap Finisterre. Wenig später ging ein Schiffsjunge der "Medusa" über Bord und ward nicht mehr gesehen. Wegen der Nachlässigkeit des Bäckers brach auf dem Zwischendeck ein Feuer aus. Weil man einige Wolken für den Umriß von Kap Blanc gehalten hatte, stimmte die Positionsbestimmung nicht mehr. Und weil der Kapitän Hugues Duroy Vicomte de Chaumareys sich "mit sorgloser Gutmütigkeit" bei den Possen der Wendekreisfeiern vergnügte und die Mahnungen seiner Offiziere in den Wind schlug, lief das Schiff am 17. Juli 1816 auf die Arguin Sandbank auf, von der es nicht befreit werden konnte.
Es hat einen einfach Grund, weshalb Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard auch diese Begebenheiten schildern: Sie haben keinen bloßen Reisebericht verfaßt; ihr Ziel ist die Demontage des Kapitäns, von dem sie sagen, er habe über keinerlei Qualifikation als seine Königstreue verfügt und zu keiner Zeit überzeugend das Kommando geführt, dafür nach dem Unglück das Schiff viel zu früh verlassen. Dann sei er mit einem der Rettungsboot davongesegelt und habe den Großteil seiner Mannschaft im Chaos zurückgelassen. Das Seil, mit dem man das Floß hinter einer Kette von Beibooten herzuziehen versprach, wurde gekappt.
Die Situation war hanebüchend. Noch aber wollten Savigny und Corréard den Glauben an die Menschlichkeit nicht preisgeben. "Es ist uns peinlich", schreiben sie, "solche Ereignisse zu erzählen und zu zeigen, wie das Gemüt des Menschen beim Anblick der Gefahr so sehr angegriffen werden kann, daß er selbst die Pflichten der Ehre aus den Augen verliert."
Auf dem Rettungsfloß herrschte währenddessen die pure Anarchie. Wegen mangelhafter Vorbereitungen fehlten Auftriebstonnen, so daß die Konstruktion siebzig Zentimeter unter der Meeresoberfläche lag, als erst fünfzig Männer auf das Floß gesprungen waren. Um Platz für weitere hundert zu schaffen, wurden nahezu sämtliche Lebensmittel ins Meer geworfen. Nur einige Weinfässer behielt man. Dennoch war an sitzen oder gar liegen nicht zu denken. Am Ende stand den Männern das Wasser bis zum Bauch. Jeder klammerte sich an jeden. Daß ein Teil der Mannschaft betrunken war, sorgte bald für die ersten Unfälle. Mehr schlecht als recht wurden Halteleinen verknotet; nach der ersten Nacht fehlten trotzdem zwanzig Personen. Einige der Männer halluzinierten, einer zerhaute mit einer Axt die Seile. Ohne recht zu wissen weshalb, begann mit Einbruch der Dunkelheit eine Gruppe von Unteroffizieren, Soldaten und Passagieren zu meutern. Mit Messern und Säbeln gingen sie auf die Vorgesetzten los. "Diejenigen unter ihnen, die keine Waffen hatten, bissen mit den Zähnen und nicht selten ziemlich derb", heißt es in der Niederschrift. Und: "Grauenvolle Nacht! Du bedeckest mit deinem schwarzen Schleier dieses grausame Gemetzel, das von der schrecklichsten Verzweiflung erzeugt wurde." Diesmal hatten sechzig Mann das Leben verloren. Und es sollte noch schlimmer kommen.
Am dritten Tag wurden die ersten Toten verspeist. Später würde man entscheiden, die Kranken über Bord zu werfen, um die Weinration für jene zu erhöhen, die sich die größeren Chancen ausrechneten, zu überleben. "Die Feder schlüpft uns aus der Hand", behaupten die Autoren, die ansonsten in der dritten Person von sich erzählen, "eine Todeskälte fährt uns durch alle Glieder." Dann richten sie sich unmittelbar an den Leser: "Wehret eurem Abscheu vor Menschen, die nur zu unglücklich sind, beklaget sie vielmehr und weiht ihrem grausamen Schicksal einige Tränen." Aus unschuldigen Opfern waren schuldige Täter geworden.
Im Wechsel zwischen trockener Dokumentation und dem Tonfall des Abenteuerromans, zwischen persönlicher Betroffenheit und Rechtfertigungsabsichten wechseln die Autoren bei der Schilderung des Martyriums auf hoher See. Keine Schauergeschichte von Edgar Allan Poe reicht an das heran, was auf dem Floß, das bald als "elende", bald als "unselige Maschine" bezeichnet wird, geschieht, und bisweilen kommt man nicht umhin, den Verfassern wie den Lesern von damals eine gewisse Lust am Nervenkitzel zu unterstellen. Zugleich muß man darüber staunen, wie der Zufall immer wieder geradezu mythenträchtig eingriff - mit den Fässern voller Wein in der endlosen Wüste des Meers etwa oder wenn überraschend ein gewaltiger Schwarm Fliegender Fische auf das Floß niederprasselt. Kein Wunder, daß diese Schilderung Weltliteratur werden konnte.
Berühmter freilich sollte das fünf auf sieben Meter große Monumentalgemälde "Das Floß der Medusa" werden, zu dem der Bericht den damals sechsundzwanzig Jahre alten Maler Théodore Géricault fast augenblicklich inspiriert hat. Mit ergreifendem Pathos stellte er jenen Moment dar, da einige der Schiffbrüchigen am Horizont als winzigen Punkt ein rettendes Segelschiff auszumachen glauben, während sich die anderen längst apathisch und erschöpft bis an die Grenze der Bewußtlosigkeit der vermeintlichen Ausweglosigkeit ihrer Situation hingegeben haben. Auch in der Literatur wurde das Thema immer wieder aufgenommen, etwa in Julian Barnes halbfiktionaler "Geschichte der Welt in zehneinhalb Kapiteln" oder von Peter Weiss in seiner "Ästhetik des Widerstands".
Zwei Aufsätze sind in dem neuen Buch dem Text von Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard nachgestellt, im Umfang insgesamt kaum kürzer als deren Schilderung. Sie setzen Maßstäbe für die Ergänzung historischer Berichte. Der Kunsthistoriker Jörg Trempler geht der Rolle der Katastrophe innerhalb der europäischen Kulturgeschichte nach, erzählt mit detektivischer Genauigkeit die Entstehung des Gemäldes von Théodore Géricault und analysiert insbesondere dessen Bedeutung an der Schnittstelle von Genremotiv und Historiengemälde. Dabei entwickelt er über den Umweg der Nachrichtenfotografie eine einleuchtende, aber nicht sonderlich originelle These des "Bildwollens". Spannend wird seine Darstellung dort, wo er aus Siegfried Kracauers "Theorie des Films" jene Stelle zitiert, in der Kracauer ausgerechnet mit dem Mythos der Medusa die Kinoleinwand als Athenas blanken Schild interpretiert - als Möglichkeit, das Grauen ungestraft zu blicken.
Umfassend widmet sich Johannes Zeiliger in seinem Essay dem historischen Zusammenhang des Unglücks. Seine Ausführungen reichen von der Problematik des Seekriegs und der Bedeutung der damals modernsten französischen Fregatte, eben der "Méduse", über biographische Abrisse der wichtigsten Beteiligten und deren wechseltseitige Vorbehalte den anderen gegenüber bis zu einer sehr detaillierten Abhandlung über die "Menschenfresserei". Zeilinger folgt auch dem Leben der beiden Autoren nach der Rettung, Savignys erstem vertraulichen Protokoll für das Seefahrtministerium, das auf Umwegen bei einer Zeitung landet, und dem auch finanziell phänomenalen Erfolg des folgenden Buchs, der Corréard zur Gründung einer Buchhandlung samt Verlag verhalf - zugleich Treffpunkt der politischen Opposition. Savigny nutzte seine medizinischen Beobachtungen auf dem Floß für eine Dissertation.
Der Kapitän der Fregatte, Monsieur de Chaumarey, wurde am 3. März 1817 von einem Kriegsgericht zu drei Jahren Festunghaft verurteilt.
Jean-Baptiste Henri Savigny, Alexandre Corréard: "Der Schiffbruch der Fregatte Medusa". Mit einem Vorwort von Michel Tournier sowie Texten von Johannes Zeilinger und Jörg Trempler. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2005. 256 S., Abb., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schiffbruch mit Berichterstatter: So sank die Fregatte Medusa / Von Freddy Langer
Wagen wir eine verwegene These: Ohne den Erfolg des Everest-Dramas "In eisige Höhen" von Jon Krakauer und die Leidenschaft, mit der erst in jüngster Zeit Buchautoren die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts spektakulär gescheiterten Antarktis-Expeditionen von Ernest Shackleton aus stets neuen Perspektiven nacherzählt und analysiert haben, hätte das Buch "Der Schiffbruch der Fregatte Medusa" aus dem Jahr 1818 diese erste Neuauflage nicht erfahren. Es ist ein Bericht, der sich auf schaurige Weise einfügt in jene dramatischen Schilderungen von der Hybris des Menschen und demütigen, gleichwohl strategischen Rückzügen angesichts der Katastrophe. Doch es wurde aus anderen Gründen höchste Zeit für die Wiederveröffentlichung.
Daß bereits der Erstausgabe in Frankreich vor fast zweihundert Jahren ein sensationeller Erfolg beschieden war, zeugt von mehr als einem wachen Interesse der Leser am Überlebenskampf gegen die Naturgewalten und dem Wert der Schiffsreise als Metapher für das Leben. Vielmehr scheinen Epochen des Umbruchs ihre eigenen politischen Unsicherheiten immer konzentriert auf einem winzigen Punkt widergespiegelt sehen zu wollen - in jenem Fall taugte dazu ein zwanzig mal sieben Meter großes, keineswegs hochseetaugliches Floß, auf dem anfangs etwa hundertfünfzig Schiffbrüchige der vor der westafrikanischen Küste auf Grund gelaufenen Fregatte "Medusa" kauerten. Die zwölf Tage dauernde Irrfahrt über das Meer überlebten fünfzehn von ihnen - darunter der Wundarzt Jean-Baptiste Henri Savigny und der Geograph Alexandre Corréard, die beiden Verfasser des Berichts, der damals als ein Sinnbild für die verfahrene politische Situation während der zweiten Restauration unter König Ludwig XVIII. gelesen wurde. Denn nicht zuletzt die Auseinandersetzung an Bord zwischen einstigen Anhängern Napoleons in der Mannschaft und den Royalisten hatte zu dem Unglück, nein: Elend muß man sagen, geführt. Zugleich ist der Bericht ein überzeitliches Zeugnis dafür, wie zart jener Firnies der humanistischen Ideale ist, der das barbarische Wesen des Menschen übertüncht.
Die Fahrt mit dem Floß war eine mörderische Reise. Doch schon vor dem finalen Unglück der "Medusa" begleiteten schlechte Vorzeichen das Unternehmen. Ursprünglich war ein Geschwader aus vier Schiffen unterwegs gewesen, das den neuen französischen Gouverneur des Senegals, Julien-Désiré Schmaltz, und dessen Familie von der Atlantik-Insel Aix aus nach Afrika bringen sollte. Wegen Problemen mit dem Wind verloren die Fahrzeuge einander am fünften Tag in der Gegend von Kap Finisterre. Wenig später ging ein Schiffsjunge der "Medusa" über Bord und ward nicht mehr gesehen. Wegen der Nachlässigkeit des Bäckers brach auf dem Zwischendeck ein Feuer aus. Weil man einige Wolken für den Umriß von Kap Blanc gehalten hatte, stimmte die Positionsbestimmung nicht mehr. Und weil der Kapitän Hugues Duroy Vicomte de Chaumareys sich "mit sorgloser Gutmütigkeit" bei den Possen der Wendekreisfeiern vergnügte und die Mahnungen seiner Offiziere in den Wind schlug, lief das Schiff am 17. Juli 1816 auf die Arguin Sandbank auf, von der es nicht befreit werden konnte.
Es hat einen einfach Grund, weshalb Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard auch diese Begebenheiten schildern: Sie haben keinen bloßen Reisebericht verfaßt; ihr Ziel ist die Demontage des Kapitäns, von dem sie sagen, er habe über keinerlei Qualifikation als seine Königstreue verfügt und zu keiner Zeit überzeugend das Kommando geführt, dafür nach dem Unglück das Schiff viel zu früh verlassen. Dann sei er mit einem der Rettungsboot davongesegelt und habe den Großteil seiner Mannschaft im Chaos zurückgelassen. Das Seil, mit dem man das Floß hinter einer Kette von Beibooten herzuziehen versprach, wurde gekappt.
Die Situation war hanebüchend. Noch aber wollten Savigny und Corréard den Glauben an die Menschlichkeit nicht preisgeben. "Es ist uns peinlich", schreiben sie, "solche Ereignisse zu erzählen und zu zeigen, wie das Gemüt des Menschen beim Anblick der Gefahr so sehr angegriffen werden kann, daß er selbst die Pflichten der Ehre aus den Augen verliert."
Auf dem Rettungsfloß herrschte währenddessen die pure Anarchie. Wegen mangelhafter Vorbereitungen fehlten Auftriebstonnen, so daß die Konstruktion siebzig Zentimeter unter der Meeresoberfläche lag, als erst fünfzig Männer auf das Floß gesprungen waren. Um Platz für weitere hundert zu schaffen, wurden nahezu sämtliche Lebensmittel ins Meer geworfen. Nur einige Weinfässer behielt man. Dennoch war an sitzen oder gar liegen nicht zu denken. Am Ende stand den Männern das Wasser bis zum Bauch. Jeder klammerte sich an jeden. Daß ein Teil der Mannschaft betrunken war, sorgte bald für die ersten Unfälle. Mehr schlecht als recht wurden Halteleinen verknotet; nach der ersten Nacht fehlten trotzdem zwanzig Personen. Einige der Männer halluzinierten, einer zerhaute mit einer Axt die Seile. Ohne recht zu wissen weshalb, begann mit Einbruch der Dunkelheit eine Gruppe von Unteroffizieren, Soldaten und Passagieren zu meutern. Mit Messern und Säbeln gingen sie auf die Vorgesetzten los. "Diejenigen unter ihnen, die keine Waffen hatten, bissen mit den Zähnen und nicht selten ziemlich derb", heißt es in der Niederschrift. Und: "Grauenvolle Nacht! Du bedeckest mit deinem schwarzen Schleier dieses grausame Gemetzel, das von der schrecklichsten Verzweiflung erzeugt wurde." Diesmal hatten sechzig Mann das Leben verloren. Und es sollte noch schlimmer kommen.
Am dritten Tag wurden die ersten Toten verspeist. Später würde man entscheiden, die Kranken über Bord zu werfen, um die Weinration für jene zu erhöhen, die sich die größeren Chancen ausrechneten, zu überleben. "Die Feder schlüpft uns aus der Hand", behaupten die Autoren, die ansonsten in der dritten Person von sich erzählen, "eine Todeskälte fährt uns durch alle Glieder." Dann richten sie sich unmittelbar an den Leser: "Wehret eurem Abscheu vor Menschen, die nur zu unglücklich sind, beklaget sie vielmehr und weiht ihrem grausamen Schicksal einige Tränen." Aus unschuldigen Opfern waren schuldige Täter geworden.
Im Wechsel zwischen trockener Dokumentation und dem Tonfall des Abenteuerromans, zwischen persönlicher Betroffenheit und Rechtfertigungsabsichten wechseln die Autoren bei der Schilderung des Martyriums auf hoher See. Keine Schauergeschichte von Edgar Allan Poe reicht an das heran, was auf dem Floß, das bald als "elende", bald als "unselige Maschine" bezeichnet wird, geschieht, und bisweilen kommt man nicht umhin, den Verfassern wie den Lesern von damals eine gewisse Lust am Nervenkitzel zu unterstellen. Zugleich muß man darüber staunen, wie der Zufall immer wieder geradezu mythenträchtig eingriff - mit den Fässern voller Wein in der endlosen Wüste des Meers etwa oder wenn überraschend ein gewaltiger Schwarm Fliegender Fische auf das Floß niederprasselt. Kein Wunder, daß diese Schilderung Weltliteratur werden konnte.
Berühmter freilich sollte das fünf auf sieben Meter große Monumentalgemälde "Das Floß der Medusa" werden, zu dem der Bericht den damals sechsundzwanzig Jahre alten Maler Théodore Géricault fast augenblicklich inspiriert hat. Mit ergreifendem Pathos stellte er jenen Moment dar, da einige der Schiffbrüchigen am Horizont als winzigen Punkt ein rettendes Segelschiff auszumachen glauben, während sich die anderen längst apathisch und erschöpft bis an die Grenze der Bewußtlosigkeit der vermeintlichen Ausweglosigkeit ihrer Situation hingegeben haben. Auch in der Literatur wurde das Thema immer wieder aufgenommen, etwa in Julian Barnes halbfiktionaler "Geschichte der Welt in zehneinhalb Kapiteln" oder von Peter Weiss in seiner "Ästhetik des Widerstands".
Zwei Aufsätze sind in dem neuen Buch dem Text von Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard nachgestellt, im Umfang insgesamt kaum kürzer als deren Schilderung. Sie setzen Maßstäbe für die Ergänzung historischer Berichte. Der Kunsthistoriker Jörg Trempler geht der Rolle der Katastrophe innerhalb der europäischen Kulturgeschichte nach, erzählt mit detektivischer Genauigkeit die Entstehung des Gemäldes von Théodore Géricault und analysiert insbesondere dessen Bedeutung an der Schnittstelle von Genremotiv und Historiengemälde. Dabei entwickelt er über den Umweg der Nachrichtenfotografie eine einleuchtende, aber nicht sonderlich originelle These des "Bildwollens". Spannend wird seine Darstellung dort, wo er aus Siegfried Kracauers "Theorie des Films" jene Stelle zitiert, in der Kracauer ausgerechnet mit dem Mythos der Medusa die Kinoleinwand als Athenas blanken Schild interpretiert - als Möglichkeit, das Grauen ungestraft zu blicken.
Umfassend widmet sich Johannes Zeiliger in seinem Essay dem historischen Zusammenhang des Unglücks. Seine Ausführungen reichen von der Problematik des Seekriegs und der Bedeutung der damals modernsten französischen Fregatte, eben der "Méduse", über biographische Abrisse der wichtigsten Beteiligten und deren wechseltseitige Vorbehalte den anderen gegenüber bis zu einer sehr detaillierten Abhandlung über die "Menschenfresserei". Zeilinger folgt auch dem Leben der beiden Autoren nach der Rettung, Savignys erstem vertraulichen Protokoll für das Seefahrtministerium, das auf Umwegen bei einer Zeitung landet, und dem auch finanziell phänomenalen Erfolg des folgenden Buchs, der Corréard zur Gründung einer Buchhandlung samt Verlag verhalf - zugleich Treffpunkt der politischen Opposition. Savigny nutzte seine medizinischen Beobachtungen auf dem Floß für eine Dissertation.
Der Kapitän der Fregatte, Monsieur de Chaumarey, wurde am 3. März 1817 von einem Kriegsgericht zu drei Jahren Festunghaft verurteilt.
Jean-Baptiste Henri Savigny, Alexandre Corréard: "Der Schiffbruch der Fregatte Medusa". Mit einem Vorwort von Michel Tournier sowie Texten von Johannes Zeilinger und Jörg Trempler. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2005. 256 S., Abb., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2005Zähigkeit und Menschenfleisch
Den Bericht vom Schiffbruch der Fregatte Medusa, eine Höllenfahrt durch menschliche Abgründe, liest man heute noch so schaudernd wie bei seiner Veröffentlichung im Jahre 1817
Von Manfred Schwarz
Vielleicht müssen wir nur einen Schiffbruch erleiden, damit die Bestie in uns zu toben beginnt, die wir, mit mehr oder weniger Geschick, im Alltag an der Leine führen. Vielleicht reichen ja Not und Angst, die heiße Sonne Afrikas und die Weite des Atlantiks aus, um aus Menschen Monster, aus Schicksalsgefährten verbissene Feinde zu machen. Vielleicht muss man nur die Küste aus den Blick und die fest vernieteten Schiffsplanken unter seinen Füßen verlieren, um die Konventionen der Moral und Religion wie hinderlichen Ballast über Bord zu werfen. Vielleicht liegt im Zweifelsfall nicht mehr als eine Planke, ein dünnes Stück Holz zwischen Wildnis und Zivilisation.
Das genau sind die elementaren, heiß diskutierten Fragen, die 1817 von einem Buch in Frankreich aufgeworfen wurden. Nicht von einem Philosophen stammte diese folgenreiche, rasch auch ins Deutsche übersetzte Schrift - sie wurde gemeinsam von einem Schiffsarzt und einem Ingenieur verfasst. Und sie war alles andere als eine theoretische Erörterung der conditio humana. Was in dieser Zeit, die ja nicht nur die Schrecken der napoleonischen Kriege, sondern auch den Terror der Französischen Revolution frisch im Gedächtnis hatte, zu solcher Unruhe führte, war der Erlebnisbericht zweier Schiffbrüchiger. Diese beiden hatten nicht nur den Untergang eines Schiffes und die Ängste und Nöte überlebt, wie sie damals zahllose Seefahrer zu schildern wussten. Sie waren die Opfer und Augenzeugen einer weit größeren Katastrophe.
Der Schiffbruch der französischen Fregatte Medusa vor der Küste Senegals am 2. Juli 1816 war mehr als ein schrecklicher Unglücksfall auf hoher See: er war eine Höllenfahrt durch die Abgründe der menschlichen Seele. Deshalb hat damals das Schicksal der Medusa zu einer solchen Flutwelle der Bestürzung in ganz Europa geführt. Deshalb lesen wir noch heute schaudernd diesen Überlebensbericht, von dem sich der französische Romantiker Théodor Géricault zu seinem weltberühmten, monumentalen Gemälde „Das Floß der Medusa” inspirieren ließ, das im Louvre hängt.
Und deshalb ist diese Neuerscheinung, die neben dem Augenzeugenbericht (in der leicht überarbeiteten deutschen Übersetzung von 1818) ein vorzügliches Nachwort zu den historischen Umständen des Schiffbruchs und einen - allerdings nur wenig brauchbaren - Essay über Géricaults Meisterwerk zugänglich macht, unbedingt zu empfehlen. Unter den verzweifelten, verrückten, vollends enthemmten Schiffbrüchigen, die steuerlos auf einem Floß über den Atlantik treiben, wie Géricault sie malte, warten wir alle auf Rettung. Es ist aber letztlich ein Floß, das niemals zurückkehren wird in die (aufgeklärte) Gesellschaft.
Eine Sandbank kurz vor der westafrikanischen Küste reichte aus, um die düstersten Leidenschaften zu entfesseln: die Fregatte Medusa, Stolz der französischen Marine, war aufgelaufen und plötzlich manövrierunfähig. Wie sich, überdies in weit aussichtsloserer Lage, Schiffbrüchige zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißen und gemeinsam um ihr Leben, auch um das Überleben des Menschlichen kämpfen können, hat rund hundert Jahre später Shackletons Antarktis-Expedition bewiesen. Unter den rund vierhundert bunt zusammengewürfelten Menschen an Bord der Medusa, die einen alten kolonialen Stützpunkt Frankreichs im Senegal wieder in Besitz nehmen sollen, brechen dagegen umgehend Tumulte, Gewalt, Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit aus. In den leidlich sicheren Beibooten reicht nicht der Platz für alle - nur für jene, der Kapitän voran, deren Rang oder deren Ellenbogen ihnen diesen Rettungssitz verschafften.
Für hundertfünfzig Menschen, Soldaten vor allem, bleibt ein notdürftig gezimmertes Floß, das von den Booten ins Schlepptau genommen, rasch aber seinem Schicksal überlassen wird: Man kommt so schneller voran. Auf diesem allein über den Atlantik treibenden Floß der Medusa verlieren dann die Schiffbrüchigen schnell und hemmungslos alle Bindungen zur Zivilisation. Mord, Selbstmord und Irrsinn, blutigste Gemetzel und heillose Trunkenheit (man hatte zwar nicht an Lebensmittel gedacht, wohl aber an ein paar Fässer Wein) lassen die Zahl der Rettungssuchenden schon in den ersten Nächten drastisch schrumpfen.
Am vierten Tage dann entdecken die Zähesten, dass Menschenfleisch besser schmeckt, wenn man es trocknen lässt, und dass weniger Bäuche sich leichter füllen lassen. Diejenigen von den Schwächsten, die man nicht zur Nahrung braucht, werden über Bord geworfen oder als Köder für Haie benutzt, auch wenn man ihnen, wie es in dem Bericht schonungslos heißt, am Tag zuvor noch ewige Freundschaft schwor. Nur fünfzehn, halbtot und fast völlig verrückt, sind noch auf dem Floß, als es schließlich von einem Schiff entdeckt wird. Dabei hat diese Fahrt nicht einmal zwei Wochen gedauert.
Doch vielleicht hat Géricault gar nicht den Moment der Rettung gemalt, wie es im „Bild-Essay” des Bandes heißt. Vielleicht hat er gerade den Moment aus dem Erlebnisbericht wiedergegeben, wo für einen kurzen Augenblick der Hoffnung ein fernes, allzu fernes Schiff am Horizont erscheint, um dann aus den Augen der Entsetzten wieder zu entschwinden - den Moment der enttäuschten Hoffnung. Denn aus der wahren Hölle führt kein Weg zurück.
J.-B. Henri Savigny,
Alexandre Corréard
Der Schiffbruch
der Fregatte Medusa
Nach einer anonymen deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1818. Mit einem Vorwort von Michel Tournier, einem Nachwort von Johannes Zeilinger und einem Bildessay zu Théodore Géricaults „Floß der Medusa” von Jörg Trempler. Matthes & Seitz, Berlin 2005. 253 Seiten, 22,80Euro.
Moment der Rettung oder der enttäuschten Hoffnung? Ausschnitt aus Theodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa”.
Abb.: bridgemanart
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Den Bericht vom Schiffbruch der Fregatte Medusa, eine Höllenfahrt durch menschliche Abgründe, liest man heute noch so schaudernd wie bei seiner Veröffentlichung im Jahre 1817
Von Manfred Schwarz
Vielleicht müssen wir nur einen Schiffbruch erleiden, damit die Bestie in uns zu toben beginnt, die wir, mit mehr oder weniger Geschick, im Alltag an der Leine führen. Vielleicht reichen ja Not und Angst, die heiße Sonne Afrikas und die Weite des Atlantiks aus, um aus Menschen Monster, aus Schicksalsgefährten verbissene Feinde zu machen. Vielleicht muss man nur die Küste aus den Blick und die fest vernieteten Schiffsplanken unter seinen Füßen verlieren, um die Konventionen der Moral und Religion wie hinderlichen Ballast über Bord zu werfen. Vielleicht liegt im Zweifelsfall nicht mehr als eine Planke, ein dünnes Stück Holz zwischen Wildnis und Zivilisation.
Das genau sind die elementaren, heiß diskutierten Fragen, die 1817 von einem Buch in Frankreich aufgeworfen wurden. Nicht von einem Philosophen stammte diese folgenreiche, rasch auch ins Deutsche übersetzte Schrift - sie wurde gemeinsam von einem Schiffsarzt und einem Ingenieur verfasst. Und sie war alles andere als eine theoretische Erörterung der conditio humana. Was in dieser Zeit, die ja nicht nur die Schrecken der napoleonischen Kriege, sondern auch den Terror der Französischen Revolution frisch im Gedächtnis hatte, zu solcher Unruhe führte, war der Erlebnisbericht zweier Schiffbrüchiger. Diese beiden hatten nicht nur den Untergang eines Schiffes und die Ängste und Nöte überlebt, wie sie damals zahllose Seefahrer zu schildern wussten. Sie waren die Opfer und Augenzeugen einer weit größeren Katastrophe.
Der Schiffbruch der französischen Fregatte Medusa vor der Küste Senegals am 2. Juli 1816 war mehr als ein schrecklicher Unglücksfall auf hoher See: er war eine Höllenfahrt durch die Abgründe der menschlichen Seele. Deshalb hat damals das Schicksal der Medusa zu einer solchen Flutwelle der Bestürzung in ganz Europa geführt. Deshalb lesen wir noch heute schaudernd diesen Überlebensbericht, von dem sich der französische Romantiker Théodor Géricault zu seinem weltberühmten, monumentalen Gemälde „Das Floß der Medusa” inspirieren ließ, das im Louvre hängt.
Und deshalb ist diese Neuerscheinung, die neben dem Augenzeugenbericht (in der leicht überarbeiteten deutschen Übersetzung von 1818) ein vorzügliches Nachwort zu den historischen Umständen des Schiffbruchs und einen - allerdings nur wenig brauchbaren - Essay über Géricaults Meisterwerk zugänglich macht, unbedingt zu empfehlen. Unter den verzweifelten, verrückten, vollends enthemmten Schiffbrüchigen, die steuerlos auf einem Floß über den Atlantik treiben, wie Géricault sie malte, warten wir alle auf Rettung. Es ist aber letztlich ein Floß, das niemals zurückkehren wird in die (aufgeklärte) Gesellschaft.
Eine Sandbank kurz vor der westafrikanischen Küste reichte aus, um die düstersten Leidenschaften zu entfesseln: die Fregatte Medusa, Stolz der französischen Marine, war aufgelaufen und plötzlich manövrierunfähig. Wie sich, überdies in weit aussichtsloserer Lage, Schiffbrüchige zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißen und gemeinsam um ihr Leben, auch um das Überleben des Menschlichen kämpfen können, hat rund hundert Jahre später Shackletons Antarktis-Expedition bewiesen. Unter den rund vierhundert bunt zusammengewürfelten Menschen an Bord der Medusa, die einen alten kolonialen Stützpunkt Frankreichs im Senegal wieder in Besitz nehmen sollen, brechen dagegen umgehend Tumulte, Gewalt, Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit aus. In den leidlich sicheren Beibooten reicht nicht der Platz für alle - nur für jene, der Kapitän voran, deren Rang oder deren Ellenbogen ihnen diesen Rettungssitz verschafften.
Für hundertfünfzig Menschen, Soldaten vor allem, bleibt ein notdürftig gezimmertes Floß, das von den Booten ins Schlepptau genommen, rasch aber seinem Schicksal überlassen wird: Man kommt so schneller voran. Auf diesem allein über den Atlantik treibenden Floß der Medusa verlieren dann die Schiffbrüchigen schnell und hemmungslos alle Bindungen zur Zivilisation. Mord, Selbstmord und Irrsinn, blutigste Gemetzel und heillose Trunkenheit (man hatte zwar nicht an Lebensmittel gedacht, wohl aber an ein paar Fässer Wein) lassen die Zahl der Rettungssuchenden schon in den ersten Nächten drastisch schrumpfen.
Am vierten Tage dann entdecken die Zähesten, dass Menschenfleisch besser schmeckt, wenn man es trocknen lässt, und dass weniger Bäuche sich leichter füllen lassen. Diejenigen von den Schwächsten, die man nicht zur Nahrung braucht, werden über Bord geworfen oder als Köder für Haie benutzt, auch wenn man ihnen, wie es in dem Bericht schonungslos heißt, am Tag zuvor noch ewige Freundschaft schwor. Nur fünfzehn, halbtot und fast völlig verrückt, sind noch auf dem Floß, als es schließlich von einem Schiff entdeckt wird. Dabei hat diese Fahrt nicht einmal zwei Wochen gedauert.
Doch vielleicht hat Géricault gar nicht den Moment der Rettung gemalt, wie es im „Bild-Essay” des Bandes heißt. Vielleicht hat er gerade den Moment aus dem Erlebnisbericht wiedergegeben, wo für einen kurzen Augenblick der Hoffnung ein fernes, allzu fernes Schiff am Horizont erscheint, um dann aus den Augen der Entsetzten wieder zu entschwinden - den Moment der enttäuschten Hoffnung. Denn aus der wahren Hölle führt kein Weg zurück.
J.-B. Henri Savigny,
Alexandre Corréard
Der Schiffbruch
der Fregatte Medusa
Nach einer anonymen deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1818. Mit einem Vorwort von Michel Tournier, einem Nachwort von Johannes Zeilinger und einem Bildessay zu Théodore Géricaults „Floß der Medusa” von Jörg Trempler. Matthes & Seitz, Berlin 2005. 253 Seiten, 22,80Euro.
Moment der Rettung oder der enttäuschten Hoffnung? Ausschnitt aus Theodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa”.
Abb.: bridgemanart
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ein Schiffbruch, so Dorothea Dieckmann mit Bezugnahme auf Hans Blumenberg, ist immer ein "Sinnbild für die Bedrohung" der "Menschlichkeit in Grenzsituationen". Ein eindrucksvolles Beispiel dafür hat ihr der von Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Correard, Augenzeugen und Leidtragende der Katastrophe, vorgelegte Bericht über den "Schiffbruch der Fregatte Medusa" gegeben. 150 Menschen, 13 Tage lang zusammengepfercht auf einem Floss, nachdem ihr Schiff auf einer Sandbank vor der afrikanischen Küste liegen geblieben war, als Nahrungsmittel hauptsächlich Wein: übrig blieben 15 Menschen, von denen zwei bald darauf starben. Allein das zeugt von dem terroristischen Ausmaß der Ereignisse. In dem Bericht hat die Rezensentin ein Dokument von "erschreckender Aussagekraft über die (un)menschlichen Potenziale unserer Spezies" entdeckt. Kranke wurden über Bord geworfen, nachts fanden Schlachten statt, gespeist von Rassismus und militärisch-politischen Querelen. Die "sorgfältige Edition" dieser "leidenschaftlichen Reportage im Dienst der Aufklärung" wird von Dieckmann als verdienstvoll gewürdigt, und die Meriten des Verlages werden ihrer Meinung nach noch erhöht durch einen "instruktiven Kommentar" und einen "brillanten Essay" zu Gericaults berühmtem Gemälde vom "Floss der Medusa".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH