Portsmouth 1787: John Jacob Turnstile ist gerade mal 14, ein Meister in Taschendiebstahl und so einigen anderen Gaunereien. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er eines Tages erwischt wird. Doch statt im Gefängnis, landet er auf der Bounty. Unter Kapitän Bligh segeln sie in die Südsee, mit der Mission, auf Tahiti Setzlinge des Brotfruchtbaumes einzusammeln. Ein Abenteuer, dessen Ausgang bekannt ist. Hier aber wird die Geschichte erstmalig aus der Perspektive des Schiffsjungen erzählt. Die Ereignisse, Kapitän Bligh und seine Mannschaft erscheinem in einem komplett neuen Licht. Es ist als würde man von der Meuterei auf der Bounty zum ersten Mal hören. Spannend, aufwühlend und atemlos.
Sie kennen die Geschichte der Meuterei auf der Bounty? 'Der Schiffsjunge' erzählt sie neu, unerwartet und verblüffend.
Sie kennen die Geschichte der Meuterei auf der Bounty? 'Der Schiffsjunge' erzählt sie neu, unerwartet und verblüffend.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2011Wie behauptet man sich in der Männerwelt?
Ungelogen: John Boynes Version der "Meuterei auf der Bounty" ist so spannend wie vielschichtig und dabei einer der abgründigsten Romane für junge Leser seit langem.
Wir alle lügen. Täglich. Notorisch. Aber manchmal bemerken wir, dass unser Lügen Wahrheit ist. Das erlebt John Jacob Turnstile, ein vierzehnjähriger Taschendieb, als er auf dem Markt von Brighton einem Gentleman, den er bestehlen will, belügt. Er, der bis dahin gerade einmal zwei zerfledderte Kladden über China gelesen hat, erklärt großspurig, es sei sein Traum, Schriftsteller zu werden. Das tut er, um sein Gegenüber, dessen Büchergier er kennt, in Sicherheit zu wiegen. Doch mitten im ausgefuchsten Täuschungsmanöver wird John klar, dass er tatsächlich für sein Leben gern schreiben und lesen würde. Ein glücklichere Zukunft rast in Sekundenbruchteilen an seinem inneren Auge vorüber: Er als gefeierter und gut verdienender Autor!
Doch die Wirklichkeit holt den kleinen Gauner mit den großen Sehnsüchten ein - er greift nach der Taschenuhr des Gentleman, wird ertappt, verurteilt und dazu begnadigt, sich als Schiffsjunge auf der Bounty zu bewähren, die gerade Segel für eine Südsee-Expedition setzt.
Spätestens jetzt weiß man, dass es um eine neue Variante der weltberühmten "Meuterei auf der Bounty" geht, erzählt aus der Perspektive des Schiffsjungen. Doch der verführerische Beginn, der mit seinem subtilen Fragen nach Wahrheit und Lüge, Schein und Sein mehr als eine Abenteuergeschichte verspricht, lässt einen nicht mehr los. Und er wird, darauf ist Verlass, auch die jugendlichen Leser nicht mehr loslassen. Denn John Boyne, bekannt geworden mit dem Welterfolg "Der Junge im gestreiften Pyjama", erzählt so farbig, einfallsreich und präzis, stellt Dutzende vielschichtiger Charaktere und überraschender Geschehnisse vor, vermeidet so konsequent und mühelos mahnende Zeigefinger, dass man erst spät (vielleicht, was ebenfalls kein Schaden wäre, gar nicht) bemerkt, es mit einem federleicht geschriebenen Bildungsroman, durchsetzt mit Elementen des Schelmenromans, zu tun zu haben.
Bei aller Leichtigkeit erspart Boyne seinen Lesern keineswegs belastende Erkenntnisse: Von Beginn an beunruhigen Randbemerkungen des Ich-Erzählers Turnstile, die ahnen lassen, dass hinter dem, was er über seine harte Kindheit mitteilt - elternlos, aufgewachsen bei einem schmierigen Gauner, der Jungen wie ihn aufsammelt, zu Dieben abrichtet und ausbeutet - noch Grausigeres lauert. Bei der Schilderung der brutalen Äquator-Taufe, die ihn fast das Leben kostet und das letzte Zutrauen an Restbestände des Guten in der Mannschaft raubt, bricht es aus ihm heraus: Wie alle seine Kumpane wurde er im Alter von elf Jahren allabendlich an Männer - "feine Pinkel" nennt er sie mit bodenlosem Hass - als Lustknabe verhökert, lernte, sie schweigend zu erdulden, sich selbst für die Dauer der Vergewaltigungen geistig auszulöschen und seine Gegenüber bis in die feinsten Winkel ihres Unterbewusstseins zu analysieren.
Trotzdem stellt der Junge nach Wochen auf der Bounty fest, er sei vor Betreten des Schiffs ahnungslos hinsichtlich der Natur des Menschen gewesen. Denn selbst sein geschulter Sinn für deren trügerische Oberfläche scheitert an dem, was sich in der hermetischen brütenden Atmosphäre an Bord entlädt. Feigheit, Selbstsucht, Sadismus, Opportunismus und das gelegentliche blasse Aufflackern von Gutwilligkeit - alles, was der Junge zwischen Gosse und Bordell einzuschätzen gelernt hat, nimmt in dieser Männerwelt manische Züge an.
Zentralfiguren dieses bösartigen Mikrokosmos sind der intrigante 2. Offizier Fletcher Christian und der verbohrte, aber redliche Steuermann Flyer. Auch der Kapitän William Bligh erhält hier andere Konturen als in Lewis Milstones kanonischen Filmversion von 1962: Nicht notorischer Pedant, sondern verknöcherter Humanist und Idealist, wird er dem Schiffsjungen fast ein Vater, enttäuscht ihn aber oft durch gedankenlose Gefühllosigkeit. So bleibt der realistische Grundzug dieses Romans gewahrt.
Einen der größten lehrreichen Schocks erlebt John, als Bligh einen Matrosen entgegen seinen ehernen Vorsätzen auspeitschen lässt. Dies ist der Wendepunkt, der die Meuterei und die legendäre Odyssee im Beiboot einleitet, die für Bligh, den Jungen und einige Loyale nach 48 qualvollen Tagen in Kupang endet. Zuvor aber erlebt John auf Tahiti eine Erlösung: Die Beziehung zu einem Mädchen. Nachdem beide das, was er immer das "Unaussprechliche" nannte, tun, ist er von den Selbstzweifeln befreit, die ihm sein Dasein als Lustknabe und die dabei gewonnene Fähigkeit, im Notfall seine körperliche Anziehungskraft auch bei Männern einzusetzen, eingepflanzt haben.
Die inneren Nöte dieser Jahre werden als reflexhaftes Auf-der-Hut-Sein ein Leben lang bei ihm bleiben. "Ungelogen", die ständig in seinen Erzählungen wiederholte beschwörende Formel, ist die Chiffre dieses Schwebens zwischen Vortäuschen und Sein, erfundenem und gelebtem Leben. Und sie ist der Verständnisschlüssel des Lesers, dem klar wird, wie wenig Verlass auf Wirklichkeit und auf Literatur ist - aber auch, wie bitter notwendig letztere als Wegweiser sein kann.
Identisch geworden mit dem Erzähler, empfinden wir nicht das wohlfeile sentimentale Mitleid, das die ihm verwandten Kindhelden von Charles Dickens oft genug hervorrufen. Stattdessen lieben wir den Kerl mit dem aufbrausenden Temperament, seinem Hang zu Spott, Rachsucht, Hinterhältigkeit - und der Sehnsucht, zu irgendjemandem zu gehören, wie uns selbst. Nach der Gerichtsverhandlung, die Bligh rehabilitiert und die Meuterer, mit Ausnahme eines, den das Vermögen und der Ruf seiner Familie retten, (die "feinen Pinkel" werden immer oben schwimmen, erfährt Turnstile erneut), sieht man ihn, endgültig vertraut mit der Lüge, der Wahrheit und dem weiten Feld dazwischen, bürgerlich aufsteigen. Wenn sich zuletzt der Kreis zum Beginn der Erzählung schließt, hat man eines der spannendsten Jugendbücher dieses Jahres gelesen, diskret lehrreich und mit einer Sprache, die von Anfang bis Ende eine Wonne ist. Denn indem Boyne die Sprache des späten 18. Jahrhunderts nachempfindet, beschenkt er einen mit einer Fülle bildhafter treffender Wendungen, Adjektive und Formulierungen, die sich vom gängigen Duktus so unterscheiden wie Cidre von Apfelsaftschorle.
DIETER BARTETZKO
John Boyne: "Der Schiffsjunge". Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty.
Aus dem Englischen von Andreas Heckmann. FJB, Frankfurt a.M. 2011. 638 S., geb., 18,95 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ungelogen: John Boynes Version der "Meuterei auf der Bounty" ist so spannend wie vielschichtig und dabei einer der abgründigsten Romane für junge Leser seit langem.
Wir alle lügen. Täglich. Notorisch. Aber manchmal bemerken wir, dass unser Lügen Wahrheit ist. Das erlebt John Jacob Turnstile, ein vierzehnjähriger Taschendieb, als er auf dem Markt von Brighton einem Gentleman, den er bestehlen will, belügt. Er, der bis dahin gerade einmal zwei zerfledderte Kladden über China gelesen hat, erklärt großspurig, es sei sein Traum, Schriftsteller zu werden. Das tut er, um sein Gegenüber, dessen Büchergier er kennt, in Sicherheit zu wiegen. Doch mitten im ausgefuchsten Täuschungsmanöver wird John klar, dass er tatsächlich für sein Leben gern schreiben und lesen würde. Ein glücklichere Zukunft rast in Sekundenbruchteilen an seinem inneren Auge vorüber: Er als gefeierter und gut verdienender Autor!
Doch die Wirklichkeit holt den kleinen Gauner mit den großen Sehnsüchten ein - er greift nach der Taschenuhr des Gentleman, wird ertappt, verurteilt und dazu begnadigt, sich als Schiffsjunge auf der Bounty zu bewähren, die gerade Segel für eine Südsee-Expedition setzt.
Spätestens jetzt weiß man, dass es um eine neue Variante der weltberühmten "Meuterei auf der Bounty" geht, erzählt aus der Perspektive des Schiffsjungen. Doch der verführerische Beginn, der mit seinem subtilen Fragen nach Wahrheit und Lüge, Schein und Sein mehr als eine Abenteuergeschichte verspricht, lässt einen nicht mehr los. Und er wird, darauf ist Verlass, auch die jugendlichen Leser nicht mehr loslassen. Denn John Boyne, bekannt geworden mit dem Welterfolg "Der Junge im gestreiften Pyjama", erzählt so farbig, einfallsreich und präzis, stellt Dutzende vielschichtiger Charaktere und überraschender Geschehnisse vor, vermeidet so konsequent und mühelos mahnende Zeigefinger, dass man erst spät (vielleicht, was ebenfalls kein Schaden wäre, gar nicht) bemerkt, es mit einem federleicht geschriebenen Bildungsroman, durchsetzt mit Elementen des Schelmenromans, zu tun zu haben.
Bei aller Leichtigkeit erspart Boyne seinen Lesern keineswegs belastende Erkenntnisse: Von Beginn an beunruhigen Randbemerkungen des Ich-Erzählers Turnstile, die ahnen lassen, dass hinter dem, was er über seine harte Kindheit mitteilt - elternlos, aufgewachsen bei einem schmierigen Gauner, der Jungen wie ihn aufsammelt, zu Dieben abrichtet und ausbeutet - noch Grausigeres lauert. Bei der Schilderung der brutalen Äquator-Taufe, die ihn fast das Leben kostet und das letzte Zutrauen an Restbestände des Guten in der Mannschaft raubt, bricht es aus ihm heraus: Wie alle seine Kumpane wurde er im Alter von elf Jahren allabendlich an Männer - "feine Pinkel" nennt er sie mit bodenlosem Hass - als Lustknabe verhökert, lernte, sie schweigend zu erdulden, sich selbst für die Dauer der Vergewaltigungen geistig auszulöschen und seine Gegenüber bis in die feinsten Winkel ihres Unterbewusstseins zu analysieren.
Trotzdem stellt der Junge nach Wochen auf der Bounty fest, er sei vor Betreten des Schiffs ahnungslos hinsichtlich der Natur des Menschen gewesen. Denn selbst sein geschulter Sinn für deren trügerische Oberfläche scheitert an dem, was sich in der hermetischen brütenden Atmosphäre an Bord entlädt. Feigheit, Selbstsucht, Sadismus, Opportunismus und das gelegentliche blasse Aufflackern von Gutwilligkeit - alles, was der Junge zwischen Gosse und Bordell einzuschätzen gelernt hat, nimmt in dieser Männerwelt manische Züge an.
Zentralfiguren dieses bösartigen Mikrokosmos sind der intrigante 2. Offizier Fletcher Christian und der verbohrte, aber redliche Steuermann Flyer. Auch der Kapitän William Bligh erhält hier andere Konturen als in Lewis Milstones kanonischen Filmversion von 1962: Nicht notorischer Pedant, sondern verknöcherter Humanist und Idealist, wird er dem Schiffsjungen fast ein Vater, enttäuscht ihn aber oft durch gedankenlose Gefühllosigkeit. So bleibt der realistische Grundzug dieses Romans gewahrt.
Einen der größten lehrreichen Schocks erlebt John, als Bligh einen Matrosen entgegen seinen ehernen Vorsätzen auspeitschen lässt. Dies ist der Wendepunkt, der die Meuterei und die legendäre Odyssee im Beiboot einleitet, die für Bligh, den Jungen und einige Loyale nach 48 qualvollen Tagen in Kupang endet. Zuvor aber erlebt John auf Tahiti eine Erlösung: Die Beziehung zu einem Mädchen. Nachdem beide das, was er immer das "Unaussprechliche" nannte, tun, ist er von den Selbstzweifeln befreit, die ihm sein Dasein als Lustknabe und die dabei gewonnene Fähigkeit, im Notfall seine körperliche Anziehungskraft auch bei Männern einzusetzen, eingepflanzt haben.
Die inneren Nöte dieser Jahre werden als reflexhaftes Auf-der-Hut-Sein ein Leben lang bei ihm bleiben. "Ungelogen", die ständig in seinen Erzählungen wiederholte beschwörende Formel, ist die Chiffre dieses Schwebens zwischen Vortäuschen und Sein, erfundenem und gelebtem Leben. Und sie ist der Verständnisschlüssel des Lesers, dem klar wird, wie wenig Verlass auf Wirklichkeit und auf Literatur ist - aber auch, wie bitter notwendig letztere als Wegweiser sein kann.
Identisch geworden mit dem Erzähler, empfinden wir nicht das wohlfeile sentimentale Mitleid, das die ihm verwandten Kindhelden von Charles Dickens oft genug hervorrufen. Stattdessen lieben wir den Kerl mit dem aufbrausenden Temperament, seinem Hang zu Spott, Rachsucht, Hinterhältigkeit - und der Sehnsucht, zu irgendjemandem zu gehören, wie uns selbst. Nach der Gerichtsverhandlung, die Bligh rehabilitiert und die Meuterer, mit Ausnahme eines, den das Vermögen und der Ruf seiner Familie retten, (die "feinen Pinkel" werden immer oben schwimmen, erfährt Turnstile erneut), sieht man ihn, endgültig vertraut mit der Lüge, der Wahrheit und dem weiten Feld dazwischen, bürgerlich aufsteigen. Wenn sich zuletzt der Kreis zum Beginn der Erzählung schließt, hat man eines der spannendsten Jugendbücher dieses Jahres gelesen, diskret lehrreich und mit einer Sprache, die von Anfang bis Ende eine Wonne ist. Denn indem Boyne die Sprache des späten 18. Jahrhunderts nachempfindet, beschenkt er einen mit einer Fülle bildhafter treffender Wendungen, Adjektive und Formulierungen, die sich vom gängigen Duktus so unterscheiden wie Cidre von Apfelsaftschorle.
DIETER BARTETZKO
John Boyne: "Der Schiffsjunge". Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty.
Aus dem Englischen von Andreas Heckmann. FJB, Frankfurt a.M. 2011. 638 S., geb., 18,95 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Farbig, spannend, einfallsreich" - Rezensent Dieter Bartetzko kann gar nicht genug Worte finden, um seine Begeisterung für John Boynes neuen Roman "Der Schiffsjunge" auszudrücken. Für Bartetzko ist diese, aus der Perspektive eines Schiffsjungen erzählte Version der "Meuterei auf der Bounty" nicht nur einer der herausragendsten Jugendromane des Jahres, sondern zugleich ein leicht geschriebener, nie moralisierender Bildungsroman, der mit "vielschichtigen" Charakteren und Geschehnissen überrascht. Die Geschichte um John Jacob Turnstile, einen vierzehnjährigen Taschendieb, der sich nach einer Verurteilung auf der "Bounty" bewähren soll, lasse einen nicht mehr los, meint der Kritiker. Zu schnell lerne man den Jungen lieben, zu tief schaue man mit ihm in die Abgründe seiner Kindheit und seiner Gegenwart auf dem Schiff: Als Waise bei einem Gauner aufgewachsen, der ihn als Lustknaben allabendlich an Männer verkaufte, muss sich der Junge auf dem Schiff erneut in einer gefährlichen Welt behaupten, um schließlich in die Welt der Literatur zu fliehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Schauspieler Florian Lukas liest stimmgewaltig ein Seeabenteuer, das schon heute das Zeug zum Klassiker hat."