August 2015: Fabian Hoffmann, der einstige Dissident, steht als Chronist in Diensten der »Tausendundeinenachtabteilung« von Treva. Hier, in den Labyrinthen eines unterirdischen Reichs, arbeitet die »Sicherheit« an Aktivitäten, zu denen einst auch die Wiedervereinigung zweier geteilter Staaten gehörte. In diese Welt ist Fabian einem ihrer Kapitäne, Deckname »Nemo«, gefolgt, um herauszufinden, wer seine Schwester und seine Eltern verraten hat. Zugleich ist Fabian mit einer Chronik befasst, die zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung erscheinen soll. Doch es kommt anders. Fabian gerät auf eine Reise, die ihn tief in die trevische Gesellschaft und ihre Utopien hineinführt.
Er analysiert Ordnungsvorstellungen und Prinzipien der Machtausübung, die Verflechtungen von Politik, Staatsapparat und Medien, beobachtet die Veränderungen im alltäglichen Leben. Immer mehr löst sich dabei seine Chronik von ihrem ursprünglich amtlichen Auftrag, streift zurück bis in das Dresden seiner Kindheit, in die stillstehende Zeit vor zwei Epochenjahren. Auf seiner Suche nach Ordnung und Sinn kämpft Fabian gegen die Windmühlen der Macht, die Fälschungen der Wirklichkeit, den Verlust aller Sicherheiten - und gibt doch den Traum von einer befreiten Zukunft nicht verloren.
Er analysiert Ordnungsvorstellungen und Prinzipien der Machtausübung, die Verflechtungen von Politik, Staatsapparat und Medien, beobachtet die Veränderungen im alltäglichen Leben. Immer mehr löst sich dabei seine Chronik von ihrem ursprünglich amtlichen Auftrag, streift zurück bis in das Dresden seiner Kindheit, in die stillstehende Zeit vor zwei Epochenjahren. Auf seiner Suche nach Ordnung und Sinn kämpft Fabian gegen die Windmühlen der Macht, die Fälschungen der Wirklichkeit, den Verlust aller Sicherheiten - und gibt doch den Traum von einer befreiten Zukunft nicht verloren.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Thomas Assheuer nimmt sich noch einmal Uwe Tellkamps Roman "Der Schlaf in den Uhren" vor, um ihn mit allen Mitteln der Ideologiekritik abzuklopfen. Denn hinter Tellkamps Metafiktion entdeckt Assheuer mehr als nur eine Mediensatire, in der Journalismus und Kultur eine unheilig-linke Allianz mit der Macht eingehen. Der Rezensent sieht vielmehr einen reaktionären Geschichtsrevisionismus am Werk, bei dem nicht nur die Stasi in der Bundesrepublik aufgegangen sei "wie ein Brühwürfel im Eintopf", sondern vor allem der Nationalsozialismus als eine Reaktion auf "die ewige Linke" erscheine, was Assheuer unter anderem daran festmacht, dass Tellkamp die kommunistischen Bonzen im sowjetischen Geländewagen GAZ-69 Jagd auf Ungeziefer in der Birkenheide machen lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.05.2022Mächte im Untergrund
Zehn Jahre lang gab es Geraune und Gerüchte über eine Fortsetzung von Uwe Tellkamps gefeiertem
Bestseller „Der Turm“. Jetzt ist es so weit. Wie ist „Der Schlaf in den Uhren“ geworden?
VON MARIE SCHMIDT
Um der Aufregung über dieses Buch gerecht zu werden, muss man etwas ausholen. Was bisher geschah: Im Juni 2004 gewann der bis dahin kaum bekannte Uwe Tellkamp den Ingeborg-Bachmann-Preis mit der Erzählung „Der Schlaf in den Uhren“. Er erzählte von einer Straßenbahnfahrt durch Dresden, die Jury fand „wir haben einen großen Autor entdeckt“ und auch im Rest des Landes lösten seine schwingenden Satzperioden und seine Bildungsanspielungen die Hoffnung aus, endlich sei der Nachfolger Thomas Manns da für die nicht ganz glücklich wiedervereinigte Bundesrepublik. Diese Hoffnung erfüllte Tellkamp 2008 mit dem Roman „Der Turm“. Darin erzählte er aus der späten DDR am Beispiel mehrerer Familien im Dresdner Viertel Weißer Hirsch. Seine Figuren haben als Ärzte, Lektoren, Schriftsteller in ihrem bildungsbürgerlichen Kokon eine gewisse Autonomie. Im Laufe der Handlung werden sie dann aber doch vom Staatsapparat gegängelt.
„Der Turm“ wurde als wahrheitsgetreue Innensicht der DDR gelesen und traf das starkes Bedürfnis nach einem „Wenderoman“. Das Buch war ein Erfolg für den Suhrkamp Verlag, zu dem Tellkamp gerade erst gewechselt war. Neben viel Ehrerbietung der Kritik schwoll danach aber auch der Spott an auf Tellkamps bisweilen betulich um alte Uhren und Schmiedeeisernes kreisende Prosa. Aber eins schaffte der Roman: Er beglückte ein Publikum, das gern Anspielungen und Schlüsselfiguren von Goethe über Wilhelm Hauff bis zu Peter Hacks und Brigitte Reimann in einem Text entdeckt. Und zugleich eignete er sich für eine ARD-Verfilmung mit Jan Josef Liefers. Für diese Anschlussfähigkeit kann man ihn nur bewundern.
Die Handlung des „Turms“ endet kurz vor dem Mauerfall mit einem Doppelpunkt: „...aber dann auf einmal... schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ,Deutschland einig Vaterland‘, schlugen ans Brandenburger Tor:“ Seitdem sprach Tellkamp häufig über eine „Fortschreibung“, seit etwa 2012 kündigte er sie regelmäßig an. Zehn Jahre später kommt dieses Buch nun heraus. Die Spannungskurve seiner Vorgeschichte ging davor aber aus anderen Gründen wieder hoch.
Spätestens 2018 machte Tellkamp auch politisch von sich reden. Bei einer Diskussion mit dem Dichter Durs Grünbein im Dresdner Kulturpalast zum Thema Meinungsfreiheit beklagte er, man werde im Land herablassend behandelt und ausgeschlossen, wenn man sich etwa zur Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge anders als ein von ihm definierter linker Mainstream äußerte. Dazu brachte er die hergeholte Zahl, 95 Prozent der Flüchtlinge flöhen nicht vor Krieg, sondern um in die deutschen Sozialsysteme einzuwandern.
Die sich gewöhnlich in liberalem Gutfinden gefallende Literaturszene war irritiert und überlegte: Hatte Tellkamp nicht schon in seinem Roman „Der Eisvogel“ von 2005 mit dem Pathos rechtsradikaler Umstürzler gezündelt? Als einer der ersten hatte er die sogenannte „Charta 2017“ unterschrieben, die argumentierte, durch Angriffe auf neurechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse und die Reaktion des Börsenvereins darauf, werde „die Meinungsfreiheit ausgehöhlt“. Vom „Gesinnungskorridor“ war die Rede. Auch die „Gemeinsame Erklärung 2018“ unterzeichnete Tellkamp, wo es heißt, Deutschland werde „durch illegale Masseneinwanderung beschädigt“. Einmal mehr fuhren Kulturkritiker zu Tellkamp nach Dresden, man diskutierte und beschrieb das Ganze dann als Kulturbetriebs-Fall einer allgemein gesellschaftlichen Abspaltung.
Was der Suhrkamp-Verlag während der Diskussion mit Grünbein unter dem Hashtag „Tellkamp“ getwittert hatte: „Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlags zu verwechseln“, fand aber keiner gut. Schon weil es Tellkamp in seiner Klage bestätigte. Der Verleger Jonathan Landgrebe sagte wenig dazu, aber: „Uwe Tellkamp ist und bleibt Autor des Verlags.“ Trotzdem hatte es deswegen eine gewisse Plausibilität, als Journalisten der Welt versuchten, einen Konflikt bei Suhrkamp über die politische „Tendenz“ der Romanfortsetzung zu lancieren, weil deren Erscheinen 2020 wieder einmal verschoben wurde: In dem renommierten Verlag sei man „verzweifelt und ratlos“ über das Manuskript. Autor und Verlag dementierten, das Buch sei einfach noch nicht fertig.
Tatsächlich wurde der Roman, der wie der Bachmannpreisgewinnertext „Der Schlaf in den Uhren“ heißt, recht kurzfristig und versteckt angekündigt. Obwohl es sich beim vorliegenden Buch also um eine intensiv lektorierte und gekürzte Fassung handelt, lässt allein die Form des Textes die Adjektive „verzweifelt“ und „ratlos“ wieder einleuchtender erscheinen. Noch vor allem politisch Problematischen.
Wie ist der neue Tellkamp also? Nun, es ist vor allem bis zuletzt nicht leicht möglich, sich darin zurechtzufinden, sich unter seiner Welt etwas vorzustellen, denn „Der Schlaf in den Uhren“ spielt auf einer Vielzahl von Zeitebenen, mit Mischungsverhältnissen von Fantastischem und Historisch-realistischem, collagiert Schlüsselfiguren realer Zeitgenossen. Der lange epische Atem des „Turm“ hat sich in kurze Anrisse von Erzählungen aufgelöst, die höchstens durch Suggestionen verbunden sind. Manches taucht später wieder auf, vieles endet lose. Auch von dem behaglich gewichtigen Erzählton des Erfolgsromans sind nur noch Reste übrig, die wie Fossilien in einen Steinbruch aus essayistischen, protokollierenden und satirisch gemeinten Abbreviaturen eingeschlossen sind.
Zwei Hauptaspekte stellen sich heraus: Es handelt sich um eine Art Mediensatire und wirklich um eine Art Fortsetzung des „Turm“. Wobei man intim mit dem Vorgänger vertraut sein muss, um das genießen zu können, weil die Figuren nicht wieder vorgestellt werden. Der Roman spielt 1989/90 während der friedlichen Revolution und den Verhandlungen um die Wiedervereinigung, setzt also wirklich nach dem berühmten Doppelpunkt wieder an. Und es gibt eine Erzählgegenwart des Jahres 2015, markiert von der Ankunft von Flüchtenden. Die markanteste Wiederbegegnung ist die mit der Figur Anne Hoffmann, an die man sich aus dem „Turm“ als Krankenschwester, Mutter und betrogene Ehefrau erinnern kann. 1989 ist sie eine eher zurückhaltend beobachtende Bürgerrechtlerin. 2015 taucht sie wieder auf als Bundeskanzlerin. „Hängende Mundwinkel“ und „das vollständig Nichtzündende ihrer Auftritte“ ergeben bekannte Züge. Man würde sich von der Plausibilität dieser Figurenentwicklung überzeugen lassen, aber wie es vom einen zum anderen Stadium kommt, erzählt Tellkamp nicht. Im letzten Drittel fällt Anne irgendwie aus dem Buch, obwohl sie da in der Flüchtlingssache noch eine Rolle zu spielen hätte.
Es gibt außerdem eine fantastische Ebene der Handlung, die in der Darstellung der Funktionärs- und Behördenviertel im „Turm“ als „Ostrom“ und „Kohleninsel“ schon angelegt war. Im neuen Buch wird ein Großteil der literarischen Topografie unter dem Namen „Treva“ beschrieben, was wechselweise für das von Elbe und Rhein durchzogene Gesamtdeutschland und eine Stadt gleichen Namens steht. Darunter liegt ein Bergwerk, in dem sich verschiedene unterirdische Behörden befinden. Am deutlichsten zeichnet Tellkamp die Rolle der „Tausendundeinenachtabteilung“, die dafür sorgt, dass Informationen ausgesucht, in Medien zu einmütigen Narrativen zusammengesetzt werden und von da aus in Politik umsetzbar sind. Die genannten Zeitungen und Medienhäuser stehen überdeutlich für die der deutschen Medienlandschaft. Der Spiegel zum Beispiel heißt hier „Wahrheit“ und sein Gründer, „der alte Brandenstein“, alias Augstein, hat nicht den journalistischen Leitspruch geprägt „Sagen, was ist“, sondern: „Das Leben ist ein Roman. Wir schreiben ihn.“
Als Satire ist das nicht besonders subtil. Zumal das Genre ja auf einen Effekt höherer Wahrheit zielen würde, der hier tatsächlich in einer politischen Behauptung besteht. Darin hat sich Tellkamp keinen Zentimeter von seinen Einlassungen von 2018 fortbewegt. Im Verlaufe des Buches stellt es sich so dar, dass die alten Sicherheits- und Kulturbehörden der DDR nach der Vereinigung unter die Oberfläche von „Treva“ abgesunken sind, wo sie jetzt mit dem alten Personal an der „Aufgabe im Grunde“, einer sicheren Diskurslenkung arbeiten.
Beobachtet man, wie Tellkamp dieses Weltbild erklärt, beschleicht einen der Eindruck, ihm sei die Sympathie für das Bildungsbürgertum der DDR bitter geworden: „Wenn Siemens eine ostdeutsche Provinzbude übernehme, seien die Machtverhältnisse geklärt, von der Provinzbude werde nichts übrig bleiben“, sagt da einer über die Folgen der Einheit. Die BRD schluckt den Osten, heißt das, aber in einem Aspekt kann er die Überhand behalten haben: „Beim ideologischen, beim neutraler gesprochen, Bildungsüberbau, verhalte sich das anders: da sei der Westen unterlegen trotz aller seiner angeblichen oder tatsächlichen Freiheiten, trotz einer kaum faßbar vielfältigen Geistes- und Presselandschaft, der Westen sei zwar frei, aber alles sei relativ, man sei offen, aber leer.“
Die Vorstellung, dass die Bundesrepublik, der Westen dekadent und gelenkt sei und darin inzwischen wieder der späten DDR ähnele, ist ein bekannter Topos, wie auch die Idee eines „tiefen Staates“. So was ist häufig zu hören im Pegida-Umfeld. Oder jedenfalls in Milieus, denen es leichter fällt zu glauben, dass „der Mainstream“ von finsteren Mächten gesteuert wird, als zu erkennen, dass es auch in pluralen Gesellschaften Konzentrationseffekte gibt. Was ja, streng genommen, viel unmittelbarer kritikwürdig ist, als numinose, ungreifbare Mächte im Hintergrund.
Man könnte nun argumentieren, dass sich Tellkamp mit der Verschlüsselung seiner Figuren und Mehrfachcodierung seiner Motive gegen Diskussionen absichert. Oder man könnte sagen: Indem er politische „Narrative“ anprangert, mache er sich gebundene Erzählungen auch für seinen Roman verdächtig und unmöglich.
Vielleicht ist „Der Schlaf in den Uhren“ aber auch nur ein konfuses Buch: Fabian Hoffmann, im „Turm“ eine Randfigur, ist hier zwar Ich-Erzähler, bleibt aber schemenhaft. Verhandlungen, etwa der Gruppe 20, des Neuen Forums und sich neu gründender Parteien, die schließlich zur Wiedervereinigung führen sollen – eigentlich ein interessantes Thema – sind in Dialogen wiedergegeben, bei denen man nie weiß, wer spricht. Ebenso Situationen der DDR-Verlags- und Literaturszene.
Was für ein Buch so eine Fortschreibung hätte werden können, ahnt man in einer Szene, in der die gewaltlose Erstürmung der Dresdner Stasizentrale jeden Augenblick zu kippen droht. Ohne wissen zu können, was sie tun, handeln sich die Protagonisten in den historischen Moment hinein. Daran hätte man viel zeigen können, aber auch diese Episode endet unvermittelt. Einen gewissen Unterhaltungswert haben Passagen über Nassrasur oder einen Segeltörn, in denen Tellkamp das Manufactum-hafte seiner früheren Prosa zu karikieren scheint. Aber letztlich gibt es keine Motivation, kein Ziel und keinen Drive, der einen zwingen würde, das Buch durchzulesen. Wenn man den Roman nicht einfach als literarisch missglückt weglegen, sondern ernst nehmen möchte, beginnt er etwas Selbstgerechtes auszustrahlen.
Er scheint seinem Leser zu sagen: Wenn du nicht sowieso weißt, wie und warum das alles zusammenhängt, wer wer ist und was hier zitiert wird, hast du es nur nicht verstanden. Eine bekannte Attitüde reaktionärer Ästhetiken. Wobei die Totale hier seltsam beschränkt wirkt: Tellkamps Deutschland der nahen Vergangenheit hat kaum eine Außenwelt. Europa kommt höchstens in Form von Urlaubszielen vor, Russland als blasse Erinnerung. Und Flüchtlinge tauchen wie aus dem Nichts an den Grenzen auf. Einer Leserschaft, die gerade eine Pandemie und einen Krieg erlebt, muss das auffallen. Wenn sie die Geduld aufbringt für dieses Buch.
Gerade weil das zu bezweifeln ist, scheint ein Erfolg wie der des „Turm“ unwahrscheinlich. Es bleibt jedoch richtig, dass Suhrkamp diesen Roman veröffentlicht. Seine Probleme liegen dadurch offen zu Tage, ohne von Cancel-Debatten mythisiert zu werden. Weil das Ganze im Untertitel „Archipelagus 1“ heißt, ist eine weitere Fortsetzung zu erwarten. Die Frage bleibt: Wie konnte aus dem Autor des prätentiösen, aber eben auch sinnlichen, vermittelnden Romans „Der Turm“ der Erschaffer eines so engen Weltbildes werden?
Hier hat sich Tellkamp keinen
Zentimeter von seinen
Einlassungen von 2018 entfernt
Uwe Tellkamp hat zum Roman Pläne seiner fantastischen Welt mit Anteilen von Wirklichkeit gezeichnet. Sie finden sich auf dem Vorsatzblatt
Foto: Tellkamp/Suhrkamp
Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren.
904 Seiten. Suhrkamp 2022. 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zehn Jahre lang gab es Geraune und Gerüchte über eine Fortsetzung von Uwe Tellkamps gefeiertem
Bestseller „Der Turm“. Jetzt ist es so weit. Wie ist „Der Schlaf in den Uhren“ geworden?
VON MARIE SCHMIDT
Um der Aufregung über dieses Buch gerecht zu werden, muss man etwas ausholen. Was bisher geschah: Im Juni 2004 gewann der bis dahin kaum bekannte Uwe Tellkamp den Ingeborg-Bachmann-Preis mit der Erzählung „Der Schlaf in den Uhren“. Er erzählte von einer Straßenbahnfahrt durch Dresden, die Jury fand „wir haben einen großen Autor entdeckt“ und auch im Rest des Landes lösten seine schwingenden Satzperioden und seine Bildungsanspielungen die Hoffnung aus, endlich sei der Nachfolger Thomas Manns da für die nicht ganz glücklich wiedervereinigte Bundesrepublik. Diese Hoffnung erfüllte Tellkamp 2008 mit dem Roman „Der Turm“. Darin erzählte er aus der späten DDR am Beispiel mehrerer Familien im Dresdner Viertel Weißer Hirsch. Seine Figuren haben als Ärzte, Lektoren, Schriftsteller in ihrem bildungsbürgerlichen Kokon eine gewisse Autonomie. Im Laufe der Handlung werden sie dann aber doch vom Staatsapparat gegängelt.
„Der Turm“ wurde als wahrheitsgetreue Innensicht der DDR gelesen und traf das starkes Bedürfnis nach einem „Wenderoman“. Das Buch war ein Erfolg für den Suhrkamp Verlag, zu dem Tellkamp gerade erst gewechselt war. Neben viel Ehrerbietung der Kritik schwoll danach aber auch der Spott an auf Tellkamps bisweilen betulich um alte Uhren und Schmiedeeisernes kreisende Prosa. Aber eins schaffte der Roman: Er beglückte ein Publikum, das gern Anspielungen und Schlüsselfiguren von Goethe über Wilhelm Hauff bis zu Peter Hacks und Brigitte Reimann in einem Text entdeckt. Und zugleich eignete er sich für eine ARD-Verfilmung mit Jan Josef Liefers. Für diese Anschlussfähigkeit kann man ihn nur bewundern.
Die Handlung des „Turms“ endet kurz vor dem Mauerfall mit einem Doppelpunkt: „...aber dann auf einmal... schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ,Deutschland einig Vaterland‘, schlugen ans Brandenburger Tor:“ Seitdem sprach Tellkamp häufig über eine „Fortschreibung“, seit etwa 2012 kündigte er sie regelmäßig an. Zehn Jahre später kommt dieses Buch nun heraus. Die Spannungskurve seiner Vorgeschichte ging davor aber aus anderen Gründen wieder hoch.
Spätestens 2018 machte Tellkamp auch politisch von sich reden. Bei einer Diskussion mit dem Dichter Durs Grünbein im Dresdner Kulturpalast zum Thema Meinungsfreiheit beklagte er, man werde im Land herablassend behandelt und ausgeschlossen, wenn man sich etwa zur Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge anders als ein von ihm definierter linker Mainstream äußerte. Dazu brachte er die hergeholte Zahl, 95 Prozent der Flüchtlinge flöhen nicht vor Krieg, sondern um in die deutschen Sozialsysteme einzuwandern.
Die sich gewöhnlich in liberalem Gutfinden gefallende Literaturszene war irritiert und überlegte: Hatte Tellkamp nicht schon in seinem Roman „Der Eisvogel“ von 2005 mit dem Pathos rechtsradikaler Umstürzler gezündelt? Als einer der ersten hatte er die sogenannte „Charta 2017“ unterschrieben, die argumentierte, durch Angriffe auf neurechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse und die Reaktion des Börsenvereins darauf, werde „die Meinungsfreiheit ausgehöhlt“. Vom „Gesinnungskorridor“ war die Rede. Auch die „Gemeinsame Erklärung 2018“ unterzeichnete Tellkamp, wo es heißt, Deutschland werde „durch illegale Masseneinwanderung beschädigt“. Einmal mehr fuhren Kulturkritiker zu Tellkamp nach Dresden, man diskutierte und beschrieb das Ganze dann als Kulturbetriebs-Fall einer allgemein gesellschaftlichen Abspaltung.
Was der Suhrkamp-Verlag während der Diskussion mit Grünbein unter dem Hashtag „Tellkamp“ getwittert hatte: „Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlags zu verwechseln“, fand aber keiner gut. Schon weil es Tellkamp in seiner Klage bestätigte. Der Verleger Jonathan Landgrebe sagte wenig dazu, aber: „Uwe Tellkamp ist und bleibt Autor des Verlags.“ Trotzdem hatte es deswegen eine gewisse Plausibilität, als Journalisten der Welt versuchten, einen Konflikt bei Suhrkamp über die politische „Tendenz“ der Romanfortsetzung zu lancieren, weil deren Erscheinen 2020 wieder einmal verschoben wurde: In dem renommierten Verlag sei man „verzweifelt und ratlos“ über das Manuskript. Autor und Verlag dementierten, das Buch sei einfach noch nicht fertig.
Tatsächlich wurde der Roman, der wie der Bachmannpreisgewinnertext „Der Schlaf in den Uhren“ heißt, recht kurzfristig und versteckt angekündigt. Obwohl es sich beim vorliegenden Buch also um eine intensiv lektorierte und gekürzte Fassung handelt, lässt allein die Form des Textes die Adjektive „verzweifelt“ und „ratlos“ wieder einleuchtender erscheinen. Noch vor allem politisch Problematischen.
Wie ist der neue Tellkamp also? Nun, es ist vor allem bis zuletzt nicht leicht möglich, sich darin zurechtzufinden, sich unter seiner Welt etwas vorzustellen, denn „Der Schlaf in den Uhren“ spielt auf einer Vielzahl von Zeitebenen, mit Mischungsverhältnissen von Fantastischem und Historisch-realistischem, collagiert Schlüsselfiguren realer Zeitgenossen. Der lange epische Atem des „Turm“ hat sich in kurze Anrisse von Erzählungen aufgelöst, die höchstens durch Suggestionen verbunden sind. Manches taucht später wieder auf, vieles endet lose. Auch von dem behaglich gewichtigen Erzählton des Erfolgsromans sind nur noch Reste übrig, die wie Fossilien in einen Steinbruch aus essayistischen, protokollierenden und satirisch gemeinten Abbreviaturen eingeschlossen sind.
Zwei Hauptaspekte stellen sich heraus: Es handelt sich um eine Art Mediensatire und wirklich um eine Art Fortsetzung des „Turm“. Wobei man intim mit dem Vorgänger vertraut sein muss, um das genießen zu können, weil die Figuren nicht wieder vorgestellt werden. Der Roman spielt 1989/90 während der friedlichen Revolution und den Verhandlungen um die Wiedervereinigung, setzt also wirklich nach dem berühmten Doppelpunkt wieder an. Und es gibt eine Erzählgegenwart des Jahres 2015, markiert von der Ankunft von Flüchtenden. Die markanteste Wiederbegegnung ist die mit der Figur Anne Hoffmann, an die man sich aus dem „Turm“ als Krankenschwester, Mutter und betrogene Ehefrau erinnern kann. 1989 ist sie eine eher zurückhaltend beobachtende Bürgerrechtlerin. 2015 taucht sie wieder auf als Bundeskanzlerin. „Hängende Mundwinkel“ und „das vollständig Nichtzündende ihrer Auftritte“ ergeben bekannte Züge. Man würde sich von der Plausibilität dieser Figurenentwicklung überzeugen lassen, aber wie es vom einen zum anderen Stadium kommt, erzählt Tellkamp nicht. Im letzten Drittel fällt Anne irgendwie aus dem Buch, obwohl sie da in der Flüchtlingssache noch eine Rolle zu spielen hätte.
Es gibt außerdem eine fantastische Ebene der Handlung, die in der Darstellung der Funktionärs- und Behördenviertel im „Turm“ als „Ostrom“ und „Kohleninsel“ schon angelegt war. Im neuen Buch wird ein Großteil der literarischen Topografie unter dem Namen „Treva“ beschrieben, was wechselweise für das von Elbe und Rhein durchzogene Gesamtdeutschland und eine Stadt gleichen Namens steht. Darunter liegt ein Bergwerk, in dem sich verschiedene unterirdische Behörden befinden. Am deutlichsten zeichnet Tellkamp die Rolle der „Tausendundeinenachtabteilung“, die dafür sorgt, dass Informationen ausgesucht, in Medien zu einmütigen Narrativen zusammengesetzt werden und von da aus in Politik umsetzbar sind. Die genannten Zeitungen und Medienhäuser stehen überdeutlich für die der deutschen Medienlandschaft. Der Spiegel zum Beispiel heißt hier „Wahrheit“ und sein Gründer, „der alte Brandenstein“, alias Augstein, hat nicht den journalistischen Leitspruch geprägt „Sagen, was ist“, sondern: „Das Leben ist ein Roman. Wir schreiben ihn.“
Als Satire ist das nicht besonders subtil. Zumal das Genre ja auf einen Effekt höherer Wahrheit zielen würde, der hier tatsächlich in einer politischen Behauptung besteht. Darin hat sich Tellkamp keinen Zentimeter von seinen Einlassungen von 2018 fortbewegt. Im Verlaufe des Buches stellt es sich so dar, dass die alten Sicherheits- und Kulturbehörden der DDR nach der Vereinigung unter die Oberfläche von „Treva“ abgesunken sind, wo sie jetzt mit dem alten Personal an der „Aufgabe im Grunde“, einer sicheren Diskurslenkung arbeiten.
Beobachtet man, wie Tellkamp dieses Weltbild erklärt, beschleicht einen der Eindruck, ihm sei die Sympathie für das Bildungsbürgertum der DDR bitter geworden: „Wenn Siemens eine ostdeutsche Provinzbude übernehme, seien die Machtverhältnisse geklärt, von der Provinzbude werde nichts übrig bleiben“, sagt da einer über die Folgen der Einheit. Die BRD schluckt den Osten, heißt das, aber in einem Aspekt kann er die Überhand behalten haben: „Beim ideologischen, beim neutraler gesprochen, Bildungsüberbau, verhalte sich das anders: da sei der Westen unterlegen trotz aller seiner angeblichen oder tatsächlichen Freiheiten, trotz einer kaum faßbar vielfältigen Geistes- und Presselandschaft, der Westen sei zwar frei, aber alles sei relativ, man sei offen, aber leer.“
Die Vorstellung, dass die Bundesrepublik, der Westen dekadent und gelenkt sei und darin inzwischen wieder der späten DDR ähnele, ist ein bekannter Topos, wie auch die Idee eines „tiefen Staates“. So was ist häufig zu hören im Pegida-Umfeld. Oder jedenfalls in Milieus, denen es leichter fällt zu glauben, dass „der Mainstream“ von finsteren Mächten gesteuert wird, als zu erkennen, dass es auch in pluralen Gesellschaften Konzentrationseffekte gibt. Was ja, streng genommen, viel unmittelbarer kritikwürdig ist, als numinose, ungreifbare Mächte im Hintergrund.
Man könnte nun argumentieren, dass sich Tellkamp mit der Verschlüsselung seiner Figuren und Mehrfachcodierung seiner Motive gegen Diskussionen absichert. Oder man könnte sagen: Indem er politische „Narrative“ anprangert, mache er sich gebundene Erzählungen auch für seinen Roman verdächtig und unmöglich.
Vielleicht ist „Der Schlaf in den Uhren“ aber auch nur ein konfuses Buch: Fabian Hoffmann, im „Turm“ eine Randfigur, ist hier zwar Ich-Erzähler, bleibt aber schemenhaft. Verhandlungen, etwa der Gruppe 20, des Neuen Forums und sich neu gründender Parteien, die schließlich zur Wiedervereinigung führen sollen – eigentlich ein interessantes Thema – sind in Dialogen wiedergegeben, bei denen man nie weiß, wer spricht. Ebenso Situationen der DDR-Verlags- und Literaturszene.
Was für ein Buch so eine Fortschreibung hätte werden können, ahnt man in einer Szene, in der die gewaltlose Erstürmung der Dresdner Stasizentrale jeden Augenblick zu kippen droht. Ohne wissen zu können, was sie tun, handeln sich die Protagonisten in den historischen Moment hinein. Daran hätte man viel zeigen können, aber auch diese Episode endet unvermittelt. Einen gewissen Unterhaltungswert haben Passagen über Nassrasur oder einen Segeltörn, in denen Tellkamp das Manufactum-hafte seiner früheren Prosa zu karikieren scheint. Aber letztlich gibt es keine Motivation, kein Ziel und keinen Drive, der einen zwingen würde, das Buch durchzulesen. Wenn man den Roman nicht einfach als literarisch missglückt weglegen, sondern ernst nehmen möchte, beginnt er etwas Selbstgerechtes auszustrahlen.
Er scheint seinem Leser zu sagen: Wenn du nicht sowieso weißt, wie und warum das alles zusammenhängt, wer wer ist und was hier zitiert wird, hast du es nur nicht verstanden. Eine bekannte Attitüde reaktionärer Ästhetiken. Wobei die Totale hier seltsam beschränkt wirkt: Tellkamps Deutschland der nahen Vergangenheit hat kaum eine Außenwelt. Europa kommt höchstens in Form von Urlaubszielen vor, Russland als blasse Erinnerung. Und Flüchtlinge tauchen wie aus dem Nichts an den Grenzen auf. Einer Leserschaft, die gerade eine Pandemie und einen Krieg erlebt, muss das auffallen. Wenn sie die Geduld aufbringt für dieses Buch.
Gerade weil das zu bezweifeln ist, scheint ein Erfolg wie der des „Turm“ unwahrscheinlich. Es bleibt jedoch richtig, dass Suhrkamp diesen Roman veröffentlicht. Seine Probleme liegen dadurch offen zu Tage, ohne von Cancel-Debatten mythisiert zu werden. Weil das Ganze im Untertitel „Archipelagus 1“ heißt, ist eine weitere Fortsetzung zu erwarten. Die Frage bleibt: Wie konnte aus dem Autor des prätentiösen, aber eben auch sinnlichen, vermittelnden Romans „Der Turm“ der Erschaffer eines so engen Weltbildes werden?
Hier hat sich Tellkamp keinen
Zentimeter von seinen
Einlassungen von 2018 entfernt
Uwe Tellkamp hat zum Roman Pläne seiner fantastischen Welt mit Anteilen von Wirklichkeit gezeichnet. Sie finden sich auf dem Vorsatzblatt
Foto: Tellkamp/Suhrkamp
Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren.
904 Seiten. Suhrkamp 2022. 32 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2022Kälte und Würde
Zweimal Konrad Adenauer: Henry Kissinger würdigt ihn in einem Sachbuch, Uwe Tellkamp in seinem neuen Roman. Die Darstellungen provozieren die Frage: Warum zögern, Adenauer den größten deutschen Staatsmann der letzten zweihundert Jahre zu nennen?
Von Helmuth Kiesel
Die Neuerscheinungen dieses Jahres haben uns zwei bemerkenswerte Adenauer-Porträts gebracht. Das eine findet sich in Henry Kissingers voluminösem Buch "Staatskunst" (Bertelsmann, 602 Seiten), das andere in Uwe Tellkamps noch umfangreicherem Roman "Der Schlaf in den Uhren" (Suhrkamp, 905 Seiten).
Kissingers Buch trägt den Untertitel "Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert". Jede dieser Lektionen widmet sich einer herausragenden politischen Führungspersönlichkeit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die nach der Namensnennung mit einer Art von Devise charakterisiert wird: "Charles de Gaulle: Die Strategie des Willens"; "Richard Nixon: Die Strategie des Gleichgewichts"; "Anwar el-Sadat: Die Strategie der Überwindung"; "Lee Kuan Yew: Die Strategie der Spitzenleistung"; "Margaret Thatcher: Die Strategie der Überzeugung". Die erste Lektion aber heißt: "Konrad Adenauer: Die Strategie der Demut".
Kissinger widmet Adenauer 54 Seiten (de Gaulle 92, Thatcher 87). Sein Porträt beruht auf dem bewussten Miterleben der Geschichte spätestens seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, auf der Basis seiner historischen Forschungen, auf reichlichen diplomatischen Erfahrungen, auf dem Studium von Adenauers Reden sowie biographischer Literatur von anderen (vor allem Charles Williams, 2001, und Hans-Peter Schwarz, 1986/91), nicht zuletzt aber auf etwa zehn Treffen mit Adenauer in den Jahren von 1957 bis 1967. Wie bei den anderen Porträtierten vergegenwärtigt Kissinger Adenauers komplette politische Biographie seit dessen Eintritt in die Kölner Stadtverwaltung im Jahr 1909, schildert die Jahre des "inneren Exils", die sowohl Jahre der Gefährdung als auch der inneren Festigung waren, verfolgt dann Adenauers Wirken nach dem Krieg und hebt die Momente hervor, an denen Adenauer wichtige Weichenstellungen durchsetzte. Seiner Darstellung vorgreifend, umreißt Kissinger Adenauers Leben und Leistung am Ende des ersten Abschnitts auf eine sehr prägnante Weise.
"Als Erwachsener hatte Adenauer die drei Ausgestaltungen des geeinten deutschen Staates nach Bismarck erlebt: das Auftrumpfende unter dem Kaiser, die inneren Unruhen in der Weimarer Republik und das Abenteurertum unter Hitler, das in Selbstzerstörung und Zerfall gipfelte. In seinem Bemühen, seinem Land wieder einen Platz in einer rechtmäßigen Nachkriegsordnung zu verschaffen, sah er sich weltweit einer von den Nationalsozialisten ererbten Feindseligkeit und zu Hause der Orientierungslosigkeit einer Öffentlichkeit gegenüber, die durch die lange Abfolge von Revolution, Weltkrieg, Völkermord, Niederlage, Teilung, Wirtschaftskollaps und Verlust der moralischen Integrität erschöpft war. Er schlug einen zugleich demütigen und wagemutigen Kurs ein: deutsches Unrecht eingestehen; als Strafe die Niederlage und die eigene Ohnmacht akzeptieren, darunter auch die Teilung seines Landes; den Abbau der industriellen Lebensgrundlage als Kriegsreparationen dulden und den Versuch unternehmen, durch Unterordnung eine neue europäische Struktur aufzubauen, innerhalb derer Deutschland ein vertrauenswürdiger Partner werden konnte. Deutschland, so hoffte er, werde ein normales Land werden, allerdings immer, wie ihm bewusst war, mit einer nicht normalen Erinnerungslast."
Was Adenauer zur Neubegründung und Neuausrichtung Deutschlands befähigte, wird von Kissinger im "Schlusswort" über die essenziellen Aspekte der politischen Führung gewissermaßen aufgelistet: religiöse Fundierung; Integrität und Beharrlichkeit; Wertschätzung einsamen Nachdenkens; Gespür für politische Realitäten; Mut, harte Wahrheiten auszusprechen; Bereitschaft und Mut zu einem grundsätzlichen Kurswechsel.
Ein wichtiger Wirkungsfaktor war - Kissinger zufolge - Adenauers persönliche Erscheinung: "Adenauers Autorität entsprang teilweise seiner Persönlichkeit, die Würde und Stärke verband. Sein Gesicht, das teils durch Verletzungen, die er sich bei einem Autounfall mit Anfang vierzig zugezogen hatte, vernarbt war, und sein Verhalten, gleichzeitig höflich und unnahbar, vermittelten eine nur allzu deutliche Botschaft: Man betrat eine Welt, die von Prinzipien gelenkt und gegen Parolen oder Druck immun war. Er sprach ruhig, nutzte nur seine Hände gelegentlich, um etwas zu betonen. Er war immer gut vorbereitet zu Themen der Zeit, sprach aber in meiner Gegenwart nie über sein Privatleben. Und er fragte auch nicht nach meinem - in Anbetracht der Effizienz der deutschen Bürokratie kannte er sicher meine Familiengeschichte und verstand, auf welche Wege uns das Schicksal jeweils geführt hatte."
Das Adenauer-Porträt, das Uwe Tellkamp in seinem Wiedervereinigungsroman "Der Schlaf in den Uhren" entwirft, ist sehr viel kürzer als das von Kissinger und fast ganz auf die persönliche Erscheinung und Form der Machtausübung konzentriert, in dieser Hinsicht aber nicht weniger eindrucksvoll als Kissingers Porträt. Es basiert auf der Lektüre historiographischer Literatur - namentlich wird einmal Hans-Peter Schwarz genannt - und auf dem Studium des Fernseh-Interviews, das Günter Gaus 1965 mit Adenauer führte und das sich Tellkamp auf Youtube ansehen konnte. Die Beschäftigung mit Adenauer ist Teil des Versuchs des Romanerzählers, sich "in den Politik- und also Machtkomplex hineinzuversetzen", der das Schicksal Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte und dessen wichtigster Exponent zweifellos Adenauer war.
Die einleitenden Sätze der Wiedergabe des Interviews mit Gaus erinnern durchaus an Kissingers Porträt, sind aber ganz unabhängig von diesem entstanden: "Adenauer hält die Augen niedergeschlagen, hebt sie zögernd und selten in Richtung des Gesprächspartners, den er, so wirkt es, eher als Stichwortgeber denn als Gesprächspartner sieht, wenn er ihn denn überhaupt sieht, vielleicht ist Gaus durchsichtig, oder er wird es zunehmend, im Jahr 1965, in dem das Interview stattfindet, ist Adenauer neunundachtzig Jahre alt. Doch im Fortgang der Fragen schaut er Gaus häufiger an, strafft sich, scheint die Sache ernst zu nehmen. Die Antworten kommen zögernd, nach Pausen des Nachdenkens, die nicht durch Ähs und Hms unterbrochen sind, gelegentlich durch ein Hüsteln, der Mann sitzt gerade im Sessel, die rechte Hand auf der Armlehne, in der linken wohl einige Papiere, das ist (anfangs) nicht so genau zu erkennen. Dunkler Anzug mit Weste, weißes Hemd, Krawatte."
Das wird eine Seite später weiter ausgeführt, indem zunächst einige der Adenauer-Stereotype aufgerufen werden, die bei Kissinger keine Rolle spielen: "Adenauer der Fuchs, Adenauer der Taktierer, Adenauer, der die Kriegsgefangenen heimholt, Adenauer beim Bocciaspiel in Cadenabbia, Lügenauer, sagte Kurt Schumacher, sein Gegenspieler bei der SPD. Bestimmte Bilder und andere nicht, die Dunkelzonen, in denen er nicht vorkommt, die Flecken, von denen in jenem Interview Gaus einige aufzuhellen versucht, ohne jedoch die Distanz, die Kälte, die der Alte ausstrahlt, durchdringen zu können. Er war weit weg. Wirkte wie zu Besuch, als wäre sein Körper irgendwo festgefroren, nur noch als Hülle herübergeschickt, und damit das Ganze einigermaßen echt wirkte, bewegte sich der Kopf. Der Ring aus Kälte um den alten Mann. Aus einer heute verschollenen Würde aber auch. Hier spielte einer kein Theater. Alle übersteigerten Gesten, alles Schauspielergebaren schienen ihm fremd zu sein."
Adenauers politische Leistung wird von Tellkamp weniger ausführlich gewürdigt als von Kissinger. Aber einen Aspekt, der gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal ist, hebt er unter ausdrücklicher Berufung auf Hans-Peter Schwarz hervor: dass Adenauer außer Hitler der einzige Parteiführer war, "dem das Kunststück gelang, gleichsam aus dem Nichts eine neue schlagkräftige und für viele unwiderstehliche Partei aufzubauen". Man zögert, dies als Anerkennung zu empfinden, auch wenngleich noch betont wird, dass Adenauers Volkspartei "völlig konträr" zur NSDAP war; Vergleiche mit Hitler haben allemal etwas Ehrenrühriges an sich. Und zudem besteht Adenauers überragende Leistung gewiss nicht nur in der Gründung der CDU, sondern in der von Kissinger beschriebenen Neubegründung eines deutschen Staats und in dessen Integration in den Westen. Diese Leistung hat nun seit mehr als siebzig Jahren Bestand, also mehr als zwanzig Jahre länger als Bismarcks kriegerisch zusammengeführtes Reich. Warum zögert man, zu sagen, dass Adenauer der größte deutsche Staatsmann der letzten zweihundert Jahre war? Es wäre interessant zu wissen, wie viele Bismarckplätze und -straßen es gibt - und wie viele Adenauerstraßen und -plätze ihnen gegenüberstehen. Nach Adenauertürmen braucht man erst gar nicht zu suchen!
In seiner Sondierung des Politik- oder Machtkomplexes der Nachkriegszeit bleibt Tellkamps Erzähler nicht bei der Person Adenauers stehen, sondern fasst auch seine Umgebung ins Auge, die Oppositionsführer Schumacher und Wehner, vor allem aber Adenauers "engste Vertraute", Pferdmenges und Globke. Robert Pferdmenges, der engagierte Protestant neben dem engagierten Katholiken, Bankier und Mitglied von gut fünfzig Aufsichtsräten, wird als des Kanzlers "linke Hand" bezeichnet: ein kluger Ratgeber im Hintergrund und Verbindungsmann zur Wirtschaft und zur Partei, zu deren Organisation Adenauer ein eher distanziertes Verhältnis hatte.
Weit interessanter als diese "hellgraue Eminenz" ist für Tellkamps Chronisten der Wendezeit allerdings Hans Globke, von 1933 bis 1945 leitender Beamter im nationalsozialistischen Innenministerium, als welcher er "den offiziellen Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen schrieb" und sie "anwendbar" für die Ausgrenzung und schließlich Eliminierung der deutschen Juden machte. Nach Kriegsende verstand er es, eine Nähe zum Widerstand zu suggerieren. Von 1949 an leitender Beamter im Kanzleramt und Adenauers "rechte Hand", mit großer Verwaltungs- und Politikerfahrung, mit einem phänomenalen Gedächtnis für Personen, "die Spinne, die im Zentrum eines riesigen Netzes hockte und zu der alle Informationen liefen". Man versteht, dass ein solcher Wendehals, Informationensammler und Strippenzieher für jemanden, der die Wiedervereinigung mit - naturgemäß - beschränktem Blickwinkel miterlebt hat und sie nun in größerem Rahmen rekonstruieren möchte, hochgradig interessant sein muss. Er wird unter der Überschrift "Globke, oder: Die Verpuppung" als Beispiel für einen geschichtlich und anthropologisch bemerkenswerten "Gestaltwandel" porträtiert - für eine Persönlichkeitsaufspaltung, die aber einem stets gleichen Inneren entspringen könnte.
Weiter heißt es: "Vielleicht ist sich Globke immer gleich geblieben. Im Grunde: Wo der innerste Globke haust, der die anderen Globkes nach außen schickt wie Wirkungen aus einer Ursache. Aber zunächst ein Ich, das aus zwei Körpern besteht, und der eine davon trägt eine Schuld. So daß [sic! Tellkamp hält am "ß" fest!] der andere, mit dem einen verbunden, versucht, sich von diesem einen zu lösen, den Platz einzunehmen, den der erste Körper einnahm, ihn zu verdrängen, ungeboren zu machen", den Kommentator der Nürnberger Gesetze, der sich aber auch schon aufspaltete, "seinen Bischof, Konrad Graf von Preysing, über die Vorgänge im Ministerium informierte" und mit ihm über die Rettung konvertierter Juden beriet. In einem späteren Kapitel wird ein vergleichbares Verhalten zur Zeit der DDR als "Großes Mantelspiel" beschrieben, weil der betreffende Akteur, der "Buchminister" Samtleben, drei Mäntel zur Verfügung hatte und je nach Anlass wechselte: erstens einen "banalen" Mantel für den Alltag. zweitens einen "Umgangsmantel", in dem er sich auf Kongressen und bei Sitzungen leutselig und verbindlich zeigte, drittens einen "Amtsmantel", in dem Samtleben "plötzlich ein anderer Mensch war", ein "kühl-sachlicher, exakter Mann" und Vorgesetzter. Samtleben ist einer jener "Charakterzwitter", die - dem Roman zufolge - in den Amtsstuben der DDR häufig anzutreffen waren, und die Passagen über das "Große Mantelspiel" gehören zu den satirischen Kabinettstückchen des Romans.
Die Porträts der Politiker und Beamten sind Teile einer größeren Sequenz, zu der auch Porträts von Autoren und Büchern gehören. Besonders eindrucksvoll sind die Abschnitte über die Lektüre von Thomas Manns "Zauberberg" und die subtile Beschreibung der von Mann geleisteten Spracharbeit; frappierend, aber einleuchtend die Ausführungen über den verkappten "Heimatdichter" Thomas Bernhard; anrührend die Bezugnahmen auf den in der DDR verdrängten Uwe Johnson. Tellkamps großer Roman ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Wiedervereinigung, sondern auch mit der Geschichte der Literatur im geteilten Deutschland.
Da Tellkamp mancherorten zu den jüngeren "rechten und rechtsextremen" Autoren gezählt wird, sei eigens angemerkt, dass in seinem Roman neben "Sankt Uwe" natürlich auch "Sankt Ernst" mit Lob bedacht wird, aber nicht etwa für "Kampf als inneres Erlebnis" oder "Totale Mobilmachung", sondern für "Lob der Vokale", ein 1934 publiziertes Glanzstück der Sprachbelauschung und Sprachbeschreibung. Ansonsten sind im "Schlaf in den Uhren" keine Spuren von "neu-rechter" Gesinnung zu finden. Vielleicht resultiert die gängig gewordene Zuordnung dieses Romans zur neu-rechten Literatur nicht aus der Lektüre, sondern daraus, dass Tellkamp es liebt, sächsisch giftelnd an Orten aufzutreten und in Organen zu publizieren, die mit einem entsprechenden Odium behaftet sind. Einige Passagen seines Romans gab er der unter dem ominösen Titel "Tumult" erscheinenden "Vierteljahresschrift für Konsensstörung" zum Vorabdruck.
Helmuth Kiesel, geboren 1947, lehrte Neue deutsche Literatur in Heidelberg.
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Zweimal Konrad Adenauer: Henry Kissinger würdigt ihn in einem Sachbuch, Uwe Tellkamp in seinem neuen Roman. Die Darstellungen provozieren die Frage: Warum zögern, Adenauer den größten deutschen Staatsmann der letzten zweihundert Jahre zu nennen?
Von Helmuth Kiesel
Die Neuerscheinungen dieses Jahres haben uns zwei bemerkenswerte Adenauer-Porträts gebracht. Das eine findet sich in Henry Kissingers voluminösem Buch "Staatskunst" (Bertelsmann, 602 Seiten), das andere in Uwe Tellkamps noch umfangreicherem Roman "Der Schlaf in den Uhren" (Suhrkamp, 905 Seiten).
Kissingers Buch trägt den Untertitel "Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert". Jede dieser Lektionen widmet sich einer herausragenden politischen Führungspersönlichkeit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die nach der Namensnennung mit einer Art von Devise charakterisiert wird: "Charles de Gaulle: Die Strategie des Willens"; "Richard Nixon: Die Strategie des Gleichgewichts"; "Anwar el-Sadat: Die Strategie der Überwindung"; "Lee Kuan Yew: Die Strategie der Spitzenleistung"; "Margaret Thatcher: Die Strategie der Überzeugung". Die erste Lektion aber heißt: "Konrad Adenauer: Die Strategie der Demut".
Kissinger widmet Adenauer 54 Seiten (de Gaulle 92, Thatcher 87). Sein Porträt beruht auf dem bewussten Miterleben der Geschichte spätestens seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, auf der Basis seiner historischen Forschungen, auf reichlichen diplomatischen Erfahrungen, auf dem Studium von Adenauers Reden sowie biographischer Literatur von anderen (vor allem Charles Williams, 2001, und Hans-Peter Schwarz, 1986/91), nicht zuletzt aber auf etwa zehn Treffen mit Adenauer in den Jahren von 1957 bis 1967. Wie bei den anderen Porträtierten vergegenwärtigt Kissinger Adenauers komplette politische Biographie seit dessen Eintritt in die Kölner Stadtverwaltung im Jahr 1909, schildert die Jahre des "inneren Exils", die sowohl Jahre der Gefährdung als auch der inneren Festigung waren, verfolgt dann Adenauers Wirken nach dem Krieg und hebt die Momente hervor, an denen Adenauer wichtige Weichenstellungen durchsetzte. Seiner Darstellung vorgreifend, umreißt Kissinger Adenauers Leben und Leistung am Ende des ersten Abschnitts auf eine sehr prägnante Weise.
"Als Erwachsener hatte Adenauer die drei Ausgestaltungen des geeinten deutschen Staates nach Bismarck erlebt: das Auftrumpfende unter dem Kaiser, die inneren Unruhen in der Weimarer Republik und das Abenteurertum unter Hitler, das in Selbstzerstörung und Zerfall gipfelte. In seinem Bemühen, seinem Land wieder einen Platz in einer rechtmäßigen Nachkriegsordnung zu verschaffen, sah er sich weltweit einer von den Nationalsozialisten ererbten Feindseligkeit und zu Hause der Orientierungslosigkeit einer Öffentlichkeit gegenüber, die durch die lange Abfolge von Revolution, Weltkrieg, Völkermord, Niederlage, Teilung, Wirtschaftskollaps und Verlust der moralischen Integrität erschöpft war. Er schlug einen zugleich demütigen und wagemutigen Kurs ein: deutsches Unrecht eingestehen; als Strafe die Niederlage und die eigene Ohnmacht akzeptieren, darunter auch die Teilung seines Landes; den Abbau der industriellen Lebensgrundlage als Kriegsreparationen dulden und den Versuch unternehmen, durch Unterordnung eine neue europäische Struktur aufzubauen, innerhalb derer Deutschland ein vertrauenswürdiger Partner werden konnte. Deutschland, so hoffte er, werde ein normales Land werden, allerdings immer, wie ihm bewusst war, mit einer nicht normalen Erinnerungslast."
Was Adenauer zur Neubegründung und Neuausrichtung Deutschlands befähigte, wird von Kissinger im "Schlusswort" über die essenziellen Aspekte der politischen Führung gewissermaßen aufgelistet: religiöse Fundierung; Integrität und Beharrlichkeit; Wertschätzung einsamen Nachdenkens; Gespür für politische Realitäten; Mut, harte Wahrheiten auszusprechen; Bereitschaft und Mut zu einem grundsätzlichen Kurswechsel.
Ein wichtiger Wirkungsfaktor war - Kissinger zufolge - Adenauers persönliche Erscheinung: "Adenauers Autorität entsprang teilweise seiner Persönlichkeit, die Würde und Stärke verband. Sein Gesicht, das teils durch Verletzungen, die er sich bei einem Autounfall mit Anfang vierzig zugezogen hatte, vernarbt war, und sein Verhalten, gleichzeitig höflich und unnahbar, vermittelten eine nur allzu deutliche Botschaft: Man betrat eine Welt, die von Prinzipien gelenkt und gegen Parolen oder Druck immun war. Er sprach ruhig, nutzte nur seine Hände gelegentlich, um etwas zu betonen. Er war immer gut vorbereitet zu Themen der Zeit, sprach aber in meiner Gegenwart nie über sein Privatleben. Und er fragte auch nicht nach meinem - in Anbetracht der Effizienz der deutschen Bürokratie kannte er sicher meine Familiengeschichte und verstand, auf welche Wege uns das Schicksal jeweils geführt hatte."
Das Adenauer-Porträt, das Uwe Tellkamp in seinem Wiedervereinigungsroman "Der Schlaf in den Uhren" entwirft, ist sehr viel kürzer als das von Kissinger und fast ganz auf die persönliche Erscheinung und Form der Machtausübung konzentriert, in dieser Hinsicht aber nicht weniger eindrucksvoll als Kissingers Porträt. Es basiert auf der Lektüre historiographischer Literatur - namentlich wird einmal Hans-Peter Schwarz genannt - und auf dem Studium des Fernseh-Interviews, das Günter Gaus 1965 mit Adenauer führte und das sich Tellkamp auf Youtube ansehen konnte. Die Beschäftigung mit Adenauer ist Teil des Versuchs des Romanerzählers, sich "in den Politik- und also Machtkomplex hineinzuversetzen", der das Schicksal Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte und dessen wichtigster Exponent zweifellos Adenauer war.
Die einleitenden Sätze der Wiedergabe des Interviews mit Gaus erinnern durchaus an Kissingers Porträt, sind aber ganz unabhängig von diesem entstanden: "Adenauer hält die Augen niedergeschlagen, hebt sie zögernd und selten in Richtung des Gesprächspartners, den er, so wirkt es, eher als Stichwortgeber denn als Gesprächspartner sieht, wenn er ihn denn überhaupt sieht, vielleicht ist Gaus durchsichtig, oder er wird es zunehmend, im Jahr 1965, in dem das Interview stattfindet, ist Adenauer neunundachtzig Jahre alt. Doch im Fortgang der Fragen schaut er Gaus häufiger an, strafft sich, scheint die Sache ernst zu nehmen. Die Antworten kommen zögernd, nach Pausen des Nachdenkens, die nicht durch Ähs und Hms unterbrochen sind, gelegentlich durch ein Hüsteln, der Mann sitzt gerade im Sessel, die rechte Hand auf der Armlehne, in der linken wohl einige Papiere, das ist (anfangs) nicht so genau zu erkennen. Dunkler Anzug mit Weste, weißes Hemd, Krawatte."
Das wird eine Seite später weiter ausgeführt, indem zunächst einige der Adenauer-Stereotype aufgerufen werden, die bei Kissinger keine Rolle spielen: "Adenauer der Fuchs, Adenauer der Taktierer, Adenauer, der die Kriegsgefangenen heimholt, Adenauer beim Bocciaspiel in Cadenabbia, Lügenauer, sagte Kurt Schumacher, sein Gegenspieler bei der SPD. Bestimmte Bilder und andere nicht, die Dunkelzonen, in denen er nicht vorkommt, die Flecken, von denen in jenem Interview Gaus einige aufzuhellen versucht, ohne jedoch die Distanz, die Kälte, die der Alte ausstrahlt, durchdringen zu können. Er war weit weg. Wirkte wie zu Besuch, als wäre sein Körper irgendwo festgefroren, nur noch als Hülle herübergeschickt, und damit das Ganze einigermaßen echt wirkte, bewegte sich der Kopf. Der Ring aus Kälte um den alten Mann. Aus einer heute verschollenen Würde aber auch. Hier spielte einer kein Theater. Alle übersteigerten Gesten, alles Schauspielergebaren schienen ihm fremd zu sein."
Adenauers politische Leistung wird von Tellkamp weniger ausführlich gewürdigt als von Kissinger. Aber einen Aspekt, der gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal ist, hebt er unter ausdrücklicher Berufung auf Hans-Peter Schwarz hervor: dass Adenauer außer Hitler der einzige Parteiführer war, "dem das Kunststück gelang, gleichsam aus dem Nichts eine neue schlagkräftige und für viele unwiderstehliche Partei aufzubauen". Man zögert, dies als Anerkennung zu empfinden, auch wenngleich noch betont wird, dass Adenauers Volkspartei "völlig konträr" zur NSDAP war; Vergleiche mit Hitler haben allemal etwas Ehrenrühriges an sich. Und zudem besteht Adenauers überragende Leistung gewiss nicht nur in der Gründung der CDU, sondern in der von Kissinger beschriebenen Neubegründung eines deutschen Staats und in dessen Integration in den Westen. Diese Leistung hat nun seit mehr als siebzig Jahren Bestand, also mehr als zwanzig Jahre länger als Bismarcks kriegerisch zusammengeführtes Reich. Warum zögert man, zu sagen, dass Adenauer der größte deutsche Staatsmann der letzten zweihundert Jahre war? Es wäre interessant zu wissen, wie viele Bismarckplätze und -straßen es gibt - und wie viele Adenauerstraßen und -plätze ihnen gegenüberstehen. Nach Adenauertürmen braucht man erst gar nicht zu suchen!
In seiner Sondierung des Politik- oder Machtkomplexes der Nachkriegszeit bleibt Tellkamps Erzähler nicht bei der Person Adenauers stehen, sondern fasst auch seine Umgebung ins Auge, die Oppositionsführer Schumacher und Wehner, vor allem aber Adenauers "engste Vertraute", Pferdmenges und Globke. Robert Pferdmenges, der engagierte Protestant neben dem engagierten Katholiken, Bankier und Mitglied von gut fünfzig Aufsichtsräten, wird als des Kanzlers "linke Hand" bezeichnet: ein kluger Ratgeber im Hintergrund und Verbindungsmann zur Wirtschaft und zur Partei, zu deren Organisation Adenauer ein eher distanziertes Verhältnis hatte.
Weit interessanter als diese "hellgraue Eminenz" ist für Tellkamps Chronisten der Wendezeit allerdings Hans Globke, von 1933 bis 1945 leitender Beamter im nationalsozialistischen Innenministerium, als welcher er "den offiziellen Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen schrieb" und sie "anwendbar" für die Ausgrenzung und schließlich Eliminierung der deutschen Juden machte. Nach Kriegsende verstand er es, eine Nähe zum Widerstand zu suggerieren. Von 1949 an leitender Beamter im Kanzleramt und Adenauers "rechte Hand", mit großer Verwaltungs- und Politikerfahrung, mit einem phänomenalen Gedächtnis für Personen, "die Spinne, die im Zentrum eines riesigen Netzes hockte und zu der alle Informationen liefen". Man versteht, dass ein solcher Wendehals, Informationensammler und Strippenzieher für jemanden, der die Wiedervereinigung mit - naturgemäß - beschränktem Blickwinkel miterlebt hat und sie nun in größerem Rahmen rekonstruieren möchte, hochgradig interessant sein muss. Er wird unter der Überschrift "Globke, oder: Die Verpuppung" als Beispiel für einen geschichtlich und anthropologisch bemerkenswerten "Gestaltwandel" porträtiert - für eine Persönlichkeitsaufspaltung, die aber einem stets gleichen Inneren entspringen könnte.
Weiter heißt es: "Vielleicht ist sich Globke immer gleich geblieben. Im Grunde: Wo der innerste Globke haust, der die anderen Globkes nach außen schickt wie Wirkungen aus einer Ursache. Aber zunächst ein Ich, das aus zwei Körpern besteht, und der eine davon trägt eine Schuld. So daß [sic! Tellkamp hält am "ß" fest!] der andere, mit dem einen verbunden, versucht, sich von diesem einen zu lösen, den Platz einzunehmen, den der erste Körper einnahm, ihn zu verdrängen, ungeboren zu machen", den Kommentator der Nürnberger Gesetze, der sich aber auch schon aufspaltete, "seinen Bischof, Konrad Graf von Preysing, über die Vorgänge im Ministerium informierte" und mit ihm über die Rettung konvertierter Juden beriet. In einem späteren Kapitel wird ein vergleichbares Verhalten zur Zeit der DDR als "Großes Mantelspiel" beschrieben, weil der betreffende Akteur, der "Buchminister" Samtleben, drei Mäntel zur Verfügung hatte und je nach Anlass wechselte: erstens einen "banalen" Mantel für den Alltag. zweitens einen "Umgangsmantel", in dem er sich auf Kongressen und bei Sitzungen leutselig und verbindlich zeigte, drittens einen "Amtsmantel", in dem Samtleben "plötzlich ein anderer Mensch war", ein "kühl-sachlicher, exakter Mann" und Vorgesetzter. Samtleben ist einer jener "Charakterzwitter", die - dem Roman zufolge - in den Amtsstuben der DDR häufig anzutreffen waren, und die Passagen über das "Große Mantelspiel" gehören zu den satirischen Kabinettstückchen des Romans.
Die Porträts der Politiker und Beamten sind Teile einer größeren Sequenz, zu der auch Porträts von Autoren und Büchern gehören. Besonders eindrucksvoll sind die Abschnitte über die Lektüre von Thomas Manns "Zauberberg" und die subtile Beschreibung der von Mann geleisteten Spracharbeit; frappierend, aber einleuchtend die Ausführungen über den verkappten "Heimatdichter" Thomas Bernhard; anrührend die Bezugnahmen auf den in der DDR verdrängten Uwe Johnson. Tellkamps großer Roman ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Wiedervereinigung, sondern auch mit der Geschichte der Literatur im geteilten Deutschland.
Da Tellkamp mancherorten zu den jüngeren "rechten und rechtsextremen" Autoren gezählt wird, sei eigens angemerkt, dass in seinem Roman neben "Sankt Uwe" natürlich auch "Sankt Ernst" mit Lob bedacht wird, aber nicht etwa für "Kampf als inneres Erlebnis" oder "Totale Mobilmachung", sondern für "Lob der Vokale", ein 1934 publiziertes Glanzstück der Sprachbelauschung und Sprachbeschreibung. Ansonsten sind im "Schlaf in den Uhren" keine Spuren von "neu-rechter" Gesinnung zu finden. Vielleicht resultiert die gängig gewordene Zuordnung dieses Romans zur neu-rechten Literatur nicht aus der Lektüre, sondern daraus, dass Tellkamp es liebt, sächsisch giftelnd an Orten aufzutreten und in Organen zu publizieren, die mit einem entsprechenden Odium behaftet sind. Einige Passagen seines Romans gab er der unter dem ominösen Titel "Tumult" erscheinenden "Vierteljahresschrift für Konsensstörung" zum Vorabdruck.
Helmuth Kiesel, geboren 1947, lehrte Neue deutsche Literatur in Heidelberg.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[Der Schlaf der Uhren] ist groß angelegt und tief gedacht und oftmals glänzend in Sprache gesetzt. ... Ein Roman, mit dem man sich nach der ersten Welle von - überwiegend - Brachialkritik sehr genau auseinandersetzen sollte.« Michael Hametner der Freitag 20220525