Engelbert Huber behandelt in seiner Erzählung „Der schmale Grat der Redlichkeit“ einen spannenden Konflikt: Wie verhält sich ein redlicher Mensch im Umfeld eines diktatorischen Regimes? Natürlich träumen naive Menschen davon, wie sie sich heldenhaft dem Zugriff des Unrechtregimes entziehen und ihren
Anstand, ihren Wertekanon und ihre Redlichkeit bewahren. Aber solche Gedankenspiele führen schnell…mehrEngelbert Huber behandelt in seiner Erzählung „Der schmale Grat der Redlichkeit“ einen spannenden Konflikt: Wie verhält sich ein redlicher Mensch im Umfeld eines diktatorischen Regimes? Natürlich träumen naive Menschen davon, wie sie sich heldenhaft dem Zugriff des Unrechtregimes entziehen und ihren Anstand, ihren Wertekanon und ihre Redlichkeit bewahren. Aber solche Gedankenspiele führen schnell in ein beklemmendes Szenario, in eine bestürzende Ausweglosigkeit, in ein konfliktträchtiges Dilemma, wenn der Unrechtsstaat nicht nur auf den moralisch redlichen Helden, sondern auf seine ihm anbefohlenen Menschen zugreift, auf seine Frau, auf seine Kinder. Was tun, wenn die eigene Familie bedroht wird und Nachteile und ungerechte Strafen fürchten muss? Was tun, wenn die eigene Familie in den Konflikt hineingezogen wird?
Passend zum Kafka-Jahr führt der Autor seine Leserinnen und Leser in eine Deutschstunde über „Die Verwandlung“. Der Deutschlehrer Friedrich Hähm ist ein nicht ganz linientreuer, aber couragierter Lehrer, der der Überzeugung ist, er dürfe Kafkas Erzählung wegen ihres literarischen Ranges und ihres künstlerischen Gehalts seinen Schülerinnen und Schülern nicht vorenthalten. Und so wählt er in seiner Abschlussklasse Kafkas „Verwandlung“ als Lektüre und gerät deshalb in das Überwachungs- und Spitzelsystem der ehemaligen DDR. Sein Freund und Kollege Bertolt Kötter wird auf ihn angesetzt; die Stasi möchte wissen, wieso der verdächtige Abweichler die ausweglose und wenig fortschrittsgläubige Erzählkunst Kafkas dem gesamten Spektrum des sozialistischen Literaturkanons vorzieht. So beginnt der Konflikt, den Bertolt Kötter im Folgenden bestreiten muss. Die heftige und nachvollziehbare Empörung des Helden über den unwürdigen Auftrag, den Freund und Kollegen zu bespitzeln, führt zu einer entschlossenen Ablehnung des Auftrages. Aber diese Entschlossenheit wird durch die Drohung mit persönlichen Nachteilen und durch die Andeutung, die Staatsmacht könne auch die Karriere von Frau und Kind behindern und beenden, aufgeweicht.
So findet sich Kötter in dem beschriebenen Konflikt wieder und muss den schmalen „Grat der Redlichkeit“ finden. Der Konflikt führt ihn in die interessante Frage nach der Kafka-Rezeption in der DDR, wo verschiedene Positionen mit Gutachten und Gegengutachten vorgetragen werden. Aber er führt ihn auch in Konstellationen mit doppeltem Boden, wo persönliche und familiäre Bedürfnisse dem öffentlichen und gesellschaftlichen Auftrag gegenüberstehen. Und erst zum Schluss erfährt der mit sich um eine redliche Haltung ringende IM Bertolt Kötter, dass er nicht nur widerwillig als Spitzel eingesetzt war, sondern dass er selbst bespitzelt worden ist. Und er erfährt auch, wer ihn bespitzelt hat.
Wolfgang Lorenz