Ein Mann geht auf seine letzte Reise: Der aus Südtirol stammende Jul bricht auf nach Sizilien, um dort vielleicht das zu finden, was ihn seit dem Tod der Tochter Natalie von seiner Frau Mara und dem gemeinsamen Leben trennt, das von einem Land zwischen zwei Kulturen und Sprachen bestimmt wird.
Fremd in Südtirol: Joseph Zoderer belauscht Zugereiste
Früher schrieb Peter Handke so gute Sätze und Bücher wie noch immer Joseph Zoderer. Die sinnliche Kompaktheit von Handkes Prosa aus der "Stunde der wahren Empfindung", die unmittelbare Glaubwürdigkeit der Sätze, ihre klingenden Melodien - all das, was Handkes Büchern mittlerweile abhanden gekommen ist, hat Zoderer in seinem gerade erschienenen Buch wie selbstverständlich zu bieten: Der Roman "Der Schmerz der Gewöhnung" ist sein ehrgeizigstes und auch bestes Buch - und ein Roman, der auf unterschiedlichen Ebenen des Erlebens und des Erinnerns erzählt wird.
Jul, ein Mann wohl Anfang Sechzig, hat viel verloren und ist nun dabei, auch sein Leben zu verlieren; denn er hat Krebs, unheilbar. Verloren hat er vor Jahren bereits seine Tochter, Natalie, sie ertrank wenige Monate vor ihrem neunten Geburtstag. "Nach Natalies Tod war er ein Zeittöter geworden, langweilte sich nie. Konnte stundenlang in einem Raum hocken, liegen, herumlaufen, er lebte, phantasierte, zerkaute Erinnerungen."
Mit dem Verlust der Tochter ging die Entfremdung von seiner Frau Mara einher, der er, weil sie, als Natalie ertrank, nicht aufgepaßt hatte, insgeheim und vielleicht auch nur unbewußt schuld am Tod der Tochter gibt. Auch Eifersucht spielt in die sich auflösende Beziehung hinein, auf Maras Freund Luca aus alten, schon Achtundsechziger-Zeiten.
Da haben sich auch Jul und Mara kennengelernt, in der Naivität und Absolutheit ihrer politischen Ansprüche, in denen noch nicht zum Ausdruck kam, was sich dann über die Jahre herauszukristallisieren begann: die ethnische Differenz. Denn Jul ist Südtiroler seit Generationen, Maras Eltern aber stammen aus Agrigento, sind Sizilianer und kamen mit den Faschisten nach Südtirol, als es galt, das deutschsprachige Land italienisch zu okkupieren und kulturell zu infiltrieren. Es ist Zoderers Thema seit seinen ersten Büchern - genau vor zwanzig Jahren erschien sein Roman "Die Walsche", der das Problem der ethnischen Fremdheit zwischen Italienern und Südtirolern auf den Punkt brachte.
Was damals fast linear erzählt wurde, steht in Zoderers neuem Roman in einem komplexen Geflecht individueller und genereller Probleme. So folgerichtig wie in der "Walschen", die, weil sie mit einem Italiener verheiratet war, in Südtirol eine Außenseiterin blieb (und deshalb die Sympathie des Erzählers hatte), läßt sich das Fremdheitsthema heute offensichtlich nicht mehr fassen; zu viele Komplexe greifen ineinander.
Da ist zum einen der ethnische Regionalismus, der sich im Zuge eines Zusammenwachsens der europäischen Nationen stärker zum Ausdruck bringt und viel massiver ist als der eher ideologische Nationalismus - Italien ist von diesen Regionalismen besonders betroffen. Da ist zum anderen die Grundierung dieses Regionalismus durch die erzwungene Italienisierung im Faschismus unter Mussolini, die nun, nachdem sie längst verdrängt war, plötzlich wieder zum Thema wird. Und da sind die Erinnerungen an eine einst solidarische Hoffnung, die von den Achtundsechzigern geweckt und verspielt wurde - auch da ein Scheitern.
An diesem Scheitern der Geschichte sind Zoderers Figuren beteiligt: vier Generationen - und die Hoffnung auf die Zukunft wird abgeschnitten durch den Tod Natalies, die ebenjene vierte, die Zukunftsgeneration vertrat. Zoderer schält die historischen, politischen und ethnischen Komplexe ebenso wie die existentiellen Befindlichkeiten und Bezüge seiner Figuren langsam ab. Er schickt Jul auf die Reise - daß Jul krank ist, erfährt der Leser erst gegen Ende des Buches, daß es seine letzte Reise ist, ganz am Schluß.
Jul reist nach Sizilien, besucht in Agrigento, der Heimat seiner Schwiegerfamilie, eine Tante Maras. Die Bilder aus Agrigento sind flacher, gleichsam touristischer als die Erinnerungserzählungen, sollen diese nicht stören, sondern deren Folie sein - Jul will wissen, wie "fremd das Leben eines Menschen aus dieser sonnenöden Tempelstadt im alpenländischen Norden" war, hat aber auch "diese unbefristete Fremdheit im Süden gesucht, um in Maras anderer Heimat zu verschwinden". Einerseits die Verdoppelung des Lebensgefühls, andererseits die Erfahrung von Mangel, und beide gehören zueinander: ethnische Fremdheit und deren Aufhebung in der Familie, die um so geschlossener bei sich selbst bleibt. Jul beschreibt sie, aus der Erinnerung, im Leben der Großeltern, erlebt sie mit im Leben der Eltern, dessen Schema Mara und er durchbrechen, als sie zusammengehen; und er erfährt sie im eigenen Leben: Jul erinnert sich an Auseinandersetzungen mit den Geschwistern Maras: "Er wußte mehr denn je, daß die unsichtbaren Gräben quer durch Freundes- und Familienbande gingen", und spürt ihre Fremdheit daran, daß er die Selbstverständlichkeit ihrer Anwesenheit verliert und meint, sie beschützen zu müssen.
Eindrücklich schildert Zoderer den Streit, in dem die ethnischen Kategorien sich erst langsam verfestigen und dann plötzlich wie Minen explodieren: "Er sah Maras Brüder und ihre Frauen und Kinder als mit Blindheit Geschlagene, die er beschützen mußte. Natürlich sah er auch noch die dunkelgrün gerandeten Kacheln seines Ofens und ihre gelblichgrünen Innenflächen mit den Sprüngen der Jahrhunderte, und er sah auch die von ihm mit risikoreichen Holzschutzsäften getränkte Wandtäfelung, aber sie, diese dunkeläugigen Neffen und Maras kleinwüchsige Brüder mit ihren arabisch klugen Gesichtern, erschienen ihm - nicht weniger als die Mailänder Stadtaugen seiner Schwägerinnen - als eine einzige Manifestation der Nichtzugehörigkeit zu dieser (Südtiroler) Schnee- und Waldbergwelt. Gewiß, wir sind zu selbstverständlich einander durchs Leben begleitende Menschen geworden, dachte er, und plötzlich doch: nein. Er schrie ihnen seine weinselige letzte Wahrheit entgegen: Ihr wißt nicht, daß ich euch schütze, daß ihr unter dem Schirm meines deutschen Namens steht - ihr fühlt euch, wie wenn ihr zu Hause wäret."
Denn sie waren, aber das sagte er ihnen nicht, nicht nur Fremde, sondern auch die Nachkommen der faschistischen Unterdrücker. "Seither litt er unter diesem Alptraum. Er hatte den Faschisten in sich entdeckt, die Intoleranz, die Arroganz eines Rassisten." Die Selbstverständlichkeit des Miteinanders, die sich entwickelt hatte, zerfällt. Eine Welt zerbricht an der Differenz, im persönlichen Bereich wie in den ethnischen Mischungen, es ist wie eine Krankheit, die da plötzlich epidemisch wird.
Joseph Zoderer hat in all seinen Büchern diese Thematik bearbeitet. In "Der Schmerz der Gewöhnung" erzählt er nun die Summe dieser Bearbeitungen: nicht als Erfolg, sondern als kunstvolle Sektion. Schicht um Schicht legt er, am Abend eines Lebens, das sich bemüht hat um die Bekämpfung dieser Epidemie, die Erfahrungen dieses Lebens frei.
Aber sie bleiben individuell, enden mit dem Tod, werden nicht gleichsam genetisch vermittelbar und weitergereicht. Natalie, die Hoffnung auf eine Zukunft, ist tot, ertrunken - wer war schuld? Ja, wer ist eigentlich schuld an dieser Epidemie, die immer wieder ausbricht? Zoderer hat sie aus eigener Erfahrung erzählt. Wir kennen sie aus allen Teilen der Welt. Auch aus uns selbst.
HEINZ LUDWIG ARNOLD
Joseph Zoderer: "Der Schmerz der Gewöhnung". Roman. Carl Hanser Verlag, München 2002. 296 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Früher schrieb Peter Handke so gute Sätze und Bücher wie noch immer Joseph Zoderer." Heinz Ludwig Arnold schämt sich keiner großen Vergleiche und weiß den Ritterschlag auch glaubwürdig zu belegen. Er lobt die "sinnliche Kompaktheit", die "unmittelbare Glaubwürdigkeit" und die "klingenden Melodien" von Zoderers Prosa, die in "Schmerz der Gewöhnung" ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht habe. Die Geschichte um den krebskranken Jul, der sich seit dem Tod der gemeinsamen Tochter Natalie immer weiter von seiner Frau Mara entfernt hat und nun auf seine letzte Reise geht, ist für den Rezensenten Zoderers "ehrgeizigstes und bestes Buch". Das zentrale Thema von Zoderers Schaffen, das Problem der ethnischen Fremdheit zwischen Italienern und Südtirolern, wird hier in einem "komplexen Geflecht" individueller und genereller Konflikte behandelt. "Eindrücklich" schildere der Autor den Prozess, wie Jul langsam die eigenen Vorurteile gegenüber seiner sizilianischen Frau und deren Familie entdeckt und nicht unterdrücken kann. Arnold würdigt die Art und Weise, mit der der Autor Schicht um Schicht die Erfahrungen eines Lebens freilegt, als "kunstvolle Sektion". Ein Buch über das Unverständnis des Fremden, eine Epidemie, die immer wieder ausbricht, in allen Teilen der Welt, aus uns selbst heraus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Joseph Zoderer gehört heute zu den gewiegtesten Erzählern deutscher Sprache. Präzis in den Einzelheiten, baut er in knappen Bögen die komplexe Handlung aus." Beatrice von Matt, NZZ, 03.03.02 "Meisterhaft beherrscht Zoderer den Realismus stimmiger Details. Man sieht, man hört, man schmeckt eine kleine Welt. (...) Wer sich darauf eingelassen hat, der will, von der atmosphärischen Dichte betört, bis zum Schluss nicht aufhören." Ulrich Weinzierl, Die Welt, 2.03.2002 "Die Geschichte, die Josef Zoderer erzählt, ist die Geschichte, die ihn zum Schriftsteller gemacht hat: die Geschichte Südtirols." Samuel Moser, Der Standard, 16.03.02 "In meisterhafter Form lässt er Raum und Zeit in Menschenschicksalen zusammenfliessen." Wirtschaftsblatt, 20.3.2002 "Zoderer versteht es zu fesseln, Gefühle anzudeuten ... "Der Schmerz der Gewöhnung" wirkt beim Lesen wie ein mit größter Sorgfalt geschmiedetes Schmuckstück - gediegen, überlegt, abgewogen." Edith Moroder, Die Zeitung am Sonntag, 31.3.2002 "..literarische Autorität über die Südtirol-Frage" Stephan Hilpold, Tages-Anzeiger, 10.4.02 "Sein Roman (...) nähert sich den Schwierigkeiten der "famosa Heimat" zu seinem Vorteil mit großer Geduld und Genauigkeit." Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung, 1.07.02