Der Roman, der Albert Camus inspirierte, Schriftsteller zu werden. »Ich kenne André de Richaud nicht. Sein schönes Buch werde ich jedoch nie vergessen.« So äußerte sich Albert Camus 1951 zu La douleur, den Roman, der ihn nach eigener Aussage inspirierte, Schriftsteller zu werden. Thérèse Delombre lebt mit ihrem Sohn Georges in einem Dorf in der Provence. Die junge Offizierswitwe leidet unter Einsamkeit und einem sexuellen Begehren, das sie nicht einmal beim Namen nennen kann. Und so konzentriert sie all ihre Aufmerksamkeit auf den kleinen Georges. Als deutsche Kriegsgefangene ins Dorf kommen, wird alles anders. Heimlich beginnt Thérèse ein Verhältnis mit dem schönen Otto Rülf. Ihr Sohn begegnet dem Fremden, der Thérèse nach einigen Monaten wieder verlässt, mit Misstrauen und Abneigung. Eine böswillige Nachbarin verrät Thérèse, sie wird von allen geächtet. Und sie ist schwanger.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2019Das Dorf sieht ganz genau, wen Sie lieben, Madame!
Mit seinem Roman "Der Schmerz" gelang André de Richaud 1931 ein fulminantes Buch, das schonungslos von einer Jugend in der Provence erzählt. Jetzt erscheint es zum ersten Mal auf Deutsch.
Louis-Ferdinand Célines 1932 erschienener Roman "Reise ans Ende der Nacht" beginnt mit Episoden aus dem Ersten Weltkrieg: Nach einer Gefechtsszene auf offener Straße, in der er wie auf einem Schützenstand beschossen wird, jagt man den traumatisierten Helden Bardamu als Kundschafter los. Barbagny bekommt er jedoch nie zu Gesicht und in Noirceur-sur-la-Lys kann er nichts entdecken: Sein nächtliches Umherirren illustriert die Absurdität des organisierten Schlachtens. Zeitgleich, aber auf ganz andere Weise, führt André de Richaud in "Der Schmerz" (1931) die Sinnlosigkeit des Krieges und seiner patriotischen Begleiterscheinungen vor Augen. Um das Kampfgeschehen geht es nur indirekt, dennoch bestimmt es Handeln und Denken aller Figuren.
Im Zentrum des Geschehens stehen Thérèse Delombre und ihr Sohn Georges, genannt Georget. Die Mutter ist knapp 35 Jahre alt, als ihr Mann, der Hauptmann Delombre, im Juni 1915 fällt. Die bürgerlich gewordene Bäuerin wendet sich ihrem dünnen, blassen Sohn zu, der erst zehn Jahre alt ist, aber unter der erdrückenden Liebe seiner Mutter eine "ausgeprägte und hungrige Empfindsamkeit" entwickelt. Eifersüchtig wacht sie über ihn, unterbindet die neugierigen Spiele, die er mit Lucette und Olga, dem Flüchtlingsmädchen, das die beiden eine Zeitlang beherbergen, spielt. Sie klagt Olga sogar des Diebstahls an, um ihren Sohn für sich zu haben: "In der Sonne, die immer brennender wurde, verdorrte sie vor Leidenschaft." Das Begehren, das einen Ausweg sucht: Dies ist die erste Bedeutung des Schmerzes, den der Titel nennt.
Die anderen Bedeutungen entwickeln sich, als das Begehren den Ausweg findet: Die Witwe lernt Otto Rülf kennen, einen jungen und schönen Kriegsgefangenen, der sich trotz des Altersunterschieds auf ein Verhältnis mit ihr einlässt. Das Skandalpotential ist enorm: Die Handlung spielt in Althen-des-Paluds, einem Dorf in der Provence, und die Landbevölkerung sieht uneheliche Verhältnisse nicht gern - mit dem Feind schon gar nicht. Georget wird zum Zeugen der abendlichen Treffen, an denen er leidet. Seine erste Beichte macht ihn zum unfreiwilligen Verräter, denn Madame Gardet - "Ihre zwei faulen Zähne verpesteten ihren Atem und jedes einzelne Wort, das sie sprach" - hört mehr oder weniger zufällig mit. Die neidische Klatschbase freut sich, eine Dame der Rache des Dorfes auszuliefern. Hier gewinnt der Schmerz seine öffentliche Dimension, bevor er in eine häusliche Katastrophe mündet.
André de Richaud (1907 bis 1968) schildert das Landleben auf so poetische wie unerbittliche Weise. Er wuchs selbst in Althen-des-Paluds auf, bevor er Philosophielehrer und Schriftsteller wurde. Richaut ist einer der etwas verruchten Autoren der ersten Jahrhunderthälfte; er begeisterte zwar Saint-Germain-des-Prés und Albert Camus, geriet freilich schon zu Lebzeiten in Vergessenheit und musste sich 1965 mit "Je ne suis pas mort" ("Ich bin nicht tot") vehement in Erinnerung rufen. Sein Roman "Der Schmerz", der nun erstmals und elegant ins Deutsche übertragene wird, ist jedenfalls eine Entdeckung, schon des kühlen Blicks wegen.
Das entfaltete Panorama ist dabei nicht zeitlos, sondern klar historisch situiert: "Im August 1914 hatten die Männer plötzlich von ihren Frauen und Kindern Abschied genommen, um sich, vom Feuer angezogen, in einem kleinen Winkel Frankreichs zu versammeln, und die Frauen waren hiergeblieben, frei, allein mit den Kindern und dem Vieh." Der Krieg ist omnipräsent, sei es durch die Nachrichten, sei es durch die Bilder der Illustrierten, "in denen Grün (für die Uniformen der Boches) und Rot (für das Blut aller) vorherrschten", sei es durch die Rüstungsfabrik, die nachts den Horizont erleuchtet. Auch die örtliche Verankerung wird durch lokale Sitten und sprachliche Übernahmen markiert. Die Dorfbewohner schildert Richaud ohne Sympathie; neben Madame Gardet spießt er vor allem den Religionslehrer Vater Melun auf. Das Porträt des hygienisch nachlässigen Royalisten ist erbaulich, und als er dem Winter zum Opfer fällt, wird es geradezu grotesk: "Die Schlafzimmertür war angelehnt; im Bett lag Vater Melun in vor Schmutz grauen Laken und mit einem langen gefrorenen Rotzfaden, hart wie Bernstein, an der Nasenspitze."
Dem Genre nach ist "Der Schmerz" allerdings weder ein ländliches Sittenporträt noch eine Kriegsgeschichte aus dem Hinterland. Richaud konzentriert sich auf seine zwei Hauptfiguren, welche den Schatten im Namen tragen. Anschaulich arbeitet er ihre Not heraus: Die Einsamkeit und sinnliche Leere einer Frau in der Midlife-Crisis schildert er so detailliert wie neutral. Der Schwerpunkt des Doppelportraits liegt bei Georget, einem Alter Ego des Autors: Der Roman zeichnet facettenreich nach, wie exzessive Mutterliebe seine Psyche destabilisiert. Teil des Skandals, den der Roman 1930 auslöste, als Richaud ihn für den Prix du premier roman der "Revue hebdomadaire" einreichte, dürfte gewesen sein, dass der Abweg des Sohnes nicht nur in latenter inzestuöser Liebe, sondern auch in einer Hinwendung zur Religion besteht, die - Flaubert und Zola haben es vorgemacht - eine objektlos gewordene erotische Energie dankbar aufnimmt.
Richaud weigert sich jedoch zumindest vordergründig, in die Fußstapfen des etablierten Romans zu treten: "Ein Autor von Romanen sähe sich hier bemüßigt, das Kind ganz allmählich zur Erkenntnis zu führen. Aber nein, das Leben führt jäh Vorfälle herbei, die sich bündeln wie Lichtstrahlen und das empfängliche Herz durchbohren und bluten lassen." Die Kritik an Gattung und Lesererwartung ist ein Echo der Krise des Romans, die in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts diagnostiziert wurde. Richauds Beitrag ist, die Psyche ohne politische oder literarische Rücksicht zu zerlegen - und das in einem frischen, frechen, freien Ton, der dem Bildersturm erst sein Moment verleiht. Unter den wiederentdeckten Autoren der zwanziger und dreißiger Jahre wie Emmanuel Bove und Irène Némirovsky hat André de Richaud einen Platz verdient.
NIKLAS BENDER
André de Richaud: "Der Schmerz". Roman.
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Sophie I. Nieder. Dörlemann Verlag, Zürich 2019. 244 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit seinem Roman "Der Schmerz" gelang André de Richaud 1931 ein fulminantes Buch, das schonungslos von einer Jugend in der Provence erzählt. Jetzt erscheint es zum ersten Mal auf Deutsch.
Louis-Ferdinand Célines 1932 erschienener Roman "Reise ans Ende der Nacht" beginnt mit Episoden aus dem Ersten Weltkrieg: Nach einer Gefechtsszene auf offener Straße, in der er wie auf einem Schützenstand beschossen wird, jagt man den traumatisierten Helden Bardamu als Kundschafter los. Barbagny bekommt er jedoch nie zu Gesicht und in Noirceur-sur-la-Lys kann er nichts entdecken: Sein nächtliches Umherirren illustriert die Absurdität des organisierten Schlachtens. Zeitgleich, aber auf ganz andere Weise, führt André de Richaud in "Der Schmerz" (1931) die Sinnlosigkeit des Krieges und seiner patriotischen Begleiterscheinungen vor Augen. Um das Kampfgeschehen geht es nur indirekt, dennoch bestimmt es Handeln und Denken aller Figuren.
Im Zentrum des Geschehens stehen Thérèse Delombre und ihr Sohn Georges, genannt Georget. Die Mutter ist knapp 35 Jahre alt, als ihr Mann, der Hauptmann Delombre, im Juni 1915 fällt. Die bürgerlich gewordene Bäuerin wendet sich ihrem dünnen, blassen Sohn zu, der erst zehn Jahre alt ist, aber unter der erdrückenden Liebe seiner Mutter eine "ausgeprägte und hungrige Empfindsamkeit" entwickelt. Eifersüchtig wacht sie über ihn, unterbindet die neugierigen Spiele, die er mit Lucette und Olga, dem Flüchtlingsmädchen, das die beiden eine Zeitlang beherbergen, spielt. Sie klagt Olga sogar des Diebstahls an, um ihren Sohn für sich zu haben: "In der Sonne, die immer brennender wurde, verdorrte sie vor Leidenschaft." Das Begehren, das einen Ausweg sucht: Dies ist die erste Bedeutung des Schmerzes, den der Titel nennt.
Die anderen Bedeutungen entwickeln sich, als das Begehren den Ausweg findet: Die Witwe lernt Otto Rülf kennen, einen jungen und schönen Kriegsgefangenen, der sich trotz des Altersunterschieds auf ein Verhältnis mit ihr einlässt. Das Skandalpotential ist enorm: Die Handlung spielt in Althen-des-Paluds, einem Dorf in der Provence, und die Landbevölkerung sieht uneheliche Verhältnisse nicht gern - mit dem Feind schon gar nicht. Georget wird zum Zeugen der abendlichen Treffen, an denen er leidet. Seine erste Beichte macht ihn zum unfreiwilligen Verräter, denn Madame Gardet - "Ihre zwei faulen Zähne verpesteten ihren Atem und jedes einzelne Wort, das sie sprach" - hört mehr oder weniger zufällig mit. Die neidische Klatschbase freut sich, eine Dame der Rache des Dorfes auszuliefern. Hier gewinnt der Schmerz seine öffentliche Dimension, bevor er in eine häusliche Katastrophe mündet.
André de Richaud (1907 bis 1968) schildert das Landleben auf so poetische wie unerbittliche Weise. Er wuchs selbst in Althen-des-Paluds auf, bevor er Philosophielehrer und Schriftsteller wurde. Richaut ist einer der etwas verruchten Autoren der ersten Jahrhunderthälfte; er begeisterte zwar Saint-Germain-des-Prés und Albert Camus, geriet freilich schon zu Lebzeiten in Vergessenheit und musste sich 1965 mit "Je ne suis pas mort" ("Ich bin nicht tot") vehement in Erinnerung rufen. Sein Roman "Der Schmerz", der nun erstmals und elegant ins Deutsche übertragene wird, ist jedenfalls eine Entdeckung, schon des kühlen Blicks wegen.
Das entfaltete Panorama ist dabei nicht zeitlos, sondern klar historisch situiert: "Im August 1914 hatten die Männer plötzlich von ihren Frauen und Kindern Abschied genommen, um sich, vom Feuer angezogen, in einem kleinen Winkel Frankreichs zu versammeln, und die Frauen waren hiergeblieben, frei, allein mit den Kindern und dem Vieh." Der Krieg ist omnipräsent, sei es durch die Nachrichten, sei es durch die Bilder der Illustrierten, "in denen Grün (für die Uniformen der Boches) und Rot (für das Blut aller) vorherrschten", sei es durch die Rüstungsfabrik, die nachts den Horizont erleuchtet. Auch die örtliche Verankerung wird durch lokale Sitten und sprachliche Übernahmen markiert. Die Dorfbewohner schildert Richaud ohne Sympathie; neben Madame Gardet spießt er vor allem den Religionslehrer Vater Melun auf. Das Porträt des hygienisch nachlässigen Royalisten ist erbaulich, und als er dem Winter zum Opfer fällt, wird es geradezu grotesk: "Die Schlafzimmertür war angelehnt; im Bett lag Vater Melun in vor Schmutz grauen Laken und mit einem langen gefrorenen Rotzfaden, hart wie Bernstein, an der Nasenspitze."
Dem Genre nach ist "Der Schmerz" allerdings weder ein ländliches Sittenporträt noch eine Kriegsgeschichte aus dem Hinterland. Richaud konzentriert sich auf seine zwei Hauptfiguren, welche den Schatten im Namen tragen. Anschaulich arbeitet er ihre Not heraus: Die Einsamkeit und sinnliche Leere einer Frau in der Midlife-Crisis schildert er so detailliert wie neutral. Der Schwerpunkt des Doppelportraits liegt bei Georget, einem Alter Ego des Autors: Der Roman zeichnet facettenreich nach, wie exzessive Mutterliebe seine Psyche destabilisiert. Teil des Skandals, den der Roman 1930 auslöste, als Richaud ihn für den Prix du premier roman der "Revue hebdomadaire" einreichte, dürfte gewesen sein, dass der Abweg des Sohnes nicht nur in latenter inzestuöser Liebe, sondern auch in einer Hinwendung zur Religion besteht, die - Flaubert und Zola haben es vorgemacht - eine objektlos gewordene erotische Energie dankbar aufnimmt.
Richaud weigert sich jedoch zumindest vordergründig, in die Fußstapfen des etablierten Romans zu treten: "Ein Autor von Romanen sähe sich hier bemüßigt, das Kind ganz allmählich zur Erkenntnis zu führen. Aber nein, das Leben führt jäh Vorfälle herbei, die sich bündeln wie Lichtstrahlen und das empfängliche Herz durchbohren und bluten lassen." Die Kritik an Gattung und Lesererwartung ist ein Echo der Krise des Romans, die in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts diagnostiziert wurde. Richauds Beitrag ist, die Psyche ohne politische oder literarische Rücksicht zu zerlegen - und das in einem frischen, frechen, freien Ton, der dem Bildersturm erst sein Moment verleiht. Unter den wiederentdeckten Autoren der zwanziger und dreißiger Jahre wie Emmanuel Bove und Irène Némirovsky hat André de Richaud einen Platz verdient.
NIKLAS BENDER
André de Richaud: "Der Schmerz". Roman.
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Sophie I. Nieder. Dörlemann Verlag, Zürich 2019. 244 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»In der deutschsprachigen Welt ist de Richaud nie angekommen. Die erste Übersetzung liegt erst jetzt vor, und Der Schmerz, von Sophie I. Nieder verführerisch kühl ins Deutsche gebracht, ist eine Entdeckung. Seine Heldin kann es mit einigen der großen, tragischen Frauenfiguren der Literaturgeschichte aufnehmen.« Ulrich Rüdenauer / Der Tagesspiegel »Mit seinem Roman Der Schmerz gelang André de Richaud 1931 ein fulminantes Buch, das schonungslos von einer Jugend in der Provence erzählt. Jetzt erscheint es zum ersten Mal auf Deutsch.« Niklas Bender / Frankfurter Allgemeine Zeitung »Dieses Buch machte Albert Camus zum Schriftsteller. Nun ist André de Richauds eindrucksvoller Roman Der Schmerz ins Deutsche übersetzt: Eine Entdeckung!« Ulrich Rüdenauer / WDR Kultur »Beim Dörlemann Verlag in Zürich ist ein unglaublich feiner und gewichtiger Roman erschienen, er trägt den Titel Der Schmerz, geschrieben hat ihn André de Richaud, und Sie werden dieses Buch niemals mehr vergessen können, weil Sie selten schöner von der Liebe und deren Folgen gelesen haben.« Klaus Schöffling / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung »André de Richauds Blick ist von einer geradezu kühlen, analytischen Kraft ...« Ulrich Rüdenauer / Literaturblatt »De Richauds Der Schmerz ist eine Entdeckung für den deutschsprachigen Raum.« Brigitte Schwens-Harrant, Ex libris / Radio Ö1