Produktdetails
- Verlag: Schiler & Mücke Verlag
- 1998.
- Seitenzahl: 103
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 152g
- ISBN-13: 9783860931189
- ISBN-10: 3860931180
- Artikelnr.: 07620758
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.1998In Warschau gab es nur eine Würstchenbude
Malgorzata Irek reiste mit den polnischen Schmugglern, die ihre Wirtschaft weiterbrachten
Bis vor wenigen Jahren konnte eine Bahnfahrt von Berlin nach Frankfurt an der Oder ein veritables Abenteuer sein. Nicht wegen der Dauer - erst die derzeitigen Streckenarbeiten und Bahnhofsumbauten lassen die Tour zum Vabanquespiel werden -, sondern wegen der Fahrgäste. Besonders freitags waren die Eurocity-Züge nach Warschau restlos überfüllt. Unzählige Polen begaben sich auf die Heimreise, und mit sich führten sie erhebliche Mengen an Gepäck, die bisweilen bis in die Toiletten verstaut wurden. Wir wenigen Deutschen, die einen Schmuggler nicht von einem harmlosen Junggesellen unterscheiden konnten, vermuteten sofort Schwarzhandel, schimpften leise auf die geöffneten Grenzen und schämten uns sofort wieder wegen unserer Vorurteile.
Mit dem Verdacht auf Schmuggelgut hatten wir recht, aber der Umsturz von 1989 wirkte sich nur mittelbar auf den regen Schwarzhandel zwischen Warschau und Berlin aus. Schon vor dem Fall der Mauer hatten findige Polen, die in ihrer Heimat als "Europareisende" betitelt wurden, Handelsrouten ausgekundschaftet, auf denen sie einträgliche Geschäfte machen konnten. Vor allem der Weg über Südosteuropa in die Türkei versprach hohen Gewinn, und auf dem Rückweg schaute man gerne einmal in Berlin vorbei.
Anlaufstationen waren vor allem polnische Aussiedler, die als Deutschstämmige in die geteilte Stadt gekommen waren, Asylanten aus der Zeit des Kriegsrechts und andere regulär eingewanderte Landsleute. Sie konnten als Bürger Berlins die begehrten Einladungen aussprechen, die eine Reise in den Westen ermöglichten. Die ökonomische Abschottung des Ostblocks erlaubte den Comecon-Staaten ein Preisniveau, das beträchtlich unter dem der kapitalistischen Länder lag. Entsprechend niedrig waren aber auch die Einkommen. Mit Schwarzarbeit in Berlin konnte man vierzigmal soviel verdienen wie in Polen, und der Schmuggel erhöhte die Einkünfte abermals. Binnen eines Jahres konnte man sich so ein Haus zusammensparen. Kein Wunder, daß der Zug nach Warschau zu bersten drohte, die Abteile voller Häuslebauer.
Malgorzata Irek hat mehr als sieben Jahre lang, von 1987 bis 1994, regelmäßig Zugreisen zwischen der polnischen Hauptstadt und Berlin unternommen, nicht als Reisende, sondern als Soziologin - ein reichlich rauher Job für eine Frau von sanfter Gemütsart, wie sie es zu sein scheint. Wie sie es aber auch sein muß, denn die "teilnehmende Beobachtung", der sie sich als Arbeitsprinzip verschrieben hat, erfordert vor allem eines: Distanz. Erst der fremde Blick enthüllt das Eigentümliche.
Ihre Beobachtungen, Gespräche und Erkenntnisse hat Irek in einem schmalen Buch versammelt, das den reißerischen Titel "Der Schmugglerzug" trägt. Irek weiß natürlich viel mehr als ein schlichter deutscher Fahrgast. Nicht nur in den Toilettenkabinen, sondern sogar in den Kloschüsseln selbst war Schmuggelware verborgen. Aber ihre Schilderung aus der in jeder Hinsicht verstopften Welt des Eurocity-Zugs nimmt nur den kleinsten Teil des Textes ein. Hauptsächlich widmet sie sich den individuellen Strategien von Polen, die in Berlin ihr Glück gesucht haben.
Neben den Schmugglern sind dies bis heute vor allem die Putzfrauen. Irek hat mehrere im Zug kennengelernt, oft gut ausgebildete Frauen, die in Polen bereits einen hohen Lebensstandard erreicht hatten, dann aber vom Ehrgeiz nach Berlin getrieben wurden. In Warschau konnte man als Daheimgebliebener nach 1989 mit etwas Glück eine Würstchenbude finanzieren, die zahlreichen neuen Läden und Dienstleistungsfirmen sind dagegen häufig mit Kapital errichtet worden, das auf Reisen in den Westen akkumuliert wurde. Mit ihren Einnahmen finanzierten die Putzfrauen eigene Unternehmen, die Ausbildung ihrer Kinder oder Immobiliengeschäfte. Aus dem Aufeinandertreffen dieser ambitionierten Frauen mit ihren deutschen Arbeitgebern gewinnt das Buch einige seiner skurrilsten Momente. Wohlmeinende Deutsche schenken ihren Putzhilfen bunte T-Shirts oder alte Elektrogeräte, obwohl in deren polnischen Villen teure Seidenblusen und moderne Technik auf die Eigentümerinnen warten. Die polnische Höflichkeit verlangt jedoch die freudige Annahme von Geschenken, um den Geber nicht zu beleidigen.
Ireks lakonische Schilderungen über den häufigen sexuellen Mißbrauch der Polinnen in Berlin, über die wechselseitigen Vorurteile und die planmäßig von den Putzfrauen verfolgten Eheschließungen mit Deutschen zeigen nie zuviel Teilnahme am Schicksal der "Objekte". Bezeichnend und beruhigend, daß die Autorin bereits bei ihrem ersten Versuch, sich selbst als Putzfrau auszugeben, um die Kontaktaufnahme zu erleichtern, entlarvt wurde, weil sie ein gängiges Scheuerpulver nicht kannte. Andere Aspekte hätten sehr wohl einen genaueren Blick verdient. Die These etwa, vor 1989 hätten die polnischen Putzfrauen in West-Berlin ein Monopol besessen, das dann von den ostdeutschen Haushaltshilfen kurzfristig gefährdet worden sei, ist nur schwer nachzuvollziehen, wenn man sich erinnert, wie viele Ost-Berliner Rentnerinnen im Westteil der Stadt schwarzarbeiteten.
Das Buch ist trotzdem bewundernswert, weil man den Eindruck erhält, eine fremde Welt bespitzeln zu können, ohne daß Sensationen oder Geheimnisse ausgeplaudert werden müßten. Im Zug und auch in den Dienstverhältnissen in Berlin herrschte für die polnischen "Reisenden" eine verkehrte Normalität, deren Regeln man sich schnell anzupassen wußte. Wenn ein Zöllner das obligate Bestechungsgeld nicht nehmen wollte, bat man ihn, einen willigen Kollegen zu schicken. Es spricht für den polnischen Pragmatismus, daß dieser Wunsch erfüllt wurde. Der erste Zöllner blieb ehrlich, der zweite reich, der Schmuggler im Besitz seiner Ware. ANDREAS PLATTHAUS
Malgorzata Irek: "Der Schmugglerzug". Warschau - Berlin - Warschau. Materialien einer Feldforschung. Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1998. 103 S., br., 24,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Malgorzata Irek reiste mit den polnischen Schmugglern, die ihre Wirtschaft weiterbrachten
Bis vor wenigen Jahren konnte eine Bahnfahrt von Berlin nach Frankfurt an der Oder ein veritables Abenteuer sein. Nicht wegen der Dauer - erst die derzeitigen Streckenarbeiten und Bahnhofsumbauten lassen die Tour zum Vabanquespiel werden -, sondern wegen der Fahrgäste. Besonders freitags waren die Eurocity-Züge nach Warschau restlos überfüllt. Unzählige Polen begaben sich auf die Heimreise, und mit sich führten sie erhebliche Mengen an Gepäck, die bisweilen bis in die Toiletten verstaut wurden. Wir wenigen Deutschen, die einen Schmuggler nicht von einem harmlosen Junggesellen unterscheiden konnten, vermuteten sofort Schwarzhandel, schimpften leise auf die geöffneten Grenzen und schämten uns sofort wieder wegen unserer Vorurteile.
Mit dem Verdacht auf Schmuggelgut hatten wir recht, aber der Umsturz von 1989 wirkte sich nur mittelbar auf den regen Schwarzhandel zwischen Warschau und Berlin aus. Schon vor dem Fall der Mauer hatten findige Polen, die in ihrer Heimat als "Europareisende" betitelt wurden, Handelsrouten ausgekundschaftet, auf denen sie einträgliche Geschäfte machen konnten. Vor allem der Weg über Südosteuropa in die Türkei versprach hohen Gewinn, und auf dem Rückweg schaute man gerne einmal in Berlin vorbei.
Anlaufstationen waren vor allem polnische Aussiedler, die als Deutschstämmige in die geteilte Stadt gekommen waren, Asylanten aus der Zeit des Kriegsrechts und andere regulär eingewanderte Landsleute. Sie konnten als Bürger Berlins die begehrten Einladungen aussprechen, die eine Reise in den Westen ermöglichten. Die ökonomische Abschottung des Ostblocks erlaubte den Comecon-Staaten ein Preisniveau, das beträchtlich unter dem der kapitalistischen Länder lag. Entsprechend niedrig waren aber auch die Einkommen. Mit Schwarzarbeit in Berlin konnte man vierzigmal soviel verdienen wie in Polen, und der Schmuggel erhöhte die Einkünfte abermals. Binnen eines Jahres konnte man sich so ein Haus zusammensparen. Kein Wunder, daß der Zug nach Warschau zu bersten drohte, die Abteile voller Häuslebauer.
Malgorzata Irek hat mehr als sieben Jahre lang, von 1987 bis 1994, regelmäßig Zugreisen zwischen der polnischen Hauptstadt und Berlin unternommen, nicht als Reisende, sondern als Soziologin - ein reichlich rauher Job für eine Frau von sanfter Gemütsart, wie sie es zu sein scheint. Wie sie es aber auch sein muß, denn die "teilnehmende Beobachtung", der sie sich als Arbeitsprinzip verschrieben hat, erfordert vor allem eines: Distanz. Erst der fremde Blick enthüllt das Eigentümliche.
Ihre Beobachtungen, Gespräche und Erkenntnisse hat Irek in einem schmalen Buch versammelt, das den reißerischen Titel "Der Schmugglerzug" trägt. Irek weiß natürlich viel mehr als ein schlichter deutscher Fahrgast. Nicht nur in den Toilettenkabinen, sondern sogar in den Kloschüsseln selbst war Schmuggelware verborgen. Aber ihre Schilderung aus der in jeder Hinsicht verstopften Welt des Eurocity-Zugs nimmt nur den kleinsten Teil des Textes ein. Hauptsächlich widmet sie sich den individuellen Strategien von Polen, die in Berlin ihr Glück gesucht haben.
Neben den Schmugglern sind dies bis heute vor allem die Putzfrauen. Irek hat mehrere im Zug kennengelernt, oft gut ausgebildete Frauen, die in Polen bereits einen hohen Lebensstandard erreicht hatten, dann aber vom Ehrgeiz nach Berlin getrieben wurden. In Warschau konnte man als Daheimgebliebener nach 1989 mit etwas Glück eine Würstchenbude finanzieren, die zahlreichen neuen Läden und Dienstleistungsfirmen sind dagegen häufig mit Kapital errichtet worden, das auf Reisen in den Westen akkumuliert wurde. Mit ihren Einnahmen finanzierten die Putzfrauen eigene Unternehmen, die Ausbildung ihrer Kinder oder Immobiliengeschäfte. Aus dem Aufeinandertreffen dieser ambitionierten Frauen mit ihren deutschen Arbeitgebern gewinnt das Buch einige seiner skurrilsten Momente. Wohlmeinende Deutsche schenken ihren Putzhilfen bunte T-Shirts oder alte Elektrogeräte, obwohl in deren polnischen Villen teure Seidenblusen und moderne Technik auf die Eigentümerinnen warten. Die polnische Höflichkeit verlangt jedoch die freudige Annahme von Geschenken, um den Geber nicht zu beleidigen.
Ireks lakonische Schilderungen über den häufigen sexuellen Mißbrauch der Polinnen in Berlin, über die wechselseitigen Vorurteile und die planmäßig von den Putzfrauen verfolgten Eheschließungen mit Deutschen zeigen nie zuviel Teilnahme am Schicksal der "Objekte". Bezeichnend und beruhigend, daß die Autorin bereits bei ihrem ersten Versuch, sich selbst als Putzfrau auszugeben, um die Kontaktaufnahme zu erleichtern, entlarvt wurde, weil sie ein gängiges Scheuerpulver nicht kannte. Andere Aspekte hätten sehr wohl einen genaueren Blick verdient. Die These etwa, vor 1989 hätten die polnischen Putzfrauen in West-Berlin ein Monopol besessen, das dann von den ostdeutschen Haushaltshilfen kurzfristig gefährdet worden sei, ist nur schwer nachzuvollziehen, wenn man sich erinnert, wie viele Ost-Berliner Rentnerinnen im Westteil der Stadt schwarzarbeiteten.
Das Buch ist trotzdem bewundernswert, weil man den Eindruck erhält, eine fremde Welt bespitzeln zu können, ohne daß Sensationen oder Geheimnisse ausgeplaudert werden müßten. Im Zug und auch in den Dienstverhältnissen in Berlin herrschte für die polnischen "Reisenden" eine verkehrte Normalität, deren Regeln man sich schnell anzupassen wußte. Wenn ein Zöllner das obligate Bestechungsgeld nicht nehmen wollte, bat man ihn, einen willigen Kollegen zu schicken. Es spricht für den polnischen Pragmatismus, daß dieser Wunsch erfüllt wurde. Der erste Zöllner blieb ehrlich, der zweite reich, der Schmuggler im Besitz seiner Ware. ANDREAS PLATTHAUS
Malgorzata Irek: "Der Schmugglerzug". Warschau - Berlin - Warschau. Materialien einer Feldforschung. Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1998. 103 S., br., 24,80 DM.
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