Der Roman erzählt die Geschichte von drei Generationen einer deutschen Familie. In ihrem Mittelpunkt steht Edward Callzig, ein junger Zimmermann aus einem Dorf im Hunsrück. Simon Werle entfaltet die Irrungen und Verstrickungen Edwards vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in einem brillanten Erzählstil und einer tief anrührenden Dramaturgie - und entwickelt einen Sog, in dem sich die Erfahrungen von Jugend, Heimat und Herkunft bis ins Innerste verdichten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2003Jenseits des Vokals
Freiwörterkultur: Simon Werle holt die Welt in den Hunsrück
Wenn uns der Schnee der Jahre hat beschneit, / so schmeckt kein Kuß, der Liebe wahres Siegel. / Im grünen Mai grünt nur der bunte Klee": Drei Gedichtverse über eine verschmähte Liebe signalisieren Thema und Variationen eines Romans über schuldlos verfehltes Leben. Den resignativen Barockton schlägt ein Mittvierziger aus dem Saarland an, Simon Werle, inzwischen preisgekrönter Übersetzer vor allem klassischer französischer Theaterstücke. Der Schriftsteller, orts- und menschenkundig, erzählt in seinem Roman "Der Schnee der Jahre" das Schicksal dreier Generationen aus einem Hunsrückdorf, konsequent die Ereignisse der Zeit- mit den Vorfällen der Familiengeschichte verknüpfend.
An Edward Callzig, Sohn einer bigott entrückten Mutter und eines sozialistisch angehauchten Vaters, veranschaulicht er eine heillose Entwicklung aus den ideologischen Zwängen des nationalsozialistischen Vorkriegsdeutschland bis in die liberalen Befreiungsversuche der sich nach und nach festigenden Bundesrepublik. Früh schon verstrickt in Zweifel und Widersprüche, kann sich dieser Edward weder den entnervenden Einwirkungen der Mutter noch den strengen Einflüssen des Vaters entziehen. Dem irrationalen Wunsch der Frömmlerin, ihren Sohn auf dem Gnadenweg zu erwecken, steht die zweckgebundene Erziehungsmethode des Freigeistes entgegen, den Sohn auf vernünftige Weise den Lebensforderungen anzupassen.
Doch Edward kommt nicht dazu, sich rechtzeitig zu entscheiden. Zurückgekehrt von ersten mißlungenen Abenteuern in Köln, zurückgewiesen von einem geliebten Mädchen aus dem Dorf, zurückgeschreckt vom Ehezwist der Eltern, flieht er in den Krieg. Danach findet er, schwer verwundet, keinen Weg in eine ersprießliche Zukunft. Hirnverletzt, hat der im Kopf wandernde Splitter "die dem männlichen Geschlecht angeborene finstere Roheit aufgebrochen und durchlässig gemacht für ein Minimum an Licht und innerer Zartheit". Edward arbeitet als Hilfsarbeiter im Steinbruch, heiratet, zeugt einen Sohn und eine Tochter, die dem irritierten Vater liebevoll zugetan sind, seine Desorientierung in Raum und Zeit am eigenen Leib mitleiden. Obwohl Edward Verdacht schöpft gegen die allseits gepriesene Sinnhaftigkeit des Lebens, wird er nicht zum Missionar, das harmlos gebliebene Selbstvertrauen der Gleichaltrigen zu erschüttern. Dumpf erkennt er gleichwohl seine Nutzlosigkeit, doch es "tröstet ihn der Gedanke, ja der tatsächliche Eindruck, auch das Erringen der Erinnerung sei eine Arbeit, und zwar eine dringliche". Sich mühsam rückbesinnend an die Qualen aller Mitleidenden, die sich in äußersten Notlagen gegenseitig Halt im Leben gaben, quält er sich selbst zu Tode. Beim Erbrechen gegessener Speisen erkennt er sterbend, was er vergebens bei sich behalten möchte: Ausgespien wird nicht nur Halbverdautes, sondern auch nicht ausgeschöpfter Atem und eine Ahnung von etwas Unerbrechbarem. Es ist die immer noch verbliebene Kraft des Menschenmöglichen, die brach in ihm liegenbleibt.
Das Besondere an diesem Roman ist die außerordentliche Anteilnahme des Erzählers am Schicksalsverlauf seiner Figuren. Simon Werle bietet seine Erzählkunst auf, plausibel vorzuführen, wie die kleine Welt einer Familie mitten im Zusammenbruch wertorientierter und sinngebundener Lebensformen trotz unabwendbarer Widrigkeiten zusammenhält. Dabei arbeitet er nicht mit altüblichen Bildern und Vergleichen; er mißtraut den bewährten Metaphern, gebraucht sie stets in neuen Bedeutungen: "Spiegelbilder verpflichten zu nichts. Sie tauchen auf, um spurlos zu verschwinden, als habe es sie nie gegeben. Insofern sind sie das ideale Medium für den Kontakt mit den Toten, die ja ebenfalls so tun, als seien sie nie gewesen."
Der Sohn steht am Grab seines Vaters und trauert. Nichtsdestotrotz zweifelt er an den herkömmlichen Vorstellungen, irgendeinen durch Glauben oder auch Aberglauben erzeugten Kontakt mit den Verstorbenen herstellen zu können - "es könnte dem Grab auch etwas entströmen, das seinen groben Sinnen entgeht und das zum Beispiel ein großer Spiegel einfangen könnte". Der Erzähler greift nicht ein in den Streit, ob nun eine von ihm erfundene Person als Spiegel oder Spiegelbild der Zeit und Gesellschaft oder gar er selbst als Spiegel oder Spiegelbild herhalten könne.
Nicht die überlieferten Klischees vom Dichter als Seher werden bemüht, nicht das prophetische Brimborium des Visionärs beschworen: Simon Werle erzählt, wie die unverbrauchten Aussagen der Poesie selbst den Weg zum Begreifen weisen. Edwards Sohn liest Gedichte aus dem "Kühlpsalter" des Quirinus Kuhlmann, ohne die mathematisch kalkulierten, zahlensymbolisch kokettierenden Welterlösungsphantasien zu verstehen. Doch hält er den Wahnsinn dieser spielerischen Verse für etwas Kostbares, das ihm bisher verschlossen geblieben war, beobachtet lernend sein Nichtverstehen. Der poetische "Un-Sinn" weitet seine Seele, hat sie schließlich geöffnet für das eindringende andere, das Fremde, das Nochnichtseiende. Er stellt Fragen, weiß aber keine Antworten. Wem aber helfe er mit seinem fortgesetzten Denken, fragt ihn die Mutter, "wie wolltest du leben ohne uns? Ohne deine Familie?" Ratlosigkeit und Verwirrung bleiben, Edwards Sohn hat sich zwar nicht verschlossen vor den Verlockungen der Welt, doch erleidet er sie mehr, als er sie genießt. Er wollte weggehen, fliehen, seinen angestammten Lebensraum verlassen. Doch auf dem Weg zur offenen Tür der Welt ist er heimgekehrt.
Werle erzählt, weder begründet noch erklärt er; in seinem Roman erscheinen entworfene Menschenschicksale, ohne daß der Autor den Irr- und Abwegen ihrer Lebensläufe triftige Argumente unterschiebt. Kommentarloses Erzählen entspringt einer festen Absicht, die aber nur im Erzählen selbst ihre Begründung hat. Der Leser spürt die Beziehung, die zwischen dem Erzähler und seinen Figuren besteht; in die Erzählung verflochten, bleibt die Auseinandersetzung mit dem Weltbruch in Edwards und seines Sohnes Kopf dem theoretischen Zugriff diskret entzogen. Das Erzählte ist nicht nacherzählbar: Der Rezensent teilt mit, was ihn als Leser anrührt und bewegt. So verstärkt sich im Fortgang der Lektüre mehr und mehr der Eindruck, als wehre sich der Erzähler selbst mit allen Kräften gegen die unlösbare Konsequenz der Konflikte und versuche inständig, die Katastrophe, die er selbst heraufbeschworen hat, abzuwenden. Für den Autor und seine Personen gilt es, dem Zerfall zu wehren, das Auseinanderbrechen zu verhindern, die im Kern so starke Familie zu retten.
Die Notwendigkeit des Miteinandersprechens entpuppt sich als die Erztugend der Weltoffenheit. Laubner, Edwards Freund, wie er selbst durch Kopfschuß schwer kriegsbeschädigt, überwindet die Folgen seiner Verwundung, indem er von neuem sprechen lernt. Edward nimmt teil an Laubners "Ringen um jeden Vokal, den er aus dem Dunkel des Lallens zur Klarheit erhöht", er begreift, daß aus dem "Artikulieren der Silben eine doppelte Befreiung hervorgeht", Laubners eigene Befreiung aus der Gefahr zu verstummen und die seine aus dem "Wunsch nach Erneuerung der Gemeinschaft mit seiner eigenen Stimme". Aus bombastischem Wirrwarr und grotesken Intonationen läßt der Erzähler eine gravitätische Wortmusik hervorgehen, so daß der Leser sich an die oratorische Stimmenpermutation Hunsrücker Personalpronomen aus dem Film "Heimat" von Edgar Reitz erinnert.
Simon Werle beschwört die menschenfreundliche Lebensart Hunsrücker und saarländischer Prägung, die Weltoffenheit, die aus der Naivität, der Neugier, der Lernbesessenheit kommt. Wenn es zuweilen scheint, als bediene sich der Erzähler einer überanstrengten Sprache, so läßt sich am Gestus dieser Sprache die ganze Beschwernis dessen ablesen, wovon sie erzählt. Der hohe Ton im Gebrauch der Fremdwörter und die pralle Fülle des ländlichen Sprechens: Stets ist es die Körperlichkeit der Wörter, die die erzählten Ereignisse voranbringt, ihre Bewegungen sind die Bewegungen der Vorgänge. In diesem Sinne ist Werles Buch ein wunderbarer Familienroman, in dem sich die linksrheinischen Tugenden der Weltoffenheit auf köstliche Weise entfalten. Der Autor besitzt eine genaue Erzählsprache, die ihre Geschichte treffsicher vermittelt. Sein Sprechen ist das harterrungene Sprechen, dem des Versehrten vergleichbar, der die drohende Gefährdung seines Stammelns überwindet: "All jene, die des Wohllauts der Sprache mächtig waren, wurden ihm, der nun um den Körper jedes einzelnen Worts ringen mußte, nur noch begehrenswerter."
Simon Werle: "Der Schnee der Jahre". Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2003. 448 S., geb., 23,50 [Euro].
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Freiwörterkultur: Simon Werle holt die Welt in den Hunsrück
Wenn uns der Schnee der Jahre hat beschneit, / so schmeckt kein Kuß, der Liebe wahres Siegel. / Im grünen Mai grünt nur der bunte Klee": Drei Gedichtverse über eine verschmähte Liebe signalisieren Thema und Variationen eines Romans über schuldlos verfehltes Leben. Den resignativen Barockton schlägt ein Mittvierziger aus dem Saarland an, Simon Werle, inzwischen preisgekrönter Übersetzer vor allem klassischer französischer Theaterstücke. Der Schriftsteller, orts- und menschenkundig, erzählt in seinem Roman "Der Schnee der Jahre" das Schicksal dreier Generationen aus einem Hunsrückdorf, konsequent die Ereignisse der Zeit- mit den Vorfällen der Familiengeschichte verknüpfend.
An Edward Callzig, Sohn einer bigott entrückten Mutter und eines sozialistisch angehauchten Vaters, veranschaulicht er eine heillose Entwicklung aus den ideologischen Zwängen des nationalsozialistischen Vorkriegsdeutschland bis in die liberalen Befreiungsversuche der sich nach und nach festigenden Bundesrepublik. Früh schon verstrickt in Zweifel und Widersprüche, kann sich dieser Edward weder den entnervenden Einwirkungen der Mutter noch den strengen Einflüssen des Vaters entziehen. Dem irrationalen Wunsch der Frömmlerin, ihren Sohn auf dem Gnadenweg zu erwecken, steht die zweckgebundene Erziehungsmethode des Freigeistes entgegen, den Sohn auf vernünftige Weise den Lebensforderungen anzupassen.
Doch Edward kommt nicht dazu, sich rechtzeitig zu entscheiden. Zurückgekehrt von ersten mißlungenen Abenteuern in Köln, zurückgewiesen von einem geliebten Mädchen aus dem Dorf, zurückgeschreckt vom Ehezwist der Eltern, flieht er in den Krieg. Danach findet er, schwer verwundet, keinen Weg in eine ersprießliche Zukunft. Hirnverletzt, hat der im Kopf wandernde Splitter "die dem männlichen Geschlecht angeborene finstere Roheit aufgebrochen und durchlässig gemacht für ein Minimum an Licht und innerer Zartheit". Edward arbeitet als Hilfsarbeiter im Steinbruch, heiratet, zeugt einen Sohn und eine Tochter, die dem irritierten Vater liebevoll zugetan sind, seine Desorientierung in Raum und Zeit am eigenen Leib mitleiden. Obwohl Edward Verdacht schöpft gegen die allseits gepriesene Sinnhaftigkeit des Lebens, wird er nicht zum Missionar, das harmlos gebliebene Selbstvertrauen der Gleichaltrigen zu erschüttern. Dumpf erkennt er gleichwohl seine Nutzlosigkeit, doch es "tröstet ihn der Gedanke, ja der tatsächliche Eindruck, auch das Erringen der Erinnerung sei eine Arbeit, und zwar eine dringliche". Sich mühsam rückbesinnend an die Qualen aller Mitleidenden, die sich in äußersten Notlagen gegenseitig Halt im Leben gaben, quält er sich selbst zu Tode. Beim Erbrechen gegessener Speisen erkennt er sterbend, was er vergebens bei sich behalten möchte: Ausgespien wird nicht nur Halbverdautes, sondern auch nicht ausgeschöpfter Atem und eine Ahnung von etwas Unerbrechbarem. Es ist die immer noch verbliebene Kraft des Menschenmöglichen, die brach in ihm liegenbleibt.
Das Besondere an diesem Roman ist die außerordentliche Anteilnahme des Erzählers am Schicksalsverlauf seiner Figuren. Simon Werle bietet seine Erzählkunst auf, plausibel vorzuführen, wie die kleine Welt einer Familie mitten im Zusammenbruch wertorientierter und sinngebundener Lebensformen trotz unabwendbarer Widrigkeiten zusammenhält. Dabei arbeitet er nicht mit altüblichen Bildern und Vergleichen; er mißtraut den bewährten Metaphern, gebraucht sie stets in neuen Bedeutungen: "Spiegelbilder verpflichten zu nichts. Sie tauchen auf, um spurlos zu verschwinden, als habe es sie nie gegeben. Insofern sind sie das ideale Medium für den Kontakt mit den Toten, die ja ebenfalls so tun, als seien sie nie gewesen."
Der Sohn steht am Grab seines Vaters und trauert. Nichtsdestotrotz zweifelt er an den herkömmlichen Vorstellungen, irgendeinen durch Glauben oder auch Aberglauben erzeugten Kontakt mit den Verstorbenen herstellen zu können - "es könnte dem Grab auch etwas entströmen, das seinen groben Sinnen entgeht und das zum Beispiel ein großer Spiegel einfangen könnte". Der Erzähler greift nicht ein in den Streit, ob nun eine von ihm erfundene Person als Spiegel oder Spiegelbild der Zeit und Gesellschaft oder gar er selbst als Spiegel oder Spiegelbild herhalten könne.
Nicht die überlieferten Klischees vom Dichter als Seher werden bemüht, nicht das prophetische Brimborium des Visionärs beschworen: Simon Werle erzählt, wie die unverbrauchten Aussagen der Poesie selbst den Weg zum Begreifen weisen. Edwards Sohn liest Gedichte aus dem "Kühlpsalter" des Quirinus Kuhlmann, ohne die mathematisch kalkulierten, zahlensymbolisch kokettierenden Welterlösungsphantasien zu verstehen. Doch hält er den Wahnsinn dieser spielerischen Verse für etwas Kostbares, das ihm bisher verschlossen geblieben war, beobachtet lernend sein Nichtverstehen. Der poetische "Un-Sinn" weitet seine Seele, hat sie schließlich geöffnet für das eindringende andere, das Fremde, das Nochnichtseiende. Er stellt Fragen, weiß aber keine Antworten. Wem aber helfe er mit seinem fortgesetzten Denken, fragt ihn die Mutter, "wie wolltest du leben ohne uns? Ohne deine Familie?" Ratlosigkeit und Verwirrung bleiben, Edwards Sohn hat sich zwar nicht verschlossen vor den Verlockungen der Welt, doch erleidet er sie mehr, als er sie genießt. Er wollte weggehen, fliehen, seinen angestammten Lebensraum verlassen. Doch auf dem Weg zur offenen Tür der Welt ist er heimgekehrt.
Werle erzählt, weder begründet noch erklärt er; in seinem Roman erscheinen entworfene Menschenschicksale, ohne daß der Autor den Irr- und Abwegen ihrer Lebensläufe triftige Argumente unterschiebt. Kommentarloses Erzählen entspringt einer festen Absicht, die aber nur im Erzählen selbst ihre Begründung hat. Der Leser spürt die Beziehung, die zwischen dem Erzähler und seinen Figuren besteht; in die Erzählung verflochten, bleibt die Auseinandersetzung mit dem Weltbruch in Edwards und seines Sohnes Kopf dem theoretischen Zugriff diskret entzogen. Das Erzählte ist nicht nacherzählbar: Der Rezensent teilt mit, was ihn als Leser anrührt und bewegt. So verstärkt sich im Fortgang der Lektüre mehr und mehr der Eindruck, als wehre sich der Erzähler selbst mit allen Kräften gegen die unlösbare Konsequenz der Konflikte und versuche inständig, die Katastrophe, die er selbst heraufbeschworen hat, abzuwenden. Für den Autor und seine Personen gilt es, dem Zerfall zu wehren, das Auseinanderbrechen zu verhindern, die im Kern so starke Familie zu retten.
Die Notwendigkeit des Miteinandersprechens entpuppt sich als die Erztugend der Weltoffenheit. Laubner, Edwards Freund, wie er selbst durch Kopfschuß schwer kriegsbeschädigt, überwindet die Folgen seiner Verwundung, indem er von neuem sprechen lernt. Edward nimmt teil an Laubners "Ringen um jeden Vokal, den er aus dem Dunkel des Lallens zur Klarheit erhöht", er begreift, daß aus dem "Artikulieren der Silben eine doppelte Befreiung hervorgeht", Laubners eigene Befreiung aus der Gefahr zu verstummen und die seine aus dem "Wunsch nach Erneuerung der Gemeinschaft mit seiner eigenen Stimme". Aus bombastischem Wirrwarr und grotesken Intonationen läßt der Erzähler eine gravitätische Wortmusik hervorgehen, so daß der Leser sich an die oratorische Stimmenpermutation Hunsrücker Personalpronomen aus dem Film "Heimat" von Edgar Reitz erinnert.
Simon Werle beschwört die menschenfreundliche Lebensart Hunsrücker und saarländischer Prägung, die Weltoffenheit, die aus der Naivität, der Neugier, der Lernbesessenheit kommt. Wenn es zuweilen scheint, als bediene sich der Erzähler einer überanstrengten Sprache, so läßt sich am Gestus dieser Sprache die ganze Beschwernis dessen ablesen, wovon sie erzählt. Der hohe Ton im Gebrauch der Fremdwörter und die pralle Fülle des ländlichen Sprechens: Stets ist es die Körperlichkeit der Wörter, die die erzählten Ereignisse voranbringt, ihre Bewegungen sind die Bewegungen der Vorgänge. In diesem Sinne ist Werles Buch ein wunderbarer Familienroman, in dem sich die linksrheinischen Tugenden der Weltoffenheit auf köstliche Weise entfalten. Der Autor besitzt eine genaue Erzählsprache, die ihre Geschichte treffsicher vermittelt. Sein Sprechen ist das harterrungene Sprechen, dem des Versehrten vergleichbar, der die drohende Gefährdung seines Stammelns überwindet: "All jene, die des Wohllauts der Sprache mächtig waren, wurden ihm, der nun um den Körper jedes einzelnen Worts ringen mußte, nur noch begehrenswerter."
Simon Werle: "Der Schnee der Jahre". Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2003. 448 S., geb., 23,50 [Euro].
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