Schon seit der Antike wird in der Philosophie, Theologie, Medizin, aber auch in der Rechtswissenschaft über den Status des pränatalen menschlichen Lebens gestritten. Durch jüngere biomedizinische Entwicklungen erhielt diese Debatte abermals kräftigen Auftrieb. Ralf Müller-Terpitz nimmt dies zum Anlaß, erneut der Frage nach dem rechtswissenschaftlichen Status des pränatalen Lebens im nationalen wie internationalen Recht nachzugehen. Er bezieht dabei die Statusdebatten anderer Fachdisziplinen (Naturwissenschaft, Ethik, Theologie) in seine Betrachtung mit ein und untersucht ihre Relevanz für den rechtswissenschaftlichen Diskurs. Seine Analyse beschränkt sich im übrigen nicht nur auf den verfassungsrechtlichen Status des pränatalen Lebens, sondern auch auf seine rechtliche Stellung im Völker- und Gemeinschaftsrecht. Für das nationale Verfassungsrecht kommt der Autor dabei zum Ergebnis, dass der Embryo - sei es in vivo oder in vitro - schon ab der Fertilisation oder einem vergleichbarfrühen Entstehenszeitpunkt (Zellkerntransfer) grundrechtlichen Würde- und Lebensschutz genießt, der auch nicht unter Berufung auf sein noch frühes biologisches Entwicklungsstadium "prozesshaft abgestuft" werden darf. Im Völker- und Gemeinschaftsrecht wird das pränatale Leben zwar als schützenswertes Rechtsgut anerkannt; diese Rechtsordnungen gewähren ihm aber nur einen auf bestimmte Verwendungsverbote reduzierten "angemessenen" (relativen) Überlebensschutz. Abschließend erörtert der Autor die Frage, welche konkreten Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen im Hinblick auf bestimmte biomedizinische Gefährdungstatbestände für das pränatale Leben zu ziehen sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2008Polemik in allen Ehren, aber so einfach geht das nicht
Nichts muss, alles kann: Ralf Müller-Terpitz verwickelt das ungeborene Leben in lebhafte Widersprüche
In der Diskussion über den Status des ungeborenen Lebens verschwimmt häufig die Grenze zwischen moralphilosophischer und rechtlicher Argumentation. Einerseits schmücken die Bioethiker ihre Schriften gern mit autoritätssteigernden Zitaten aus dem Grundgesetz und aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Andererseits geraten die Juristen bei ihren Stellungnahmen unweigerlich auf Fragen, über die die Moralphilosophen länger und tiefer nachgedacht haben: Was ist eine Person, worin gründet ihre Würde und wie weit reichen ihre fundamentalen Rechte?
In dieser Praxis wechselseitiger Bezugnahmen droht die an sich selbstverständliche Einsicht zu kurz zu kommen, dass Verfassungsinterpretation etwas anderes ist als angewandte Moralphilosophie und sie sich deshalb nicht darauf beschränken kann, dem dank des Beistandes der Ethiker für richtig Erkannten den Stempel des verfassungsrechtlich Gebotenen aufzudrücken. Während die Ethik sich allein auf die Autorität der Vernunft berufen kann, geht die rechtswissenschaftliche Analyse, wie Ralf Müller-Terpitz in seiner Habilitationsschrift über den Schutz des pränatalen Lebens hervorhebt, im Regelfall von einem positivierten Rechtssatz aus, der von einer gesetzgebenden Instanz in einer konkreten historischen Situation mit einer bestimmten Intention erlassen wurde. "Diesen Rechtssatz gilt es mit den Mitteln juristischer Hermeneutik zu ergründen."
Der Stichtag ist wurscht.
Das Ergebnis von Müller-Terpitz' fast sechshundertseitiger Ergründungsarbeit besteht in der Verknüpfung einer maximalistischen mit einer minimalistischen Position. Nachdrücklich plädiert er für einen umfassenden Lebens- und Würdeschutz vom Zeitpunkt der Befruchtung an. "De constitutione lata ist pränatales Leben - gleich welcher Entwicklungsstufe - ,fertigem', d.h. geborenem Leben als gleichwertig zu erachten. Es genießt mithin dieselbe Schutzintensität." Weder seine Vernichtung im Zuge verbrauchender Embryonenforschung noch seine Gefährdung, wie sie im Gefolge der Präimplantationsdiagnostik (PID) auftrete, seien deshalb verfassungsrechtlich zulässig. In beiden Fällen eröffne sich vielmehr "nur eine mögliche Option: ihr ausnahmsloses und strafbewehrtes Verbot". Dieser umfassende Schutz soll allerdings nur inländischen Embryonen zugutekommen. Der Schutz von Embryonen, welche außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes erzeugt und verbraucht worden seien, gehöre nicht zum Aufgabenspektrum deutscher Staatsgewalt. Deshalb stehe es dem deutschen Gesetzgeber frei, den Stichtag für den Import von embryonalen Stammzelllinien "zu verschieben, aufzuheben oder ganz auf Importrestriktionen zu verzichten".
Wer den Mut aufbringt, sich mit so ziemlich allen Lagern der bisherigen biomedizinischen Debatte anzulegen und dabei nicht müde wird, seinen Gegnern vorzuwerfen, sie würden lediglich ihr "partikulares, juristisch aber nicht fundiertes Moralverständnis" in positives Recht umzumünzen suchen, der muss gute Gründe für seine Sache haben. Dass es für einen umfassenden Lebens- und Würdeschutz gute Gründe gibt, ist keine neue Einsicht. Robert Spaemann macht seit langem geltend, von Menschenrechten könne überhaupt nur dann die Rede sein, wenn ihre Innehabung nicht von den Vernünftigkeitskriterien anderer Menschen abhänge, sondern sich bereits aus der schlichten Teilhabe ihres Trägers an der menschlichen Natur ergebe.
Für das geborene Leben trifft dieser Befund auf allgemeine Zustimmung. Niemand versagt dem Anenzephalen, dem Altersdementen oder dem irreversibel Komatösen den Lebens- und Würdeschutz. Weshalb sollte es dann im Bereich des ungeborenen Lebens anders sein? Auch Müller-Terpitz bedient sich dieses Arguments. Nur ein streng formales Differenzierungsgebot könne verhindern, "dass vom Norminterpreten an die Voraussetzungen des Lebensschutzes herangetragene und damit menschliches Lebens zwangsläufig bewertende Prädikate in die Zuschreibung des Grundrechts mit einfließen". Ließe man andere Kriterien als das schiere Vorliegen individuellen biologisch-physiologischen Lebens über den Personstatus entscheiden, so erhöbe man die Frage nach der personalen Extension des Lebensrechts und des Würdeanspruchs letztlich zu einer solchen von Macht und Willkür.
Der verfassungshermeneutische Ehrgeiz Müller-Terpitz' ist mit diesem Befund allerdings nicht gestillt. Um nachzuweisen, dass seine Position nicht lediglich eine mögliche, sondern die schlechthin zwingende Verfassungsinterpretation sei, fällt ihm allerdings nichts Besseres ein, als die Nazi-Karte zu ziehen. Nach den millionenfachen Morden an religiösen und ethnischen Minderheiten, Menschen mit mentalen Gebrechen oder divergenten politischen Anschauungen hätten die Autoren des Grundgesetzes aufs deutlichste herausstellen wollen, dass ausnahmslos jedem Menschen ein von den staatlichen Institutionen zu respektierender sozialer Wert- und Achtungsanspruch zukomme. Deshalb beinhalte das Grundgesetz eine Absage gegenüber jedem Versuch, "menschliche Individuen nach externen, d.h. von Dritten vorgegebenen Kriterien zu bewerten und entsprechend in ,lebenswert' bzw. ,lebensunwert' zu kategorisieren".
Die singuläre Konfliktsituation.
Polemik in allen Ehren, aber so einfach geht es nicht. Aus der Erfahrung des Unheils, das die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen Ariern und Juden nach sich gezogen hat, die Schlussfolgerung abzuleiten, dass deshalb auch jede Unterscheidung zwischen Vierzellern und voll entwickelten Menschen von vornherein grundgesetzwidrig sei, tut der Subtilität und Ernsthaftigkeit der heutigen Diskussion Gewalt an. Die von Müller-Terpitz bekämpften Interessentheoretiker mögen Unrecht haben, aber sie, wenn auch nur implizit, in die Tradition der nationalsozialistischen Ausgrenzung "lebensunwerten Lebens" zu stellen ist abwegig.
Im Übrigen bleibt auch Müller-Terpitz selbst seiner rigorosen Ausgangsthese nicht treu. Wer den verfassungsrechtlichen Schutz des werdenden Lebens so weit ausdehnt, wie er es tut, sieht sich unweigerlich mit der Gretchenfrage konfrontiert, wie er es denn mit der Abtreibung halte. Müller-Terpitz' Ausführungen zu dieser Frage sind enttäuschend. Zwar erkennt er, dass es in aller Regel die von einer Person ausgehende Gefahr ist, welche ihre Tötung zur Verteidigung anderer schützenswerter Belange als gerechtfertigt erscheinen lässt. Daraus zieht er aber nicht den sich zwingend aufdrängenden Schluss, ein Embryo, der nichts dafür kann, dass seine Mutter in ihm eine Beeinträchtigung ihrer Lebenspläne erblickt, und der trotzdem getötet werden darf, werde nicht wie eine Person, sondern wie ein Gut behandelt. Vielmehr rettet er sich in die nichtssagende Formel von der "singulären Konfliktsituation" der Schwangeren - eine Formel, die er im Kontext der PID noch mit Verve abgelehnt hat: "Denn das Recht zur autonomen Gestaltung der eigenen Lebenssphäre umschließt nicht die Befugnis, gezielt das Lebensrecht eines anderen Grundrechtssubjekts zu gefährden." Wer wie Müller-Terpitz einerseits für eine strafrechtlich sanktionierte Verpflichtung der Frau plädiert, sich den auf ihren Wunsch hin in vitro erzeugten Embryo implantieren zu lassen, andererseits aber die Abtreibung des so implantierten Embryos unter Berufung auf die "Eigengeartetheit dieses Lebenssachverhalts" gestattet, dessen Konzeption lässt, um das Mindeste zu sagen, Fragen offen.
Kaum weniger anfechtbar ist Müller-Terpitz' zweite These, die rigorose Schutzlosstellung ausländischer Embryonen. Er begründet die Territorialitätsbindung des Grundrechtsschutzes gut hobbesianisch. Der Tausch von staatlich gewährleisteter Sicherheit gegen den Verzicht auf private Eigenmacht könne nur in Bezug auf solche Rechtsträger Wirkung entfalten, die infolge eines Gebietskontakts der deutschen Staatsgewalt auch faktisch unterworfen seien. Zu privater Eigenmacht sind indessen inländische Embryonen ebenso wenig in der Lage wie ausländische. Aus der Begründungslogik der hobbesianischen Verknüpfung von Schutz und Gehorsam ergibt sich das Gegenteil jenes Gedankens, auf den Müller-Terpitz sich bei seinen Ausführungen zum Lebens- und Würdeanspruch von Embryonen berufen hat. Während er dort darauf insistierte, dass es auf die Ungesichertheit der sozialen Stellung eines menschlichen Individuums nicht ankommen dürfe, heißt es jetzt: Schwäche schadet.
Ließe sich die schwierige Frage, wie mit den Früchten vergifteter Bäume umgegangen werden soll, so einfach lösen, wie Müller-Terpitz dies behauptet, bräuchten wir zudem auch keine Skrupel zu haben, uns an den Organen Hingerichteter aus China oder den Aussagen Gefolterter aus Ägypten oder Pakistan zu bedienen. Sieht so eine überzeugende Beachtung der von Müller-Terpitz eingangs beschworenen "methodischen und dogmatischen Eigengesetzlichkeiten" des Verfassungsrechts aus? Nach der Meinung des Rezensenten: Nein.
MICHAEL PAWLIK.
Ralf Müller-Terpitz: "Der Schutz des pränatalen Lebens". Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007. 637 S., geb., 114,- [Euro].
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Nichts muss, alles kann: Ralf Müller-Terpitz verwickelt das ungeborene Leben in lebhafte Widersprüche
In der Diskussion über den Status des ungeborenen Lebens verschwimmt häufig die Grenze zwischen moralphilosophischer und rechtlicher Argumentation. Einerseits schmücken die Bioethiker ihre Schriften gern mit autoritätssteigernden Zitaten aus dem Grundgesetz und aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Andererseits geraten die Juristen bei ihren Stellungnahmen unweigerlich auf Fragen, über die die Moralphilosophen länger und tiefer nachgedacht haben: Was ist eine Person, worin gründet ihre Würde und wie weit reichen ihre fundamentalen Rechte?
In dieser Praxis wechselseitiger Bezugnahmen droht die an sich selbstverständliche Einsicht zu kurz zu kommen, dass Verfassungsinterpretation etwas anderes ist als angewandte Moralphilosophie und sie sich deshalb nicht darauf beschränken kann, dem dank des Beistandes der Ethiker für richtig Erkannten den Stempel des verfassungsrechtlich Gebotenen aufzudrücken. Während die Ethik sich allein auf die Autorität der Vernunft berufen kann, geht die rechtswissenschaftliche Analyse, wie Ralf Müller-Terpitz in seiner Habilitationsschrift über den Schutz des pränatalen Lebens hervorhebt, im Regelfall von einem positivierten Rechtssatz aus, der von einer gesetzgebenden Instanz in einer konkreten historischen Situation mit einer bestimmten Intention erlassen wurde. "Diesen Rechtssatz gilt es mit den Mitteln juristischer Hermeneutik zu ergründen."
Der Stichtag ist wurscht.
Das Ergebnis von Müller-Terpitz' fast sechshundertseitiger Ergründungsarbeit besteht in der Verknüpfung einer maximalistischen mit einer minimalistischen Position. Nachdrücklich plädiert er für einen umfassenden Lebens- und Würdeschutz vom Zeitpunkt der Befruchtung an. "De constitutione lata ist pränatales Leben - gleich welcher Entwicklungsstufe - ,fertigem', d.h. geborenem Leben als gleichwertig zu erachten. Es genießt mithin dieselbe Schutzintensität." Weder seine Vernichtung im Zuge verbrauchender Embryonenforschung noch seine Gefährdung, wie sie im Gefolge der Präimplantationsdiagnostik (PID) auftrete, seien deshalb verfassungsrechtlich zulässig. In beiden Fällen eröffne sich vielmehr "nur eine mögliche Option: ihr ausnahmsloses und strafbewehrtes Verbot". Dieser umfassende Schutz soll allerdings nur inländischen Embryonen zugutekommen. Der Schutz von Embryonen, welche außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes erzeugt und verbraucht worden seien, gehöre nicht zum Aufgabenspektrum deutscher Staatsgewalt. Deshalb stehe es dem deutschen Gesetzgeber frei, den Stichtag für den Import von embryonalen Stammzelllinien "zu verschieben, aufzuheben oder ganz auf Importrestriktionen zu verzichten".
Wer den Mut aufbringt, sich mit so ziemlich allen Lagern der bisherigen biomedizinischen Debatte anzulegen und dabei nicht müde wird, seinen Gegnern vorzuwerfen, sie würden lediglich ihr "partikulares, juristisch aber nicht fundiertes Moralverständnis" in positives Recht umzumünzen suchen, der muss gute Gründe für seine Sache haben. Dass es für einen umfassenden Lebens- und Würdeschutz gute Gründe gibt, ist keine neue Einsicht. Robert Spaemann macht seit langem geltend, von Menschenrechten könne überhaupt nur dann die Rede sein, wenn ihre Innehabung nicht von den Vernünftigkeitskriterien anderer Menschen abhänge, sondern sich bereits aus der schlichten Teilhabe ihres Trägers an der menschlichen Natur ergebe.
Für das geborene Leben trifft dieser Befund auf allgemeine Zustimmung. Niemand versagt dem Anenzephalen, dem Altersdementen oder dem irreversibel Komatösen den Lebens- und Würdeschutz. Weshalb sollte es dann im Bereich des ungeborenen Lebens anders sein? Auch Müller-Terpitz bedient sich dieses Arguments. Nur ein streng formales Differenzierungsgebot könne verhindern, "dass vom Norminterpreten an die Voraussetzungen des Lebensschutzes herangetragene und damit menschliches Lebens zwangsläufig bewertende Prädikate in die Zuschreibung des Grundrechts mit einfließen". Ließe man andere Kriterien als das schiere Vorliegen individuellen biologisch-physiologischen Lebens über den Personstatus entscheiden, so erhöbe man die Frage nach der personalen Extension des Lebensrechts und des Würdeanspruchs letztlich zu einer solchen von Macht und Willkür.
Der verfassungshermeneutische Ehrgeiz Müller-Terpitz' ist mit diesem Befund allerdings nicht gestillt. Um nachzuweisen, dass seine Position nicht lediglich eine mögliche, sondern die schlechthin zwingende Verfassungsinterpretation sei, fällt ihm allerdings nichts Besseres ein, als die Nazi-Karte zu ziehen. Nach den millionenfachen Morden an religiösen und ethnischen Minderheiten, Menschen mit mentalen Gebrechen oder divergenten politischen Anschauungen hätten die Autoren des Grundgesetzes aufs deutlichste herausstellen wollen, dass ausnahmslos jedem Menschen ein von den staatlichen Institutionen zu respektierender sozialer Wert- und Achtungsanspruch zukomme. Deshalb beinhalte das Grundgesetz eine Absage gegenüber jedem Versuch, "menschliche Individuen nach externen, d.h. von Dritten vorgegebenen Kriterien zu bewerten und entsprechend in ,lebenswert' bzw. ,lebensunwert' zu kategorisieren".
Die singuläre Konfliktsituation.
Polemik in allen Ehren, aber so einfach geht es nicht. Aus der Erfahrung des Unheils, das die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen Ariern und Juden nach sich gezogen hat, die Schlussfolgerung abzuleiten, dass deshalb auch jede Unterscheidung zwischen Vierzellern und voll entwickelten Menschen von vornherein grundgesetzwidrig sei, tut der Subtilität und Ernsthaftigkeit der heutigen Diskussion Gewalt an. Die von Müller-Terpitz bekämpften Interessentheoretiker mögen Unrecht haben, aber sie, wenn auch nur implizit, in die Tradition der nationalsozialistischen Ausgrenzung "lebensunwerten Lebens" zu stellen ist abwegig.
Im Übrigen bleibt auch Müller-Terpitz selbst seiner rigorosen Ausgangsthese nicht treu. Wer den verfassungsrechtlichen Schutz des werdenden Lebens so weit ausdehnt, wie er es tut, sieht sich unweigerlich mit der Gretchenfrage konfrontiert, wie er es denn mit der Abtreibung halte. Müller-Terpitz' Ausführungen zu dieser Frage sind enttäuschend. Zwar erkennt er, dass es in aller Regel die von einer Person ausgehende Gefahr ist, welche ihre Tötung zur Verteidigung anderer schützenswerter Belange als gerechtfertigt erscheinen lässt. Daraus zieht er aber nicht den sich zwingend aufdrängenden Schluss, ein Embryo, der nichts dafür kann, dass seine Mutter in ihm eine Beeinträchtigung ihrer Lebenspläne erblickt, und der trotzdem getötet werden darf, werde nicht wie eine Person, sondern wie ein Gut behandelt. Vielmehr rettet er sich in die nichtssagende Formel von der "singulären Konfliktsituation" der Schwangeren - eine Formel, die er im Kontext der PID noch mit Verve abgelehnt hat: "Denn das Recht zur autonomen Gestaltung der eigenen Lebenssphäre umschließt nicht die Befugnis, gezielt das Lebensrecht eines anderen Grundrechtssubjekts zu gefährden." Wer wie Müller-Terpitz einerseits für eine strafrechtlich sanktionierte Verpflichtung der Frau plädiert, sich den auf ihren Wunsch hin in vitro erzeugten Embryo implantieren zu lassen, andererseits aber die Abtreibung des so implantierten Embryos unter Berufung auf die "Eigengeartetheit dieses Lebenssachverhalts" gestattet, dessen Konzeption lässt, um das Mindeste zu sagen, Fragen offen.
Kaum weniger anfechtbar ist Müller-Terpitz' zweite These, die rigorose Schutzlosstellung ausländischer Embryonen. Er begründet die Territorialitätsbindung des Grundrechtsschutzes gut hobbesianisch. Der Tausch von staatlich gewährleisteter Sicherheit gegen den Verzicht auf private Eigenmacht könne nur in Bezug auf solche Rechtsträger Wirkung entfalten, die infolge eines Gebietskontakts der deutschen Staatsgewalt auch faktisch unterworfen seien. Zu privater Eigenmacht sind indessen inländische Embryonen ebenso wenig in der Lage wie ausländische. Aus der Begründungslogik der hobbesianischen Verknüpfung von Schutz und Gehorsam ergibt sich das Gegenteil jenes Gedankens, auf den Müller-Terpitz sich bei seinen Ausführungen zum Lebens- und Würdeanspruch von Embryonen berufen hat. Während er dort darauf insistierte, dass es auf die Ungesichertheit der sozialen Stellung eines menschlichen Individuums nicht ankommen dürfe, heißt es jetzt: Schwäche schadet.
Ließe sich die schwierige Frage, wie mit den Früchten vergifteter Bäume umgegangen werden soll, so einfach lösen, wie Müller-Terpitz dies behauptet, bräuchten wir zudem auch keine Skrupel zu haben, uns an den Organen Hingerichteter aus China oder den Aussagen Gefolterter aus Ägypten oder Pakistan zu bedienen. Sieht so eine überzeugende Beachtung der von Müller-Terpitz eingangs beschworenen "methodischen und dogmatischen Eigengesetzlichkeiten" des Verfassungsrechts aus? Nach der Meinung des Rezensenten: Nein.
MICHAEL PAWLIK.
Ralf Müller-Terpitz: "Der Schutz des pränatalen Lebens". Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007. 637 S., geb., 114,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mut und "verfassungshermeneutischen Ehrgeiz" attestiert Michael Pawlik dem Autor. Dessen Habilitationsschrift zum "Schutz des pränatalen Lebens" sieht Pawlik als voluminöses Plädoyer für einen umfassenden Lebens- und Würdeschutz und gegen Macht und Willkür auf diesem Gebiet. Dass Ralf Müller-Terpitz dabei polemischerweise die Nazi-Karte ausspielt und die "Interessentheoretiker" implizit in die Tradition nationalsozialistischer Ausgrenzungspolitik stellt, kann der Rezensent allerdings ebenso wenig nachvollziehen wie des Autors Haltung zur Abtreibung. Hier "singuläre Konfliktsituationen" einzuräumen, im Fall der in-vitro-Befruchtung aber auf die Implantation des Embryos zu pochen, derartiges Argumentieren kommt Pawlik zweischneidig vor. Eine konsequente Verteidigung der Eigengesetzlichkeit des Verfassungsrechts sähe anders aus, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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