Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 7,00 €
Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2022

Da fiel Schnee, und die Sonne glühte
Alles auf eine Karte gesetzt: Ilse Molzahns prächtiger Roman "Der schwarze Storch" als Neuausgabe

In 54 Kisten lagert noch heute der Nachlass von Ilse Molzahn ungeordnet in der Berliner Staatsbibliothek. Die Journalistin und Schriftstellerin wurde 1895 in der Provinz Posen geboren und starb 1981 in Westberlin. Der Zürcher Bibliothekar und Literaturhistoriker Thomas Ehrsam hat aus dieser bisher ungehobenen Quelle geschöpft und den ersten Roman von Ilse Molzahn, "Der schwarze Storch", erstmals erschienen 1936 im Rowohlt-Verlag, neu herausgegeben und umfangreich kommentiert.

Molzahn erzählt aus der Ich-Perspektive der sechsjährigen Katharina, genannt Kater, das Leben auf dem elterlichen Gutshof in Posen im Jahre 1900. Reiz und Charme dieses Debütromans beruhen auf der kindlichen Betrachtungsweise. Die Kleine versteht nicht alles, aber sie beobachtet neugierig die Welt der Erwachsenen und macht sich ihren eigenen Reim darauf. Mit Phantasie und Traumsequenzen, alles ins Präsenz gesetzt, entsteht eine vergangene Zeit in hoher Lebendigkeit.

Als Menetekel des Geschehens zieht sich ein schwarzer Storch durch die Geschichte. Er, der Außenseiter, taucht überraschend auf dem Hof unter der Schar der weißen Störche auf, stiftet Unruhe und wird vom Vater des Mädchens abgeschossen. Der ortsansässige Doktor, der gerne Späße macht, erzählt Kater, kein weißer, sondern der schwarze Storch habe sie gebracht, weil sie so wild und aufmüpfig sei. Das Kind glaubt diese Mär gerne: "Meine Füße hüpfen, gleiten über weiche Nadeln, und ich singe: 'Ich bin nicht aus dem Teich geboren, komme nicht aus dem Sumpf. Mich hat der schwarze Storch gebracht. Er kam aus fernen Wäldern mit mir her. In fernen Wäldern bin ich gewesen. Da sangen Bäume und da rauschten Blätter. - Da fiel Schnee und die Sonne glühte. - Grüne Zweige hielten mich. Grüne Arme wiegten mich im Sommerwind. Ich wusste nichts von Menschenblut - lebte von Pflanzenblut, grün und kühl. La - la.'"

Der Vater präpariert den schwarzen Storch, stopft ihn aus und hängt ihn im Wohnzimmer an die Decke. Dort schwebt er nun, kann von oben alles mitverfolgen, und für das Mädchen ist er ein ständiger stummer Begleiter. Zum Gesinde gehört die Magd Helene, die schweigsam und fleißig ist und zur Vertrauten von Kater wird, denn mit den Kindern der Hofleute darf das Mädchen nicht spielen. Helene wird schwanger, was Kater nicht bemerkt, und verblutet beim Versuch der Abtreibung, auch dies realisiert das Mädchen nicht. Der Vergewaltiger könnte ihr eigener Vater sein oder der Vogt des Hofes, aber die Erwachsenen schweigen und versuchen das Geschehen vor dem Kind zu verheimlichen. Eine neue Erzieherin wird engagiert, sie soll das wilde Kind bändigen und zu einem artigen Mädchen machen.

Hintergrund für diesen Roman ist die Kindheit der Autorin, die auf einem solchen Dominium in Posen aufgewachsen ist. Es ist keine Idylle, sondern das karge, raue Landleben im Osten des Deutschen Reichs. Geschildert wird ein Jahr auf dem Hof, Dürre und Missernten machen das Leben schwer, gefährden die Existenz der Familie. Eine neue Straße soll gebaut werden, und das gesamte Gehöft wird abgerissen, der schwarze Storch verschwindet spurlos, die Familie zieht in die Stadt.

Einer der Höhepunkte der Erzählung ist ein gewalttätiger Streit unter den Störchen. Er mutet wie Krieg oder Revolution an. Als der Roman 1972 noch einmal aufgelegt wird mit einem Nachwort von Hans Erich Nossack, mildert die Autorin diese Szene ab, sie will, inzwischen konservativ geworden, nicht in den Verdacht geraten, mit den Achtundsechzigern zu sympathisieren. Der Herausgeber ist bei der Edition der neuen Auflage zum Originaltext von 1936 zurückgekehrt. Damals fand der Roman kaum Resonanz, eine zweite Auflage wurde von den Nazis wegen "Verleumdung des Junkertums" verboten. In den Siebzigerjahren erregte der Roman erst Aufmerksamkeit, als das ZDF den Stoff 1976 unter der Regie von Herbert Ballmann verfilmen ließ. 70 000 Exemplare wurden verkauft, in West wie in Ost.

Ilse Molzahn, die 1953 nach Westberlin übergesiedelt war, blieb reserviert: "Ich kann mich nicht mehr freuen." Wie viele andere Autoren und Autorinnen war sie nach dem Krieg vergessen, vereinsamte und erkrankte. 1936 war sie noch voller Hoffnungen: "Leider habe ich mich jahrelang verzettelt, nun habe ich das ganz fallen gelassen und auf eine Karte alles gesetzt." Bleibt zu wünschen, dass diesmal die Karte sticht und der wundervolle Roman das verdiente Publikum findet. LERKE VON SAALFELD

Ilse Molzahn: "Der schwarze Storch". Roman.

Hrsg. und Nachwort von Thomas Ehrsam. Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 376 S., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr