Ein kurzer Blick, zwei sich berührende Knöchel: Als Ervin, der Schwede, und Frau Dr. Bíró einander in Budapest gegenübersitzen, blitzt für einen Moment Wagemut zwischen ihnen auf. Liegt hier ein Anfang, ein Neubeginn - obwohl die Suche nach der Vergangenheit sie zusammengeführt hat?Gábor Schein erzählt unnachahmlich schwebend und zartfühlend die Geschichte Ervins und mit seiner die Nachkriegsgeschichte Ungarns, deren Folgen bis in die Gegenwart hineinreichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Regen von zweifelhafter Substanz
Wie man sich ein Ich zusammenfabuliert: Gábor Scheins Roman "Der Schwede" beschreibt Europa aus ungarischer Perspektive.
Von Ursula Scheer
Eine ungarische Psychiaterin reist, von Briefen in ausdrucksstarker Handschrift angelockt, im Jahr 2006 zu einem sterbenden Mann nach Schweden. Sie soll seinen letzten Willen erfüllen: dem entfremdeten Adoptivsohn eine Mappe mit Unterlagen über dessen bislang geheim gehaltene Herkunft überbringen - und ein Vernichtungswerk vollenden.
In der Wunderkammer des Todgeweihten, die wie fürstliche Kuriositätenkabinette vergangener Zeiten einen Schatz staunenswerter Gegenstände birgt, soll sie jedes einzelne Objekt zerstören. Das wird auch die Geschichten liquidieren, die der sammelwütiger Besitzer über ihre Provenienz erzählt. Die meisten klingen ohnehin zu absurd katastrophal, um von der Ärztin für wahr gehalten zu werden: Lag das Kaleidoskop wirklich 1941 in der Hand eines Kindes, dessen Vater an der Ostfront fiel? Und die Wasseruhr in der eines Polen, der vergeblich hoffte, den Eisernen Vorhang für sich Richtung Schweden öffnen zu können? Wer weiß das schon. Andererseits: So oder so ähnlich lauten sie nun einmal, die zahllosen, an Memorabilien gebundenen privaten Geschichten aus dem von Grauen zerrissenen und geeinten Europa des zwanzigsten Jahrhunderts - kleine Splitter großer Schrecken. Die Psychiaterin Dr. Biró tut, wie ihr von Herrn Grönwald geheißen, und schlägt alles in Scherben.
Mit dieser Exposition lockt der ungarische Schriftsteller Gàbor Schein seine Leser in das Dickicht des Romans "Der Schwede". Der schmale Band bahnt probeweise Wege durch einen Kontinent, der von seiner Vergangenheit so schwer überschattet wird wie Frau Biró auf ihrem Gang durch Stockholm von den tiefhängenden Wolken, aus denen "Regen von zweifelhafter Substanz" fällt. Es tropft Eis. Mit solchen bis ins Mark frösteln machenden Zweifelhaftigkeiten, die einzuordnen den Sinnen schwerfällt, haben wir es hier auf allen Ebenen zu tun. Mit beinahe medizinischer Genauigkeit protokolliert der Celan-Übersetzer, Literaturdozent und Lyriker Schein als Romancier jede Regung der Körper, die zu den Personen gehören, in deren Wahrnehmung er eindringt. Auch Körper sind ihm Gegenstände, die der Geist mit Erinnerungen behaftet, hinfällig, zerstörbar wie die Objekte in Herrn Grönwalds Kabinett.
Frau Dr. Biró macht sich also auf den Heimweg nach Budapest, und wir springen zurück in die Zeit, als die psychiatrische Klinik, in der sie arbeitete, geschlossen wurde. Im nächsten Kapitel landen wir ohne Vorwarnung in einer noch früheren Vergangenheit, in den Wahnvorstellungen einer Patientin, die einmal eine lupenreine Kommunistin war, aber eben auch Jüdin, was sie aus der Kaderordnung rückte, hinaus in die Verrücktheit. Der Apparat des Regimes wird in ihrem Kopf zur Maschine, die das Denken manipuliert. Diese Frau hat alles verloren, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Zukunft. Und schließlich begegnen wir ihrem Sohn, dem unglücklichen Übersetzer Ervin, der seinen Leib bei der Übertragung fremder Prosa von Satz zu Satz zwingt und in der Intimität mit seiner Frau keine Rettung vor der Einsamkeit findet. Seine Name ist - Ervin Grönwald.
Dass Ervin als Dreijähriger von dem alten Grönwald in einem österreichischen Flüchtlingslager, in das sich 1953 Ungarn vor dem Volksaufstand im eigenen Land gerettet hatten, "erworben" wurde wie ein Fund vom Flohmarkt, den man nach Gutdünken mit einer erfundenen oder wahren Vergangenheit aufladen kann, ist die ungeheuerliche Begebenheit im Kern des Romans. Schein hebt sie - wie er im Nachwort noch einmal betont - auf die metaphorische Ebene: als wohlmeinende Adoption des Ostens durch den Westen, die seine eigene Herkunft verdunkelt.
Aber es geht um mehr. Darum etwa, wie Menschen als ewig unfertige Wesen sich ihre Identität zusammenfabulieren müssen und dabei angewiesen sind auf das, was andere zu ihnen und über sie sagen. Ein vom Vater mit Randnotizen versehener Abschiedsbrief Ervins an seine Frau - im Roman sind die Einreden als Fußnoten wiedergegeben -, stellt Fremd- und Eigenwahrnehmung schonungslos einander gegenüber. Was bleibt da vom Ich? Es ist in seiner Selbstfindung zurückgeworfen auf von Schweigen umgebenen Relikte des Verderbens. Seine frühesten Phantasiereisen tritt Ervin als Kind unter einem monströsen Eichentisch an, der ein Siegel mit Adler trägt - das Zeichen dafür, dass dieses Möbel von aus dem NS-Staat geflohenen oder deportierten Juden enteignet wurde.
Der Holocaust ist in solchen Zeichen ebenso präsent wie die Zermalmung der jüdisch geprägten Psychoanalyse durch den Kommunismus in der Biographie von Ervins Mutter. Das Gestern fließt ins Heute und verbindet Lebenswege über immer neu gezogene Grenzen hinweg. Der Sprache, dem altmodischen Brief kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. Doch nichts geht über den direkten Kontakt. Eine zufällige Berührung am Knöchel könnte Ervin und Frau Biró miteinander verbinden. Vielleicht wäre das aber auch schon zu viel der Nähe, vielleicht bleiben beide gefangen in der jeweils eigenen, paradox verstrickten Isolation. In diesem Roman, den Lucy Kornitzer in elegantes Deutsch übertragen hat, bleibt vieles unausgesprochen und in der Schwebe. Schein macht es seinen Lesern nicht leicht, weil er an Handlung kaum interessiert ist. Wer sich aber darauf einlässt, kann sich in der fein nuancierten Skizze eines aus winzigen Details zusammengesetzten europäischen Panoramas aus ungarischer Perspektive verlieren.
Gábor Schein: "Der Schwede".
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Friedenauer Presse, Berlin 2019. 210 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man sich ein Ich zusammenfabuliert: Gábor Scheins Roman "Der Schwede" beschreibt Europa aus ungarischer Perspektive.
Von Ursula Scheer
Eine ungarische Psychiaterin reist, von Briefen in ausdrucksstarker Handschrift angelockt, im Jahr 2006 zu einem sterbenden Mann nach Schweden. Sie soll seinen letzten Willen erfüllen: dem entfremdeten Adoptivsohn eine Mappe mit Unterlagen über dessen bislang geheim gehaltene Herkunft überbringen - und ein Vernichtungswerk vollenden.
In der Wunderkammer des Todgeweihten, die wie fürstliche Kuriositätenkabinette vergangener Zeiten einen Schatz staunenswerter Gegenstände birgt, soll sie jedes einzelne Objekt zerstören. Das wird auch die Geschichten liquidieren, die der sammelwütiger Besitzer über ihre Provenienz erzählt. Die meisten klingen ohnehin zu absurd katastrophal, um von der Ärztin für wahr gehalten zu werden: Lag das Kaleidoskop wirklich 1941 in der Hand eines Kindes, dessen Vater an der Ostfront fiel? Und die Wasseruhr in der eines Polen, der vergeblich hoffte, den Eisernen Vorhang für sich Richtung Schweden öffnen zu können? Wer weiß das schon. Andererseits: So oder so ähnlich lauten sie nun einmal, die zahllosen, an Memorabilien gebundenen privaten Geschichten aus dem von Grauen zerrissenen und geeinten Europa des zwanzigsten Jahrhunderts - kleine Splitter großer Schrecken. Die Psychiaterin Dr. Biró tut, wie ihr von Herrn Grönwald geheißen, und schlägt alles in Scherben.
Mit dieser Exposition lockt der ungarische Schriftsteller Gàbor Schein seine Leser in das Dickicht des Romans "Der Schwede". Der schmale Band bahnt probeweise Wege durch einen Kontinent, der von seiner Vergangenheit so schwer überschattet wird wie Frau Biró auf ihrem Gang durch Stockholm von den tiefhängenden Wolken, aus denen "Regen von zweifelhafter Substanz" fällt. Es tropft Eis. Mit solchen bis ins Mark frösteln machenden Zweifelhaftigkeiten, die einzuordnen den Sinnen schwerfällt, haben wir es hier auf allen Ebenen zu tun. Mit beinahe medizinischer Genauigkeit protokolliert der Celan-Übersetzer, Literaturdozent und Lyriker Schein als Romancier jede Regung der Körper, die zu den Personen gehören, in deren Wahrnehmung er eindringt. Auch Körper sind ihm Gegenstände, die der Geist mit Erinnerungen behaftet, hinfällig, zerstörbar wie die Objekte in Herrn Grönwalds Kabinett.
Frau Dr. Biró macht sich also auf den Heimweg nach Budapest, und wir springen zurück in die Zeit, als die psychiatrische Klinik, in der sie arbeitete, geschlossen wurde. Im nächsten Kapitel landen wir ohne Vorwarnung in einer noch früheren Vergangenheit, in den Wahnvorstellungen einer Patientin, die einmal eine lupenreine Kommunistin war, aber eben auch Jüdin, was sie aus der Kaderordnung rückte, hinaus in die Verrücktheit. Der Apparat des Regimes wird in ihrem Kopf zur Maschine, die das Denken manipuliert. Diese Frau hat alles verloren, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Zukunft. Und schließlich begegnen wir ihrem Sohn, dem unglücklichen Übersetzer Ervin, der seinen Leib bei der Übertragung fremder Prosa von Satz zu Satz zwingt und in der Intimität mit seiner Frau keine Rettung vor der Einsamkeit findet. Seine Name ist - Ervin Grönwald.
Dass Ervin als Dreijähriger von dem alten Grönwald in einem österreichischen Flüchtlingslager, in das sich 1953 Ungarn vor dem Volksaufstand im eigenen Land gerettet hatten, "erworben" wurde wie ein Fund vom Flohmarkt, den man nach Gutdünken mit einer erfundenen oder wahren Vergangenheit aufladen kann, ist die ungeheuerliche Begebenheit im Kern des Romans. Schein hebt sie - wie er im Nachwort noch einmal betont - auf die metaphorische Ebene: als wohlmeinende Adoption des Ostens durch den Westen, die seine eigene Herkunft verdunkelt.
Aber es geht um mehr. Darum etwa, wie Menschen als ewig unfertige Wesen sich ihre Identität zusammenfabulieren müssen und dabei angewiesen sind auf das, was andere zu ihnen und über sie sagen. Ein vom Vater mit Randnotizen versehener Abschiedsbrief Ervins an seine Frau - im Roman sind die Einreden als Fußnoten wiedergegeben -, stellt Fremd- und Eigenwahrnehmung schonungslos einander gegenüber. Was bleibt da vom Ich? Es ist in seiner Selbstfindung zurückgeworfen auf von Schweigen umgebenen Relikte des Verderbens. Seine frühesten Phantasiereisen tritt Ervin als Kind unter einem monströsen Eichentisch an, der ein Siegel mit Adler trägt - das Zeichen dafür, dass dieses Möbel von aus dem NS-Staat geflohenen oder deportierten Juden enteignet wurde.
Der Holocaust ist in solchen Zeichen ebenso präsent wie die Zermalmung der jüdisch geprägten Psychoanalyse durch den Kommunismus in der Biographie von Ervins Mutter. Das Gestern fließt ins Heute und verbindet Lebenswege über immer neu gezogene Grenzen hinweg. Der Sprache, dem altmodischen Brief kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. Doch nichts geht über den direkten Kontakt. Eine zufällige Berührung am Knöchel könnte Ervin und Frau Biró miteinander verbinden. Vielleicht wäre das aber auch schon zu viel der Nähe, vielleicht bleiben beide gefangen in der jeweils eigenen, paradox verstrickten Isolation. In diesem Roman, den Lucy Kornitzer in elegantes Deutsch übertragen hat, bleibt vieles unausgesprochen und in der Schwebe. Schein macht es seinen Lesern nicht leicht, weil er an Handlung kaum interessiert ist. Wer sich aber darauf einlässt, kann sich in der fein nuancierten Skizze eines aus winzigen Details zusammengesetzten europäischen Panoramas aus ungarischer Perspektive verlieren.
Gábor Schein: "Der Schwede".
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Friedenauer Presse, Berlin 2019. 210 S., geb., 22,- [Euro].
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