Ungarn 1956: Die Panzer rollen, der Aufstand schlägt fehl, die Hoffnung scheitert, dass die Welt eine andere hätte werden können. Ohne ein Wort verlässt Katalin ihre Familie und flüchtet über die Grenze in den Westen. Ihr Mann verkauft Haus und Hof und zieht fortan mit den Kindern Kata und Isti durch das Land.
Während er in Schwermut verfällt, errichten sich Kata und ihr kleiner Bruder Isti ihre eigene Welt: Isti hört, was die Dinge zu erzählen haben - das Haus, die Steine, die Pflanzen, der Schnee -, während Kata den Geschichten der Menschen zuhört, denen sie auf ihrer jahrelangen Reise begegnet. Der genaue Blick der Kinder trifft auf eine Welt, die sie nicht verstehen. Nur wenn sie am Wasser sind, an Flüssen, an Seen, wenn sie dem Vater zusehen, wie er seine weiten Bahnen zieht und wenn sie selber schwimmen - nur dann finden sie verzauberte Momente der Leichtigkeit und des Glücks. Beide ahnen, dass ihr Leben erst beginnt.
Während er in Schwermut verfällt, errichten sich Kata und ihr kleiner Bruder Isti ihre eigene Welt: Isti hört, was die Dinge zu erzählen haben - das Haus, die Steine, die Pflanzen, der Schnee -, während Kata den Geschichten der Menschen zuhört, denen sie auf ihrer jahrelangen Reise begegnet. Der genaue Blick der Kinder trifft auf eine Welt, die sie nicht verstehen. Nur wenn sie am Wasser sind, an Flüssen, an Seen, wenn sie dem Vater zusehen, wie er seine weiten Bahnen zieht und wenn sie selber schwimmen - nur dann finden sie verzauberte Momente der Leichtigkeit und des Glücks. Beide ahnen, dass ihr Leben erst beginnt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Sirup und Jauchegruben
Zsuzsa Bánks poetischer Debütroman / Von Hubert Spiegel
Manchmal passiert es, daß man ein Buch nicht nur liest, sondern auch hört, weil das Gelesene im Ohr des Lesers einen Klang entwickelt. Es gibt Bücher, die rauschen und Bücher, die glucksen. Es gibt dröhnende und brummende, fiepende und pfeifende Bücher. Der Klang von Zsuzsa Bánks Roman "Der Schwimmer" ist mit einem Wort nicht zu fassen. Er gleicht dem Wellenschlag am Seeufer in einer windstillen Nacht, so gleichmäßig und beruhigend, daß man Stunden lauschen möchte und darüber vergessen könnte, daß eine Tragödie ist, was hier geschieht.
"Der Schwimmer" beginnt mit einer Flucht, und er endet mit der Ankündigung eines Abschieds. Dazwischen liegen die Wanderjahre eines ungarischen Familientorsos. Die Mutter ist in den Westen geflohen und hat ihre beiden Kinder mit einem Vater zurückgelassen, der wortkarg ist bis an den Rand des völligen Verstummens. Und zuweilen sogar darüberhinaus: Stundenlang liegt Kálmán auf dem Bett, rauchend, mit offenen Augen in eine andere Welt blickend. Seine Kinder haben diesem Zustand einen Namen gegeben: "Vater taucht. Vater ist zum Tauchen gegangen. Ist Vater zurück vom Tauchen?, fragten wir einander."
Für Kata, die Erzählerin, und Isti, ihren kleinen Bruder, beginnt nun eine Zeit der Heimatlosigkeit. Die Mutter verschwand in der Nacht, ohne ein Wort des Abschieds. Der Vater bricht immer wieder auf, ohne ein Wort der Erklärung. Man fährt zu Verwandten, bleibt länger oder kürzer, der Vater nimmt eine Arbeit an, dann muß er den Ort verlassen, weil er eine Affäre mit der Frau eines Freundes hat. Schon lange vor der Flucht der Mutter waren sie ständig unterwegs. Sie reisten, sie "ließen keinen Weg aus, der uns irgendwohin führte", erinnert sich Kata an die Unruhe der jungen Frau, die in Riemchensandalen aufs Feld ging und nicht leben wollte in einem Dorf, in dem Kinder sterben, weil sie "in Jauchegruben fallen. Sie ersticken." Damals, auf ihren häufigen und ausgedehnten Zugreisen, führte für die Mutter kein Weg aus Ungarn und den engen, jämmerlichen Verhältnissen auf dem Dorf hinaus, aber alle Wege endeten für die Kinder wieder in ihrem Zuhause. Jetzt verlieren sie das Gefühl für die Bedeutung des Wortes.
Unfähig, den Verlust der Mutter zu verwinden, zieht Isti sich in seine eigene Welt zurück. Wie der Vater beginnt er zu "tauchen", dann erfindet er seine eigene Sprache, schließlich hört er die Dinge sprechen. Er vernimmt den Schrei der Haare, die abgeschnitten werden, er hört Steine, Dachbalken und Nägel sprechen in einer Sprache ohne Worte. Dann lernt er Schwimmen. Wie sein Vater, der mit einer Inbrunst schwimmt, "als könne er ein anderer sein, sobald er seine Kleider ablegte, das Wasser berührte und hinabtauchte", liebt Isti Flüsse und vor allem den See, an dem die Kinder eine lange und beinahe glückliche Zeit verbringen. Zuletzt findet er im Wasser, was er dort gesucht hat: den Tod.
So eindringlich wie in Zsuzsa Bánks Roman "Der Schwimmer" ist seit Agota Kristofs Roman "Das große Heft" wohl kein Kindheitsdrama mehr beschrieben worden. Bei allen Unterschieden zwischen dem Buch der in der Schweiz lebenden Ungarin und der 1965 in Frankfurt am Main als Tochter ungarischer Eltern geborenen Zsuzsa Bánk verblüffen doch zwei Gemeinsamkeiten. Da ist zunächst das große Einfühlungsvermögen, mit dem sich beide Autorinnen in ihre kindlichen Helden versetzen und die Welt aus ihrer Perspektive zu schildern vermögen. Dabei bleibt vieles so vage, wie es kindlicher Wahrnehmung entspricht. Und doch ist diese Vagheit von großer Präzision. Die Zeit etwa bietet sich Kindern in einem anderen Aggregatzustand dar als Erwachsenen. Zsuzsa Bánk läßt diesen Aggregatzustand erahnbar, wenn nicht gar fühlbar werden. Beinahe unmerklich schieben sie die Bewußtseinsebenen übereinander, wenn sie Kata über die Zeit ihres Aufenthalts in der Hauptstadt sagen läßt: "Budapest war grau . . . Es war, als habe jemand alle Uhren zum Stehen gebracht, als liefe die Zeit für uns nicht weiter. So, als habe man Isti und mich in Sirup fallen lassen und dort vergessen."
Der Moment, in dem in Ungarn die Uhren stehenbleiben, ist der Moment des gescheiterten Aufstands im Jahr 1956. Die folgende Hoffnungslosigkeit legt sich bleischwer auf das Land, das vor einem Massenexodus steht, an dem sich auch die Eltern von Zsuzsa Bánk beteiligt haben. Aus den Erinnerungen des Paares, das sich auf der Flucht in den Westen kennenlernte, hat die Tochter großen Gewinn gezogen. Ein politisches Buch ist so nicht entstanden, aber ein Roman von wunderbar trauriger Poesie.
Sie verdankt sich einer behutsamen, klaren Sprache sowie einer Erzählweise, die emotionslos und ungerührt scheint und Rührung und Anteilnahme erzeugt. In diesem distanzierten Blick auf ihre Figuren liegt die zweite Gemeinsamkeit mit Agota Kristof. Aber während "Das große Heft" die Kriegskindheit ihrer beiden Helden als Schule der Gefühllosigkeit beschreibt, als unmenschlichen Immunisierungsprozeß in einer barbarischen Welt, beschreibt "Der Schwimmer" eine gegenteiligen Prozeß: Isti wird gerade nicht immun, er kann sich nicht abhärten gegen die erlittenen Verletzungen des Verlassenwerdens, der Einsamkeit und Heimatlosigkeit. Er hat Wunden davongetragen, die nicht mehr heilen. Und auch seine Schwester vermag ihn nicht zu beschützen. Daß Isti den See, wo er ein neues Zuhause gefunden hatte, verlassen muß, ist mehr als der Junge ertragen kann.
Am Ende des Buches leben Kata und Kálmán wieder bei ihren Verwandten am See, bei Ági, Zoltán und ihrer lebenslustigen Tochter Virág. An der Anlegestelle erzählt man sich, in Prag habe sich ein Mann selbst angezündet, jetzt, ein halbes Jahr später, "wo alles längst schon vorbei sei". Kata weiß nicht, ob sie es glauben soll. Sie sitzt am See, denkt an Isti, wie er ins Wasser sprang, und wartet darauf, daß man sie ausreisen läßt.
Zsuzsa Bánk: "Der Schwimmer". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 285 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zsuzsa Bánks poetischer Debütroman / Von Hubert Spiegel
Manchmal passiert es, daß man ein Buch nicht nur liest, sondern auch hört, weil das Gelesene im Ohr des Lesers einen Klang entwickelt. Es gibt Bücher, die rauschen und Bücher, die glucksen. Es gibt dröhnende und brummende, fiepende und pfeifende Bücher. Der Klang von Zsuzsa Bánks Roman "Der Schwimmer" ist mit einem Wort nicht zu fassen. Er gleicht dem Wellenschlag am Seeufer in einer windstillen Nacht, so gleichmäßig und beruhigend, daß man Stunden lauschen möchte und darüber vergessen könnte, daß eine Tragödie ist, was hier geschieht.
"Der Schwimmer" beginnt mit einer Flucht, und er endet mit der Ankündigung eines Abschieds. Dazwischen liegen die Wanderjahre eines ungarischen Familientorsos. Die Mutter ist in den Westen geflohen und hat ihre beiden Kinder mit einem Vater zurückgelassen, der wortkarg ist bis an den Rand des völligen Verstummens. Und zuweilen sogar darüberhinaus: Stundenlang liegt Kálmán auf dem Bett, rauchend, mit offenen Augen in eine andere Welt blickend. Seine Kinder haben diesem Zustand einen Namen gegeben: "Vater taucht. Vater ist zum Tauchen gegangen. Ist Vater zurück vom Tauchen?, fragten wir einander."
Für Kata, die Erzählerin, und Isti, ihren kleinen Bruder, beginnt nun eine Zeit der Heimatlosigkeit. Die Mutter verschwand in der Nacht, ohne ein Wort des Abschieds. Der Vater bricht immer wieder auf, ohne ein Wort der Erklärung. Man fährt zu Verwandten, bleibt länger oder kürzer, der Vater nimmt eine Arbeit an, dann muß er den Ort verlassen, weil er eine Affäre mit der Frau eines Freundes hat. Schon lange vor der Flucht der Mutter waren sie ständig unterwegs. Sie reisten, sie "ließen keinen Weg aus, der uns irgendwohin führte", erinnert sich Kata an die Unruhe der jungen Frau, die in Riemchensandalen aufs Feld ging und nicht leben wollte in einem Dorf, in dem Kinder sterben, weil sie "in Jauchegruben fallen. Sie ersticken." Damals, auf ihren häufigen und ausgedehnten Zugreisen, führte für die Mutter kein Weg aus Ungarn und den engen, jämmerlichen Verhältnissen auf dem Dorf hinaus, aber alle Wege endeten für die Kinder wieder in ihrem Zuhause. Jetzt verlieren sie das Gefühl für die Bedeutung des Wortes.
Unfähig, den Verlust der Mutter zu verwinden, zieht Isti sich in seine eigene Welt zurück. Wie der Vater beginnt er zu "tauchen", dann erfindet er seine eigene Sprache, schließlich hört er die Dinge sprechen. Er vernimmt den Schrei der Haare, die abgeschnitten werden, er hört Steine, Dachbalken und Nägel sprechen in einer Sprache ohne Worte. Dann lernt er Schwimmen. Wie sein Vater, der mit einer Inbrunst schwimmt, "als könne er ein anderer sein, sobald er seine Kleider ablegte, das Wasser berührte und hinabtauchte", liebt Isti Flüsse und vor allem den See, an dem die Kinder eine lange und beinahe glückliche Zeit verbringen. Zuletzt findet er im Wasser, was er dort gesucht hat: den Tod.
So eindringlich wie in Zsuzsa Bánks Roman "Der Schwimmer" ist seit Agota Kristofs Roman "Das große Heft" wohl kein Kindheitsdrama mehr beschrieben worden. Bei allen Unterschieden zwischen dem Buch der in der Schweiz lebenden Ungarin und der 1965 in Frankfurt am Main als Tochter ungarischer Eltern geborenen Zsuzsa Bánk verblüffen doch zwei Gemeinsamkeiten. Da ist zunächst das große Einfühlungsvermögen, mit dem sich beide Autorinnen in ihre kindlichen Helden versetzen und die Welt aus ihrer Perspektive zu schildern vermögen. Dabei bleibt vieles so vage, wie es kindlicher Wahrnehmung entspricht. Und doch ist diese Vagheit von großer Präzision. Die Zeit etwa bietet sich Kindern in einem anderen Aggregatzustand dar als Erwachsenen. Zsuzsa Bánk läßt diesen Aggregatzustand erahnbar, wenn nicht gar fühlbar werden. Beinahe unmerklich schieben sie die Bewußtseinsebenen übereinander, wenn sie Kata über die Zeit ihres Aufenthalts in der Hauptstadt sagen läßt: "Budapest war grau . . . Es war, als habe jemand alle Uhren zum Stehen gebracht, als liefe die Zeit für uns nicht weiter. So, als habe man Isti und mich in Sirup fallen lassen und dort vergessen."
Der Moment, in dem in Ungarn die Uhren stehenbleiben, ist der Moment des gescheiterten Aufstands im Jahr 1956. Die folgende Hoffnungslosigkeit legt sich bleischwer auf das Land, das vor einem Massenexodus steht, an dem sich auch die Eltern von Zsuzsa Bánk beteiligt haben. Aus den Erinnerungen des Paares, das sich auf der Flucht in den Westen kennenlernte, hat die Tochter großen Gewinn gezogen. Ein politisches Buch ist so nicht entstanden, aber ein Roman von wunderbar trauriger Poesie.
Sie verdankt sich einer behutsamen, klaren Sprache sowie einer Erzählweise, die emotionslos und ungerührt scheint und Rührung und Anteilnahme erzeugt. In diesem distanzierten Blick auf ihre Figuren liegt die zweite Gemeinsamkeit mit Agota Kristof. Aber während "Das große Heft" die Kriegskindheit ihrer beiden Helden als Schule der Gefühllosigkeit beschreibt, als unmenschlichen Immunisierungsprozeß in einer barbarischen Welt, beschreibt "Der Schwimmer" eine gegenteiligen Prozeß: Isti wird gerade nicht immun, er kann sich nicht abhärten gegen die erlittenen Verletzungen des Verlassenwerdens, der Einsamkeit und Heimatlosigkeit. Er hat Wunden davongetragen, die nicht mehr heilen. Und auch seine Schwester vermag ihn nicht zu beschützen. Daß Isti den See, wo er ein neues Zuhause gefunden hatte, verlassen muß, ist mehr als der Junge ertragen kann.
Am Ende des Buches leben Kata und Kálmán wieder bei ihren Verwandten am See, bei Ági, Zoltán und ihrer lebenslustigen Tochter Virág. An der Anlegestelle erzählt man sich, in Prag habe sich ein Mann selbst angezündet, jetzt, ein halbes Jahr später, "wo alles längst schon vorbei sei". Kata weiß nicht, ob sie es glauben soll. Sie sitzt am See, denkt an Isti, wie er ins Wasser sprang, und wartet darauf, daß man sie ausreisen läßt.
Zsuzsa Bánk: "Der Schwimmer". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 285 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Flucht und Einsamkeit
Als Katalin das Unglück nicht mehr ertragen kann und aus dem Elend eines tristen sozialistischen Alltags flüchtet, lässt sie ohne eine Wort des Abschieds ihren Ehemann Kálmán und die beiden Kinder Kata und Isti allein zurück. Zunächst hoffen alle noch auf ihre Rückkehr. Sie bleibt aber verschwunden in der Fremde. Später werden sie erfahren, dass die Mutter auch in der Fremde ihr Glück nicht gefunden hat. Da der schwermütige Vater sich alleine nicht um die Kinder kümmern kann, ziehen sie, als nach einigen Wochen klar wird, dass Katalin nicht mehr zurückkehren wird, nach Budapest zu einer Tante des Vaters. Hier verleben sie eine schöne aber kurze Zeit bevor sie weiter in Richtung Osten fahren. Ziel ist zunächst der Bauernhof von Kálmáns Kusine, wo er seine Kinder unterbringt. Es ist aber nur eine weitere Station der rastlosen Wanderung, auf die der ratlose und allein gelassene Vater seine Kinder nimmt.
Kata und Isti
Im Mittelpunkt der Geschehnisse, die aus der Perspektive der sich erinnernden Kata geschildert werden, steht Isti, ihr jüngerer Bruder, der mit dem Weggang seiner Mutter nicht fertig wird. Er ist wohl auch der "Schwimmer": ohne Orientierung steckt er den Kopf unter Wasser und lässt sich treiben. Im Verlauf ihrer Odyssee nimmt der Vater immer weniger Notiz von seinen Kindern und verschwindet damit fast in derselben Weise wie Katalin. Mit dem Verlust seiner Eltern kommt Isti auf Dauer nicht zurecht. Seine Apathie endet schließlich in Selbstauslöschung.
Kindheitsdrama
Der Schwimmer ist ein eindringliches Kindheitsdrama, dessen Rhythmus den Leser in die Atmosphäre der geschilderten Szenen wiegt. Die auffallend kurzen und kompakten Abschnitte, die den Roman unterteilen, sind wie Atemzüge, deren Takt der Leser übernimmt. So entsteht die eigenartig melancholisch-schwebende Stimmung der Trauer, die durch Zsuzsa Bánks meisterhafte Sprache verstärkt wird. Zweifelsohne hat sie mit ihrem ersten Roman ein großartiges Stück Literatur geschaffen.
(Andreas Rötzer)
Als Katalin das Unglück nicht mehr ertragen kann und aus dem Elend eines tristen sozialistischen Alltags flüchtet, lässt sie ohne eine Wort des Abschieds ihren Ehemann Kálmán und die beiden Kinder Kata und Isti allein zurück. Zunächst hoffen alle noch auf ihre Rückkehr. Sie bleibt aber verschwunden in der Fremde. Später werden sie erfahren, dass die Mutter auch in der Fremde ihr Glück nicht gefunden hat. Da der schwermütige Vater sich alleine nicht um die Kinder kümmern kann, ziehen sie, als nach einigen Wochen klar wird, dass Katalin nicht mehr zurückkehren wird, nach Budapest zu einer Tante des Vaters. Hier verleben sie eine schöne aber kurze Zeit bevor sie weiter in Richtung Osten fahren. Ziel ist zunächst der Bauernhof von Kálmáns Kusine, wo er seine Kinder unterbringt. Es ist aber nur eine weitere Station der rastlosen Wanderung, auf die der ratlose und allein gelassene Vater seine Kinder nimmt.
Kata und Isti
Im Mittelpunkt der Geschehnisse, die aus der Perspektive der sich erinnernden Kata geschildert werden, steht Isti, ihr jüngerer Bruder, der mit dem Weggang seiner Mutter nicht fertig wird. Er ist wohl auch der "Schwimmer": ohne Orientierung steckt er den Kopf unter Wasser und lässt sich treiben. Im Verlauf ihrer Odyssee nimmt der Vater immer weniger Notiz von seinen Kindern und verschwindet damit fast in derselben Weise wie Katalin. Mit dem Verlust seiner Eltern kommt Isti auf Dauer nicht zurecht. Seine Apathie endet schließlich in Selbstauslöschung.
Kindheitsdrama
Der Schwimmer ist ein eindringliches Kindheitsdrama, dessen Rhythmus den Leser in die Atmosphäre der geschilderten Szenen wiegt. Die auffallend kurzen und kompakten Abschnitte, die den Roman unterteilen, sind wie Atemzüge, deren Takt der Leser übernimmt. So entsteht die eigenartig melancholisch-schwebende Stimmung der Trauer, die durch Zsuzsa Bánks meisterhafte Sprache verstärkt wird. Zweifelsohne hat sie mit ihrem ersten Roman ein großartiges Stück Literatur geschaffen.
(Andreas Rötzer)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.09.2002Es waren zwei Ungarnkinder
Vom Aufwachsen in Zeiten der Verlassenheit: Zsuzsa Bánks erstaunliches Romandebüt „Der Schwimmer”
Im Sommerhaus, bei Verwandten. „In den heißen Juli- und August-Nächten schlief mein Vater mit nacktem Oberkörper auf einem Liegestuhl auf der Terrasse. Ági und Virág hatten nichts dagegen. Die Mücken zerstachen ihn jedesmal. Sie stachen in seine Lippen, in seine Lider, in seine Wangen, in die Spitzen seiner Finger, und Virág sagte beim Frühstück, Kálman sieht aus wie ein Boxer nach einem verlorenen Kampf.”
Das Erstaunlichste an diesem Buch einer Debütantin ist die Sprache. Sie ist über den ganzen Roman hinweg weder altmodisch noch „zeitgemäß”. Schnörkellos und detailgesättigt schafft sie sich ihren eigenen Raum. Sie verdankt den Sog, den sie entwickelt, einem souveränen Gefühl für Rhythmus und Dramaturgie und vor allem einer außergewöhnlichen sinnlichen Aufmerksamkeit, die sich für Zigarettenreste auf den Schuhen des Vaters genau so interessiert wie für die Bänder um die Fußknöchel der Mutter.
Fotos mit weißem Rand
Die Bänder gehören zu den Sandalen, die die Mutter auf einem Foto trägt, das sie auf einem Feld zeigt. „Niemand trug damals Sandalen, schon gar nicht auf dem Feld. Mein Vater gab dieses Bild nicht aus seinen Händen.” Und mit nur einem Satz macht Zsuzsa Bánk aus dem Betrachten eines Fotos ein eindringliches sprachliches Bild: „Er lag damit auf der Küchenbank, starrte zur Decke und rauchte.” Die Schwarzweißfotos mit dem dicken, weißen Rand werden zu einem Altar der Erinnerung, denn die Mutter ist nicht mehr da. Und genau dies hat die Handlung des ganzen Buchs in Gang gesetzt. Der Roman erzählt die Folgen der „Geschichte meiner Mutter, die das Land ohne ein Wort verlassen hatte”, ohne ein Wort an ihre beiden Kinder und deren Vater.
Dass die Spannung auf das „Warum” des Verlassens anhält, hat damit zu tun, dass Zsuzsa Bánk auf gekonnte Weise mit Suspense umzugehen weiß. Auf über 150 Seiten wird „die Geschichte” der Mutter, ihr Verschwinden, kaum erklärt. Über Radiogrüße wird nur klar, dass sie in Deutschland angekommen ist und dort als Spülerin arbeitet. Ob sie ihren Mann nicht mehr liebt, ob es andere Gründe sind, die sie aus Ungarn weg getrieben haben, diese Fragen werden nicht einmal gestreift. Doch dass die Mutter das Dorf „gehasst” haben soll, reicht als Begründung für das Verlassen zweier kleiner Kinder nicht aus.
Erst langsam wird deutlich, dass die Mutter im Winter 1956 weg gegangen ist, nach dem gescheiterten Ungarn-Aufstand. Viel später heißt es, „Kálmans Frau” sei „fürs Ertragen nicht gemacht” gewesen. Und erst kurz vor Schluss gibt der Roman eine Selbst-Auskunft über seine Grundstimmung, die auch das Handeln der Mutter beeinflusst hat: Nach dem Aufstand hat eine „Trauer” über die verpasste Chance auf eine Veränderung des Landes eingesetzt, eine schwermütige Stimmung, der die Mutter, schon lange nicht mehr verliebt, mit einem radikalen Entschluss entkommen wollte.
Privates und Politisches derart direkt miteinander zu verbinden ist ein Risiko. Doch weil sich Zsuzsa Bánk auf Dramaturgie versteht, lässt sie die Distanz zwischen privatem und öffentlichem Leben groß sein: Der politische Schauplatz Budapest taucht nur anfangs und am Rande der Handlung auf. Die Orte des Romans liegen mehrheitlich in der Provinz, in Dörfern in Westungarn und in der Gegend um die Industriestadt Miskolc im Nordosten, dort erfährt man die große Politik nur von fern. Erst recht an jenem See, an dem nicht weniger als 180 Seiten des Romans spielen.
Natürlich ist es der Plattensee. Aber das Wort fällt nicht. Denn der assoziierte Tourismusstützpunkt hat mit der Mischung aus glühender Bukolik und Tristesse, die Zsuzsa Bánk den fünfziger Jahren hier zuschreibt, wenig zu tun. Dass „Der Schwimmer” beinahe ohne bekannte Orts-Namen auskommt, verdankt er allerdings auch seiner besonderen Ich-Erzählperspektive: Eine junge Frau, inzwischen etwa achtzehn Jahre alt, erzählt in diesem Buch, was sie als kleines Mädchen sah. Durch ihre Augen kann der See zu einer sommerlich- archaischen Natur-Landschaft werden, zum Gegenbild jeder Melancholie.
Den See zu verschiedenen Jahreszeiten kennen zu lernen, bedeutet für die Geschwister leben lernen. Dazu braucht es manchmal wenig. Ihr dreißig Jahre junger Vater ist ein guter Schwimmer, dessen reine Körperlichkeit - der Leser erfährt auf hundert Seiten kein gesprochenes Wort von ihm und kein Gefühl - ihn unauffällig zur mythischen Figur erhebt. Er schweigt, er schwimmt, er raucht, er bringt seinen Kindern das Schwimmen bei, sonst nichts.
Ein Brand, ein Fest, ein Ende
Den Rest lernen Sohn Isti und die Ich-Erzählerin durch die Beobachtung der Verwandten, bei denen sie wohnen. Vor allem die hübsche Virág, die am See aufgewachsen ist, Motorrad fährt, und sich alles erlauben darf, weil sie das einzige Kind der Familie ist, wird für die Ich-Erzählerin zum bewunderten Vorbild und zur jungen Ersatzmutter gleichermaßen. Doch geschickt durchkreuzt die Autorin immer wieder Erwartungen des Lesers. Auch Virág kann ihrer Rolle nicht sicher sein. Beinahe jede Nebenfigur wird für ein Kapitel zur Hauptfigur. Eine von ihnen ist Irén, ein dickes, bebrilltes, sonnenscheues Mädchen. Weil Virág sich nicht für den Studenten Mihály, der Ingenieur werden will und für optimistischen Kommunismus steht, entscheiden kann, quält er sie, indem er Irén umwirbt. Virágs Mutter versucht zu schlichten. Es scheint zu gelingen. Doch dann ist alles verloren. Dann brennt das Sommerhaus ab. Danach ist das Leben am See für die Geschwister vorbei. Ein klassischer Show down. Es ist nicht klar, wer den Brand gelegt hat, während viele bei einem Fest waren. Doch Isti und seine Schwester vermuten die nie tanzende Irén als Täterin.
Allerdings hat das Ende des Glücks schon begonnen, als die Großmutter, die die Mutter in Deutschland besucht hat, nach ein paar Jahren an den See kommt, um vom miserablen Ausländer-Schicksal der Mutter zu erzählen, und auch davon, dass diese wohl nicht wieder kommen werde. Von da an erzählen die Geschwister keine der Lügen mehr, mit denen sie sich Hoffnung gemacht haben. Isti, der junge Schwimmer, wird zum Träumer und verrückt.
Auch dieses außergewöhnlich gelungene Buch hat ein paar Schwächen. Eine ist das „deutsche Kapitel”. Die Mutter wird darin zum Opfer eines Landes, das allzu schablonenhaft ein Ort des kalten, regnerischen Grauens ist. Und auch der Schluss des Romans wirkt etwas abrupt. Rasch wird die Ich-Erzählerin erwachsen und eher unmotiviert gerät plötzlich die 1968er Tschechoslowakei ins Bild. Doch dass sich der Rhythmus ändert, dass sich die Ereignisse zusammen ziehen, wird gut begründet: Die Sommer am See waren lang, „viel Zeit” ist seither „nicht vergangen”, denn geschehen ist beinahe nichts.
Solche Einwände schmälern die Qualität dieses Debüts nicht. Hier probiert niemand, hier kann jemand etwas. Und: hier kümmert sich jemand nicht darum, was man gerade in Deutschland so schreiben darf. Wenn man Traditionslinien ausmachen will, so führen sie zu den europäischen Erzählern, die Sprache, Politik und Familiengeschichten verbinden können. Aber Erstlinge soll man nicht mit Namen begraben. Schön jedenfalls, wie der kleine Streit um bauchnabelorientierte Ich-Erzählungen in der jungen deutschsprachigen Literatur hier ausgehebelt wird. Die so „echt” klingende Geschichte von Zsuzsa Bánks „Ich” endet im Herbst 1968. Da war die Autorin, in Frankfurt am Main geboren, gerade drei Jahre alt.
HANS-PETER KUNISCH
ZSUZSA BÁNK: Der Schwimmer. Roman. S. Fischer.Verlag. Frankfurt am Main 2002. 285 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Vom Aufwachsen in Zeiten der Verlassenheit: Zsuzsa Bánks erstaunliches Romandebüt „Der Schwimmer”
Im Sommerhaus, bei Verwandten. „In den heißen Juli- und August-Nächten schlief mein Vater mit nacktem Oberkörper auf einem Liegestuhl auf der Terrasse. Ági und Virág hatten nichts dagegen. Die Mücken zerstachen ihn jedesmal. Sie stachen in seine Lippen, in seine Lider, in seine Wangen, in die Spitzen seiner Finger, und Virág sagte beim Frühstück, Kálman sieht aus wie ein Boxer nach einem verlorenen Kampf.”
Das Erstaunlichste an diesem Buch einer Debütantin ist die Sprache. Sie ist über den ganzen Roman hinweg weder altmodisch noch „zeitgemäß”. Schnörkellos und detailgesättigt schafft sie sich ihren eigenen Raum. Sie verdankt den Sog, den sie entwickelt, einem souveränen Gefühl für Rhythmus und Dramaturgie und vor allem einer außergewöhnlichen sinnlichen Aufmerksamkeit, die sich für Zigarettenreste auf den Schuhen des Vaters genau so interessiert wie für die Bänder um die Fußknöchel der Mutter.
Fotos mit weißem Rand
Die Bänder gehören zu den Sandalen, die die Mutter auf einem Foto trägt, das sie auf einem Feld zeigt. „Niemand trug damals Sandalen, schon gar nicht auf dem Feld. Mein Vater gab dieses Bild nicht aus seinen Händen.” Und mit nur einem Satz macht Zsuzsa Bánk aus dem Betrachten eines Fotos ein eindringliches sprachliches Bild: „Er lag damit auf der Küchenbank, starrte zur Decke und rauchte.” Die Schwarzweißfotos mit dem dicken, weißen Rand werden zu einem Altar der Erinnerung, denn die Mutter ist nicht mehr da. Und genau dies hat die Handlung des ganzen Buchs in Gang gesetzt. Der Roman erzählt die Folgen der „Geschichte meiner Mutter, die das Land ohne ein Wort verlassen hatte”, ohne ein Wort an ihre beiden Kinder und deren Vater.
Dass die Spannung auf das „Warum” des Verlassens anhält, hat damit zu tun, dass Zsuzsa Bánk auf gekonnte Weise mit Suspense umzugehen weiß. Auf über 150 Seiten wird „die Geschichte” der Mutter, ihr Verschwinden, kaum erklärt. Über Radiogrüße wird nur klar, dass sie in Deutschland angekommen ist und dort als Spülerin arbeitet. Ob sie ihren Mann nicht mehr liebt, ob es andere Gründe sind, die sie aus Ungarn weg getrieben haben, diese Fragen werden nicht einmal gestreift. Doch dass die Mutter das Dorf „gehasst” haben soll, reicht als Begründung für das Verlassen zweier kleiner Kinder nicht aus.
Erst langsam wird deutlich, dass die Mutter im Winter 1956 weg gegangen ist, nach dem gescheiterten Ungarn-Aufstand. Viel später heißt es, „Kálmans Frau” sei „fürs Ertragen nicht gemacht” gewesen. Und erst kurz vor Schluss gibt der Roman eine Selbst-Auskunft über seine Grundstimmung, die auch das Handeln der Mutter beeinflusst hat: Nach dem Aufstand hat eine „Trauer” über die verpasste Chance auf eine Veränderung des Landes eingesetzt, eine schwermütige Stimmung, der die Mutter, schon lange nicht mehr verliebt, mit einem radikalen Entschluss entkommen wollte.
Privates und Politisches derart direkt miteinander zu verbinden ist ein Risiko. Doch weil sich Zsuzsa Bánk auf Dramaturgie versteht, lässt sie die Distanz zwischen privatem und öffentlichem Leben groß sein: Der politische Schauplatz Budapest taucht nur anfangs und am Rande der Handlung auf. Die Orte des Romans liegen mehrheitlich in der Provinz, in Dörfern in Westungarn und in der Gegend um die Industriestadt Miskolc im Nordosten, dort erfährt man die große Politik nur von fern. Erst recht an jenem See, an dem nicht weniger als 180 Seiten des Romans spielen.
Natürlich ist es der Plattensee. Aber das Wort fällt nicht. Denn der assoziierte Tourismusstützpunkt hat mit der Mischung aus glühender Bukolik und Tristesse, die Zsuzsa Bánk den fünfziger Jahren hier zuschreibt, wenig zu tun. Dass „Der Schwimmer” beinahe ohne bekannte Orts-Namen auskommt, verdankt er allerdings auch seiner besonderen Ich-Erzählperspektive: Eine junge Frau, inzwischen etwa achtzehn Jahre alt, erzählt in diesem Buch, was sie als kleines Mädchen sah. Durch ihre Augen kann der See zu einer sommerlich- archaischen Natur-Landschaft werden, zum Gegenbild jeder Melancholie.
Den See zu verschiedenen Jahreszeiten kennen zu lernen, bedeutet für die Geschwister leben lernen. Dazu braucht es manchmal wenig. Ihr dreißig Jahre junger Vater ist ein guter Schwimmer, dessen reine Körperlichkeit - der Leser erfährt auf hundert Seiten kein gesprochenes Wort von ihm und kein Gefühl - ihn unauffällig zur mythischen Figur erhebt. Er schweigt, er schwimmt, er raucht, er bringt seinen Kindern das Schwimmen bei, sonst nichts.
Ein Brand, ein Fest, ein Ende
Den Rest lernen Sohn Isti und die Ich-Erzählerin durch die Beobachtung der Verwandten, bei denen sie wohnen. Vor allem die hübsche Virág, die am See aufgewachsen ist, Motorrad fährt, und sich alles erlauben darf, weil sie das einzige Kind der Familie ist, wird für die Ich-Erzählerin zum bewunderten Vorbild und zur jungen Ersatzmutter gleichermaßen. Doch geschickt durchkreuzt die Autorin immer wieder Erwartungen des Lesers. Auch Virág kann ihrer Rolle nicht sicher sein. Beinahe jede Nebenfigur wird für ein Kapitel zur Hauptfigur. Eine von ihnen ist Irén, ein dickes, bebrilltes, sonnenscheues Mädchen. Weil Virág sich nicht für den Studenten Mihály, der Ingenieur werden will und für optimistischen Kommunismus steht, entscheiden kann, quält er sie, indem er Irén umwirbt. Virágs Mutter versucht zu schlichten. Es scheint zu gelingen. Doch dann ist alles verloren. Dann brennt das Sommerhaus ab. Danach ist das Leben am See für die Geschwister vorbei. Ein klassischer Show down. Es ist nicht klar, wer den Brand gelegt hat, während viele bei einem Fest waren. Doch Isti und seine Schwester vermuten die nie tanzende Irén als Täterin.
Allerdings hat das Ende des Glücks schon begonnen, als die Großmutter, die die Mutter in Deutschland besucht hat, nach ein paar Jahren an den See kommt, um vom miserablen Ausländer-Schicksal der Mutter zu erzählen, und auch davon, dass diese wohl nicht wieder kommen werde. Von da an erzählen die Geschwister keine der Lügen mehr, mit denen sie sich Hoffnung gemacht haben. Isti, der junge Schwimmer, wird zum Träumer und verrückt.
Auch dieses außergewöhnlich gelungene Buch hat ein paar Schwächen. Eine ist das „deutsche Kapitel”. Die Mutter wird darin zum Opfer eines Landes, das allzu schablonenhaft ein Ort des kalten, regnerischen Grauens ist. Und auch der Schluss des Romans wirkt etwas abrupt. Rasch wird die Ich-Erzählerin erwachsen und eher unmotiviert gerät plötzlich die 1968er Tschechoslowakei ins Bild. Doch dass sich der Rhythmus ändert, dass sich die Ereignisse zusammen ziehen, wird gut begründet: Die Sommer am See waren lang, „viel Zeit” ist seither „nicht vergangen”, denn geschehen ist beinahe nichts.
Solche Einwände schmälern die Qualität dieses Debüts nicht. Hier probiert niemand, hier kann jemand etwas. Und: hier kümmert sich jemand nicht darum, was man gerade in Deutschland so schreiben darf. Wenn man Traditionslinien ausmachen will, so führen sie zu den europäischen Erzählern, die Sprache, Politik und Familiengeschichten verbinden können. Aber Erstlinge soll man nicht mit Namen begraben. Schön jedenfalls, wie der kleine Streit um bauchnabelorientierte Ich-Erzählungen in der jungen deutschsprachigen Literatur hier ausgehebelt wird. Die so „echt” klingende Geschichte von Zsuzsa Bánks „Ich” endet im Herbst 1968. Da war die Autorin, in Frankfurt am Main geboren, gerade drei Jahre alt.
HANS-PETER KUNISCH
ZSUZSA BÁNK: Der Schwimmer. Roman. S. Fischer.Verlag. Frankfurt am Main 2002. 285 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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