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Der I. Weltkrieg - verursacht von «Schlafwandlern»? Gab es Ähnliches nicht schon einmal? Richtig! Bis Anfang der 1960er Jahre war die These vom «Hineinschlittern» vorherrschend. Insbesondere die selbsternannten Eliten in Berlin und Wien hatten sich damit von jeglicher Verantwortung für den Großen Krieg freigesprochen. Anfang der 1960er Jahre gab es dann die entscheidende Wende. Der Historiker Fritz Fischer belegte, dass «die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges» trug. Dies blieb dann - zu Recht - ein halbes…mehr

Produktbeschreibung
Der I. Weltkrieg - verursacht von «Schlafwandlern»? Gab es Ähnliches nicht schon einmal? Richtig! Bis Anfang der 1960er Jahre war die These vom «Hineinschlittern» vorherrschend. Insbesondere die selbsternannten Eliten in Berlin und Wien hatten sich damit von jeglicher Verantwortung für den Großen Krieg freigesprochen. Anfang der 1960er Jahre gab es dann die entscheidende Wende. Der Historiker Fritz Fischer belegte, dass «die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges» trug. Dies blieb dann - zu Recht - ein halbes Jahrhundert lang die Mehrheitsauffassung in der Geschichtswissenschaft.Bis Christopher Clark die alte These aufwärmte, nunmehr die 1914 in Berlin, Wien, Paris, London und St. Petersburg Verantwortlichen als «Schlafwandler» bezeichnend. Plötzlich öffneten sich dem Seelentröster Clark wie von Zauberhand die Talkshows und es wendete sich die Mehrheitsmeinung der Historikerzunft.Aber gibt es neue Dokumente? Eine neue Interpretation bestehender? Klaus Gietinger und Winfried Wolf belegen, dass dies nicht der Fall ist. Neu jedoch sind die Zeiten: Kriege werden wieder als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln präsentiert. Neue Feindbilder werden gesucht. Es ist kein Zufall, wenn der Seelentröster nicht nur die Deutschen von der Schuld am I. Weltkrieg erlöst, sondern zugleich «die Serben» - Achtung: eng mit Russland verbunden! - als Hauptverantwortliche für den Großen Krieg stigmatisiert.
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Autorenporträt
Klaus Gietinger, geboren 1955, Sozialwissenschaftler, Drehbuchautor und Regisseur. Er war Mitbegründer der Westallgäuer Filmproduktion und ist Produzent bei Igerfilm GmbH, zudem Autor und Regisseur zahlreicher Kinoproduktionen und Fernsehspiele. Er schrieb und inszenierte diverse Tatorte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2017

Mit dem linken Auge sieht man schwächer
Zwei Autoren polemisieren unfair gegen "Die Schlafwandler" von Christopher Clark

Angesichts der Fülle von Büchern, Ausstellungen, Fernsehdebatten und Gedenkveranstaltungen aus Anlass des einhundertsten Jahrestags des Kriegsbeginns 2014 war absehbar, dass deren wissenschaftlicher Ertrag wie auch deren geschichtspolitische Funktion über den unmittelbaren Anlass hinaus Gegenstand kritischer Betrachtung sein würden. Einen Beitrag zur Dekonstruktion dieser Diskurse wollen beide Autoren - der eine ein Filmemacher, der andere ein Publizist und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Partei "Die Linke" - leisten. Da aus ihrer Sicht Christopher Clarks aufsehenerregender Bestseller "Die Schlafwandler" einen programmatischen, ja sogar einen ideologischen Charakter hatte, konzentrieren sie sich darauf, dessen Thesen zu widerlegen und die mit diesen angeblich verknüpften Botschaften zu entlarven. Das ist ein legitimes, wenngleich angesichts der vielen kritischen Rezensionen zu Clarks Buch keineswegs ein originelles Ziel.

Neues haben Klaus Gietinger und Winfried Wolf dann allerdings nicht zu bieten. Ihre Analyse folgt in großen Schritten jenen Darstellungen der 1960er und 1970er Jahre, die in Anlehnung an Fritz Fischer die deutsche Hauptverantwortung für den Kriegsbeginn betont haben. Auffallend ist, dass diese Schilderung programmatisch mit den Kriegsverbrechen der Mittelmächte in Belgien und Serbien beginnt. Darauf folgen dann die üblichen Themen - der Übergang zur Weltpolitik im Jahr 1897, der preußisch-deutsche Militarismus, die Interessen des Großkapitals, die "Juli-Krise" oder auch die deutschen Kriegsziele. Aus dem Rahmen fallen allerdings die Abschnitte über die Haltung der SPD zum Krieg vor 1914 und während der "Juli-Krise". Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, welche (von der neueren Kaiserreich-Forschung herausgearbeiteten) Aspekte demgegenüber geflissentlich ignoriert werden.

Wenn Gietinger und Wolf sich nur darauf beschränkt hätten, Christopher Clarks Argumentation zu kritisieren, dann könnte man das ganze Buch weglegen in der Erkenntnis, dass hier von der Substanz nichts angeführt würde, was nicht schon vor einigen Jahren ausgiebig diskutiert worden wäre. Das kann man als Rezensent aber doch nicht. Denn das, was die beiden Autoren Clark vorwerfen, nämlich Geschichtswissenschaft, Geschichtspolitik und Politik in unzulässiger Weise miteinander zu vermischen, machen sie mit einer ungeheuren Chuzpe selbst. So wie aus ihrer Sicht Clark fälschlich versucht habe, neben der Entente auch Serbien die Schuld an der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zuzuschieben, so waschen Gietinger und Wolf dieses alles unter Rekurs auf den deutschen Kampf gegen Napoleon, der die Legitimität der Anwendung von Gewalt bei der Befreiung des eigenen Vaterlandes belege, rein. Slobodan Milosevic und sein Regime schließen sie dabei gleich mit ein. Auch Russland erscheint als reines Unschuldslamm - damals wie heute. Die russische Mobilmachung vom 31. Juli 1914, über die man ja trefflich streiten kann, wird völlig verharmlost - ebenso wie die Wladimir Putins völkerrechtswidrige Annexion der Krim, die vor dem Hintergrund des "Nato-Vormarsches" in die Ukraine ganz nach russischer Lesart einfach als legitimer "Anschluss" bezeichnet wird. Und um der SPD - deren historische Verantwortung Clark ignoriert habe - noch eins auswischen zu können, preisen die beiden Autoren bei der Schilderung der Massenstreikdebatte beziehungsweise der Haltung der SPD in der "Juli-Krise" einmal mehr Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als die einzigen wahren Sozialisten, und zwar bis heute.

Die Erklärung für den Generalangriff von Gietinger und Wolf gegen Clark ist in ihrer Überzeugung zu sehen, der australische Historiker wolle die Deutschen mit Hilfe eines "historischen Rollbacks" durch "Verkürzungen", "Verdrehungen" und "Verfälschungen" weißwaschen. Mit seiner Rolle als "Seelentröster" sei Clark in die "Abgründe der deutschen Kollektiv-Seele abgetaucht", habe diese "gebauchpinselt" und einen wichtigen Beitrag zur Vereinigung jener Massen geleistet, die sich in einer "salon-faschistischen Partei" organisiert hätten, und jenen, "die immer noch CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke wählen" würden.

In der Perspektive der Autoren ist Clark "ein Historiker seiner Zeit"; diese Zeit sei die "eines neuen Imperialismus (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien), in dem unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung Weltpolitik betrieben wird, wobei die deutschen Regierungen und die seit der Wiedervereinigung erstarken deutschen Eliten (. . .) eine wichtige Rolle spielen". In einer solchen Situation erscheine es mehr als opportun, "die Deutschen von der Last ihrer Geschichte wenigstens teilweise zu befreien. Damit sie mit den Westmächten zusammen, wie Atlas, die Welt und den formellen wie informellen Imperialismus besser tragen und den noch westlich beherrschten Globus gegen alte und neue östliche oder südöstliche Mächte wirtschaftlich und militärisch ,verteidigen' können."

Wer all dies gelesen hat, muss erst einmal tief Luft holen, wenn er denn angesichts der oft hanebüchenen Argumentation und verqueren politischen Schlussfolgerungen bis zum Schluss durchgehalten hat. Keine Frage: Clarks Buch bietet zahlreiche Angriffsflächen. Seine Thesen, Vergleiche und saloppen Formulierungen sind von vielen Historikern bereits bei dessen Erscheinen auch zu Recht kritisiert worden. Diese Kritik hat aber die große Bedeutung von Clarks Buch nie in Frage gestellt: seinen Versuch, das Geschehen vor 1914 aus wirklich europäischer Perspektive zu betrachten, neue Quellen zu erschließen und bisherige Thesen gegen den Strich zu bürsten.

Auch wenn man seine Ergebnisse im Einzelnen nicht teilt, so haben wir alle viel von Christopher Clark gelernt. Das Gegen-Buch von Gietinger und Wolf mit der wirren Polemik unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit - zumal fast alle Historiker, die nicht dezidiert Stellung gegen Clark bezogen haben, undifferenziert in einen Topf geworfen werden - haben weder unser australischer Kollege noch die Geschichtswissenschaft verdient.

MICHAEL EPKENHANS

Klaus Gietinger/Winfried Wolf: Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am I. Weltkrieg erlöst. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2017. 345 S., 19,80 [Euro].

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