Chirbes nimmt seine Leser mit auf literarische Spaziergänge durch 42 Städte in der ganzen Welt: durch die tausendfach belebten Straßen von Peking, über die Märkte von Kanton, zur Pracht des Hamburger Hafens oder dem betörenden Glanz der Hochhäuser in Hongkong. Man erlebt das Fließen der Zeit auf der Plaza Major von Salamanca, taucht in die schwermütige Musik der Mariachis in Guadalajara ein und lässt sich von der Unordnung des Lebens in Mailand anstecken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2006Mach mal Pause
Der hat die Welt im Kopf: Rafael Chirbes als Reiseschriftsteller
Ganz gleich, ob man viel, wenig oder gar nicht reist - die Welt kennt man auf jeden Fall. Noch über den hintersten ihrer Winkel hat man schon einen Film gesehen, einen Fotoband oder Reiseführer durchblättert. Ja, in Sachen Welt darf man sich informiert fühlen. Und daß die gefühlte Information mit der tatsächlichen offenbar identisch ist, diesen schmeichelhaften Eindruck beschert der Reisebericht, jenes bunt-romantische Genre, in dem weitgereiste Menschen den Daheimgebliebenen Auskunft über die Fremde geben. Und die sind in der Regel begeistert: Ja, wie Land und Leute hier dargestellt werden, genauso haben sie es sich vorgestellt!
Wie eng die Vorgaben der Autoren und die Erwartungen der Leser beieinanderliegen, darüber gibt auch Rafael Chirbes' Buch "Der sesshafte Reisende" Auskunft, eine umfangreiche Sammlung von Städteporträts aus allen fünf Kontinenten. Chirbes hat sie gesehen, die großen Städte dieser Welt - aber kennt er sie auch? Kennt er sie zumindest besser als seine Leser, denen er von seinen Eindrücken berichtet?
Sicher ist das nicht. Eher legen die Aufzeichnungen des spanischen Romanciers den Eindruck nahe, daß selbst die größten Schriftsteller ohnmächtig gegenüber jenen Zwängen sind, die die Gattung der Reiseliteratur mit sich bringt. "Man sieht nur, was man weiß", hat ein großer deutscher Reiseverlag sein Programm überschrieben, doch man müßte den Satz erweitern: "Man sieht nur, was man weiß - und für alles andere ist man blind."
Auch Reiseschriftsteller erwerben ihr Wissen nicht zuletzt aus Büchern, und vieles deutet darauf hin, daß Chirbes viel, sehr viel gelesen hat. Denn das meiste, wovon er in seinen Texten handelt, deckt sich mit dem, was andere Reiseführer schon vor ihm sahen und notierten. Wohl kein anderes Genre verfügt über ein derart festes Repertoire an Redensarten und Darstellungsweisen wie das der Reiseliteratur. Keine Region und keine Stadt, zu der sich nicht bereits ein festes Vokabular herausgebildet hätte, allzeit bereit, die Eindrücke einer Reise mit dem passenden Beschreibungsarsenal zu versehen.
Auch Chirbes nutzt diesen Kanon. In Hongkong etwa atmet er "den schweren Duft von Mangos, Papayas, Bananen und Lychees"; in Bangkok den Geruch von "welken Blumen, Erdnüssen und Soja"; in Marrakesch den "Duft der Orangenblüten, der sich mit dem Geruch aus den Handwerksbetrieben mischt". Und in Straßburg schließlich durchweht "ein Wirrwarr von Backofendüften" die Straßen. Die Liste ließe sich verlängern. Doch mehr als über die feine Nase des Autors offenbart sie über dessen lange Schmökerstunden, Stunden, die ihn mit dem Schatz der gängigen Wahrnehmungen und Empfindungen offenbar gründlich vertraut gemacht haben.
Wo immer er ist, nimmt Chirbes den Ortsgeist in seinen klassischsten Formen wahr: In Guadalajara lauscht er den süßen Weisen der Guarachis, Boleros und Rancheras; in Saint Germain beobachtet er einen Lastkahn auf der Seine; in Hamburg bestaunt er das Gewirr von Werften, Lagerhäusern, Kränen und Containern; und in Marrakesch beeindrucken ihn die Schlangenbeschwörer, Gnawa-Tänzer und Geschichtenerzähler, dazu Feuerschlucker, Bettler und Straßenverkäufer.
Um der Allmacht der allzu gängigen Eindrücke Herr zu werden, sucht Chirbes Zuflucht bei der Ironie; doch auch sie kann sich gegen die Übermacht der Klischees kaum behaupten, so daß Chirbes' Aufzeichnungen jenen Verdacht erhärten, der sich bei der Lektüre anderer Reiseschilderungen ergibt: daß nicht die Orte die Reiseführer, sondern die Reiseführer die Orte gebären. All die Würste, Entenlebern und Käsesorten, die dem Autor etwa in Straßburg entgegenlächeln - vielleicht liegen sie nur darum in den Auslagen, weil die Reiseführer es seit Jahrzehnten so berichten? Und die Riten des Kaffeetrinkens, von denen Chirbes gleich zu Anfang seines Aufsatzes über Wien schreibt: Es ist durchaus denkbar, daß die strenge Zeremonie sich nur darum noch hält, weil es die Touristen nach der Lektüre der einschlägigen Literatur so erwarten.
Denn kaum ein Leser dürfte erbaut über den Hinweis sein, daß die meisten Wiener ihren Kaffee an denselben Buden zu sich nehmen, an denen auch er ihn sich zu Hause in den Kopf schüttet. Und mit Recht darf er von einem Reiseschriftsteller eisernes Schweigen über den Umstand erwarten, daß die meisten Straßburger ihren Käse aus ebenjenem Gemenge von Styropor und Plastik packen, durch das in aller Regel auch er sich vor Verzehr der gelben Scheiben kämpft. Nein, von solch prosaischer Wirklichkeit wollen die Leser von Reiseliteratur in der Regel wenig wissen. Darum hat Chirbes allen Grund, sich anstelle von realen Stadtbewohnern mit den Reisenden früherer Zeiten zu umgeben, Namen, in deren Glanz die Städte sich noch heute sonnen: Für Lübeck steht die Familie Mann bereit, Zürich wartet mit James Joyce und Tristan Tzara auf, Neapel mit Goethe und Winckelmann, Lissabon mit Amália Rodrigues und Fernando Pessoa. Auch diese Liste ließe sich verlängern.
Aus solchen Motiven lassen sich stimmungsvolle Bilder zusammensetzen. Und da Chirbes die Kunst der Komposition beherrscht, sind seine Skizzen wunderbar dazu geeignet, den Leser vorab auf jene Empfindungen einzustimmen, die er dann, vor Ort, realiter durchlaufen wird, als schwärmerische Euphorie, wie sie nur das Reisen gewährt. Generationen von Touristen haben sich diesen Empfindungen bereits hingegeben - nichts spricht also dafür, sie zu variieren oder gar zu erweitern.
Auch Chirbes meidet Experimente. Fremd sind ihm Erzähltechniken eines Claudio Magris oder Cees Nooteboom, die das übliche exotische Ausgangsmaterial zwar ebenfalls einsetzen, es dann aber zu stilistischen und gedanklichen Experimenten nutzen, die die üblichen Formen des Reiseberichts weit hinter sich lassen und darum auch die klassischen Déjà-lu-Effekte umgehen. In diese Richtung dürfte aber die Zukunft des Reiseberichtes weisen. Denn wer die üblichen Topoi vermeiden will, ist darauf angewiesen, die Welt nicht einfach nur abzubilden, sondern stilistisch zu überwinden, sie aufzulösen in einem wunderbaren "Livre sur Rien", in dem statt des exotischen Materials vor Ort der Gedankenreichtum des Autors funkelt.
Daß man über die Welt aber auch im Rahmen der alten Muster noch weiterhin durchaus angenehm schreiben kann, zeigt Chirbes in seinem Buch auf zuletzt dann doch sehr eindrucksvolle Weise. Die klassischen Topoi wirken eben trotzdem, und sie machen auch dieses Buch zu einem romantischen, bunten und sinnlichen Werk. Die Texte wecken Fernweh und Reiselust, Sehnsucht nach Orten, die ihren Platz vielleicht nirgends anders haben als in Chirbes' sanfter Weltsicht.
Ebendas aber wird den Leser, der auch mit dem Romanwerk des Autors vertraut ist, einigermaßen erstaunen. Denn die Städteporträts wirken bisweilen so, als wollte der Reiseschriftsteller Chirbes sich endlich einmal von den Strapazen der genauen, aber oft genug recht unerfreulichen und deprimierenden Beobachtungen erholen, durch die er als Romancier von sich reden macht. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn auch große Kunst muß mal Pause machen. Insofern: Schönen Urlaub!
KERSTEN KNIPP
Rafael Chirbes: "Der sesshafte Reisende". Städtebilder. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Willi Zurbrüggen. Verlag Antje Kunstmann, München 2006. 430 S., geb., 24,90 [Euro].
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Der hat die Welt im Kopf: Rafael Chirbes als Reiseschriftsteller
Ganz gleich, ob man viel, wenig oder gar nicht reist - die Welt kennt man auf jeden Fall. Noch über den hintersten ihrer Winkel hat man schon einen Film gesehen, einen Fotoband oder Reiseführer durchblättert. Ja, in Sachen Welt darf man sich informiert fühlen. Und daß die gefühlte Information mit der tatsächlichen offenbar identisch ist, diesen schmeichelhaften Eindruck beschert der Reisebericht, jenes bunt-romantische Genre, in dem weitgereiste Menschen den Daheimgebliebenen Auskunft über die Fremde geben. Und die sind in der Regel begeistert: Ja, wie Land und Leute hier dargestellt werden, genauso haben sie es sich vorgestellt!
Wie eng die Vorgaben der Autoren und die Erwartungen der Leser beieinanderliegen, darüber gibt auch Rafael Chirbes' Buch "Der sesshafte Reisende" Auskunft, eine umfangreiche Sammlung von Städteporträts aus allen fünf Kontinenten. Chirbes hat sie gesehen, die großen Städte dieser Welt - aber kennt er sie auch? Kennt er sie zumindest besser als seine Leser, denen er von seinen Eindrücken berichtet?
Sicher ist das nicht. Eher legen die Aufzeichnungen des spanischen Romanciers den Eindruck nahe, daß selbst die größten Schriftsteller ohnmächtig gegenüber jenen Zwängen sind, die die Gattung der Reiseliteratur mit sich bringt. "Man sieht nur, was man weiß", hat ein großer deutscher Reiseverlag sein Programm überschrieben, doch man müßte den Satz erweitern: "Man sieht nur, was man weiß - und für alles andere ist man blind."
Auch Reiseschriftsteller erwerben ihr Wissen nicht zuletzt aus Büchern, und vieles deutet darauf hin, daß Chirbes viel, sehr viel gelesen hat. Denn das meiste, wovon er in seinen Texten handelt, deckt sich mit dem, was andere Reiseführer schon vor ihm sahen und notierten. Wohl kein anderes Genre verfügt über ein derart festes Repertoire an Redensarten und Darstellungsweisen wie das der Reiseliteratur. Keine Region und keine Stadt, zu der sich nicht bereits ein festes Vokabular herausgebildet hätte, allzeit bereit, die Eindrücke einer Reise mit dem passenden Beschreibungsarsenal zu versehen.
Auch Chirbes nutzt diesen Kanon. In Hongkong etwa atmet er "den schweren Duft von Mangos, Papayas, Bananen und Lychees"; in Bangkok den Geruch von "welken Blumen, Erdnüssen und Soja"; in Marrakesch den "Duft der Orangenblüten, der sich mit dem Geruch aus den Handwerksbetrieben mischt". Und in Straßburg schließlich durchweht "ein Wirrwarr von Backofendüften" die Straßen. Die Liste ließe sich verlängern. Doch mehr als über die feine Nase des Autors offenbart sie über dessen lange Schmökerstunden, Stunden, die ihn mit dem Schatz der gängigen Wahrnehmungen und Empfindungen offenbar gründlich vertraut gemacht haben.
Wo immer er ist, nimmt Chirbes den Ortsgeist in seinen klassischsten Formen wahr: In Guadalajara lauscht er den süßen Weisen der Guarachis, Boleros und Rancheras; in Saint Germain beobachtet er einen Lastkahn auf der Seine; in Hamburg bestaunt er das Gewirr von Werften, Lagerhäusern, Kränen und Containern; und in Marrakesch beeindrucken ihn die Schlangenbeschwörer, Gnawa-Tänzer und Geschichtenerzähler, dazu Feuerschlucker, Bettler und Straßenverkäufer.
Um der Allmacht der allzu gängigen Eindrücke Herr zu werden, sucht Chirbes Zuflucht bei der Ironie; doch auch sie kann sich gegen die Übermacht der Klischees kaum behaupten, so daß Chirbes' Aufzeichnungen jenen Verdacht erhärten, der sich bei der Lektüre anderer Reiseschilderungen ergibt: daß nicht die Orte die Reiseführer, sondern die Reiseführer die Orte gebären. All die Würste, Entenlebern und Käsesorten, die dem Autor etwa in Straßburg entgegenlächeln - vielleicht liegen sie nur darum in den Auslagen, weil die Reiseführer es seit Jahrzehnten so berichten? Und die Riten des Kaffeetrinkens, von denen Chirbes gleich zu Anfang seines Aufsatzes über Wien schreibt: Es ist durchaus denkbar, daß die strenge Zeremonie sich nur darum noch hält, weil es die Touristen nach der Lektüre der einschlägigen Literatur so erwarten.
Denn kaum ein Leser dürfte erbaut über den Hinweis sein, daß die meisten Wiener ihren Kaffee an denselben Buden zu sich nehmen, an denen auch er ihn sich zu Hause in den Kopf schüttet. Und mit Recht darf er von einem Reiseschriftsteller eisernes Schweigen über den Umstand erwarten, daß die meisten Straßburger ihren Käse aus ebenjenem Gemenge von Styropor und Plastik packen, durch das in aller Regel auch er sich vor Verzehr der gelben Scheiben kämpft. Nein, von solch prosaischer Wirklichkeit wollen die Leser von Reiseliteratur in der Regel wenig wissen. Darum hat Chirbes allen Grund, sich anstelle von realen Stadtbewohnern mit den Reisenden früherer Zeiten zu umgeben, Namen, in deren Glanz die Städte sich noch heute sonnen: Für Lübeck steht die Familie Mann bereit, Zürich wartet mit James Joyce und Tristan Tzara auf, Neapel mit Goethe und Winckelmann, Lissabon mit Amália Rodrigues und Fernando Pessoa. Auch diese Liste ließe sich verlängern.
Aus solchen Motiven lassen sich stimmungsvolle Bilder zusammensetzen. Und da Chirbes die Kunst der Komposition beherrscht, sind seine Skizzen wunderbar dazu geeignet, den Leser vorab auf jene Empfindungen einzustimmen, die er dann, vor Ort, realiter durchlaufen wird, als schwärmerische Euphorie, wie sie nur das Reisen gewährt. Generationen von Touristen haben sich diesen Empfindungen bereits hingegeben - nichts spricht also dafür, sie zu variieren oder gar zu erweitern.
Auch Chirbes meidet Experimente. Fremd sind ihm Erzähltechniken eines Claudio Magris oder Cees Nooteboom, die das übliche exotische Ausgangsmaterial zwar ebenfalls einsetzen, es dann aber zu stilistischen und gedanklichen Experimenten nutzen, die die üblichen Formen des Reiseberichts weit hinter sich lassen und darum auch die klassischen Déjà-lu-Effekte umgehen. In diese Richtung dürfte aber die Zukunft des Reiseberichtes weisen. Denn wer die üblichen Topoi vermeiden will, ist darauf angewiesen, die Welt nicht einfach nur abzubilden, sondern stilistisch zu überwinden, sie aufzulösen in einem wunderbaren "Livre sur Rien", in dem statt des exotischen Materials vor Ort der Gedankenreichtum des Autors funkelt.
Daß man über die Welt aber auch im Rahmen der alten Muster noch weiterhin durchaus angenehm schreiben kann, zeigt Chirbes in seinem Buch auf zuletzt dann doch sehr eindrucksvolle Weise. Die klassischen Topoi wirken eben trotzdem, und sie machen auch dieses Buch zu einem romantischen, bunten und sinnlichen Werk. Die Texte wecken Fernweh und Reiselust, Sehnsucht nach Orten, die ihren Platz vielleicht nirgends anders haben als in Chirbes' sanfter Weltsicht.
Ebendas aber wird den Leser, der auch mit dem Romanwerk des Autors vertraut ist, einigermaßen erstaunen. Denn die Städteporträts wirken bisweilen so, als wollte der Reiseschriftsteller Chirbes sich endlich einmal von den Strapazen der genauen, aber oft genug recht unerfreulichen und deprimierenden Beobachtungen erholen, durch die er als Romancier von sich reden macht. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn auch große Kunst muß mal Pause machen. Insofern: Schönen Urlaub!
KERSTEN KNIPP
Rafael Chirbes: "Der sesshafte Reisende". Städtebilder. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Willi Zurbrüggen. Verlag Antje Kunstmann, München 2006. 430 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Sinnliche und philosophische Eindrücke von den in dieser Sammlung beschriebenen Städten gibt Rezensent Klaus Meyer-Minnemann zu Protokoll. Es handelt sich seinen Informationen zufolge um Städteporträts, die zuerst in einer spanischen Gourmetzeitschrift publiziert und für die Buchausgabe noch einmal überarbeitet wurden. Als Qualität des Buches beschreibt der Rezensent die Tatsache, das "Museumsstädte", also Orte, die zu "Ansichtskarten geronnen" sind, fast gänzlich fehlen. Stattdessen werde einem Ort wie Ibiza und seinen "vielen kulturellen Ablagerungen" von den Phöniziern bis zu den Hippies ein Text gewidmet. Es ist vor allem der individuelle und unkonventionelle Zugang des Autors zu den beschriebenen Städten, der für den Rezensenten den Reiz des Buches ausmacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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